A: Haben Sie das gelesen? Eine Neunundneunzigjährige wurde jetzt von einem Gericht zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt!
B: Lassen Sie mich raten: Frau am Steuer? Wer in so einem hohen Alter sich noch hinters Lenkrad setzt, ist doch nicht mehr zurechnungsfähig. Man sollte amtlicherseits allen Führerscheinbesitzern den Führerschein mit fünfundsiebzig wegnehmen. Was sage ich: Mit siebzig muß Schluß sein. Diese Tatterer glauben, sie könnten ewig mit ihrem Auto herumkurven, und das vermutlich auch nur, weil sie ja jetzt die Zeit haben, da sie aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind.
A: Nein, nein, da denken Sie in die falsche Richtung, obgleich ich Ihnen von der Sache her völlig zustimme. Hier handelt es sich um ein ganz anderes Gerichtsverfahren. Die neunundneunzigjährige Dame war früher Sekretärin und Stenotypistin und ist wegen dieser Tätigkeit jetzt zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden.
B: Aha! Die Verbrechen der Vergangenheit haben sie eingeholt, reichlich spät, wie ich finde. Was hat man ihr denn vorgeworfen? Unterschlagung, nehme ich an, die Dame konnte mit ihrem Sekretärinnengehalt nicht auskommen und wollte gern auf großem Fuß leben.
A: Nicht so ganz. Ich muß wohl hinzufügen, daß sie ihre Tätigkeit an einem ganz besonderen Arbeitsplatz ausgeführt hat. Sie war Sekretärin des Lagerkommandanten im KZ Stutthof.
B: Was? Was sagen Sie da? KZ! Du liebe Güte, das ist natürlich eine ganz andere Vergangenheit, die sie da eingeholt hat. Aber was hat sie denn damals verbrochen außer der üblichen Erledigung der Korrespondenz?
A: Das Gericht hat in seinem Urteil dazu ausgeführt, sie habe »durch ihre Einordnung in den Lagerbetrieb als zuverlässige und gehorsame Untergebene« gehandelt und damit dem Lagerkommandanten und seinen Adjutanten »physisch und psychisch bei den Massenmorden geholfen«.
B: Sind denn alle anderen Angehörigen dieses Konzentrationslagers auch vor Gericht gestellt worden, in früheren Jahren?
A: Darüber weiß ich nichts, aber man darf annehmen: wohl eher nicht. Die bundesdeutsche Justiz hat sich im übrigen viel Zeit gelassen, als es um die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen nach 1945 ging.
B: Die alte Leier. Das hatte man doch schon nach 1918, als die Verbrechen des Offizierskorps auch nicht verfolgt wurden und man die hohen Militärs, aber auch die Untergebenen weiterbeschäftigte, so als sei das Kaiserreich niemals zusammengebrochen gewesen.
A: In der Tat. Der Bundesgerichtshof, der ein Urteil des Landgerichts Itzehoe jetzt bestätigt hat, sagt zu der Verurteilung der Sekretärin, sie sei durch ihre Tätigkeit »als einzige Stenotypistin für den durchweg bürokratisch organisierten Lagerbetrieb von zentraler Bedeutung« gewesen. Sie sei zwar keine »Haupttäterin«, aber dennoch treffe sie Schuld.
B: Moment mal! Nicht, daß ich diese Dame jetzt verteidigen will, ganz und gar nicht, aber hier stimmt doch etwas nicht. Eine Tippse, wenn ich mir mal eben diesen saloppen Ausdruck erlauben darf, ist doch ein ausführendes Organ, die mechanisch das ausführen muß, was man ihr sagt. Wenn ich meiner Sekretärin ein paar Geschäftsbriefe diktiere, dann schreibt sie fleißig mit, aber sie unterläßt es wohlweislich, dem Diktat auch nur ein Wort hinzuzufügen. Sie soll protokollieren, was ich ihr sage, das ist alles, und dafür wird sie auch bezahlt.
A: Der Bundesgerichtshof wie auch dass Landgericht meinen aber, diese Tätigkeit sei »Beihilfe zum Mord«.
B: Ja, natürlich ist das formal gesehen Beihilfe, aber als Sekretärin stand sie damals doch nur vor der Entscheidung: Will ich meinen Beruf weiter ausüben oder kündige ich und bleibe dann vielleicht lange arbeitslos? Sie hätte sicher, bevor sie sich in diesem Lager beworben hat, überlegen können, ob das der richtige, moralisch vertretbare Arbeitsplatz für sie ist. Doch der Arbeitsmarkt ist kein Schauplatz für Moral, es geht dabei nur darum, ob man eine Arbeit angeboten bekommt oder nicht, und wenn das Angebot vielleicht schmal ist, man aber auf eine bezahlte Stelle zum Überleben angewiesen ist, zögert man nicht lange und greift zu.
A: Aus heutiger Sicher hätte sie die Stelle als Sekretärin eben nicht annehmen dürfen, aber sie konnte zugleich auch nicht vorhersehen, wie sich das politische Regime, dem sie diente, entwickeln würde.
B: Mich beschäftigt dabei eigentlich mehr die Frage, wieso man so lange gewartet hat, ein Verfahren gegen diese Sekretärin in Gang zu setzen. Sie ist ja auch kein Einzelfall. Mir fallen eine ganze Reihe von Angeklagten ein, die alt und gebrechlich vor Gericht erscheinen mußten, manchmal im Rollstuhl, und die gleich nach 1945, als sie noch jung und leistungsfähig waren, hätten angeklagt werden müssen. 1945 war diese Sekretärin 25 Jahre alt. Heute ist sie 99 Jahre alt und wird wegen Verbrechen, die Jahrzehnte zurückliegen, angeklagt.
A: Hier kommt die Pointe dieser Geschichte: Die zweijährige Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
B: Was für ein Triumph der Justiz und der Gerechtigkeit! Dann wollen wir hoffen, daß sich die neunundneunzigjährige Sekretärin in ihrem weiteren Leben keiner anderen Straftaten schuldig macht, denn sonst müßte sie am Ende doch noch ins Gefängnis.