Edition und Herausgeber

Warum Theodor Lessing Edition?

Edierte Schriften geben den authentischen Text wieder, ein erläuternder Kommentar erschließt den zeitgeschichtlichen Kontext, bietet Erklärungen für Begriffe und stellt mit Querverweisen  einen werkimmanenten Zusammenhang her.

Erstaunlicherweise gibt es erst seit 1987 die Fachzeitschrift ›editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft‹. Darin werden neueste Entwicklungen der Editionstheorie und Editionspraxis erörtert.

Eine Edition, die einen Text sichert und kommentiert, unterscheidet sich von dem so genannten Editieren, bei der unqualifizierte Arbeitskräfte für wenig Lohn von Verlagen angestellt werden, um Textausgaben auf ›politische Korrektheit‹ zu trimmen und so genannte ›anstößige Wörter‹ gegen vermeintlich ›korrekte Wörter‹ austauschen. Diese Art der Bearbeitung ist Zensur und von nicht langer Dauer, da die so genannte ›Anstößigkeit‹ mit dem Zeitgeist, der sehr flüchtig ist, fortdauernd wechselt. Wissenschaftliche Edition stellt sich in den Dienst an der buchstabengetreuen Reproduktion der vorliegenden entweder handschriftlichen oder gedruckten Vorlage.

Seitdem ich ab 1978 mit der Erforschung von Theodor Lessings Leben und Werk begonnen habe, sind eine wissenschaftliche Biographie und mehrere edierte Bände erschienen:

  • Rainer Marwedel: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Luchterhand: Darmstadt/Neuwied 1987
  • Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Marwedel, Luchterhand: Darmstadt/Neuwied 1986
  • Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs und andere Gerichtsreportagen. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Marwedel, Luchterhand: Frankfurt/M. 1989
  • Nachtkritiken. Kleine Schriften 1906–1907. Schriften in Einzelausgaben. Herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Wallstein: Göttingen 2006
    https://www.wallstein-verlag.de/9783892446149-nachtkritiken.html
  • Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908–1909. Schriften in Einzelausgaben. Herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Wallstein: Göttingen 2021, 2 Bde.
    https://www.wallstein-verlag.de/9783835336117-kultur-und-nerven.html
    Der zweite Band von ›Kultur und Nerven‹ (S. 994–1018) enthält ein Begriffs- und Sachregister, mit dem man nicht nur den Text in Band 1 systematisch erforschen kann, es  stellt mit den umfassenden Querverweisen auf das Gesamtwerk Theodor Lessing auch eine Einführung in sein auf Begriffen und Kategorien basierendes philosophisches System dar.

Die Edition wird fortgesetzt mit einem Band, der Texte aus den 1920er Jahren enthält und den Sammeltitel ›Chaos und Irrsinn: Kleine Schriften 1921–1923‹ trägt. Er wird im Laufe des Jahres 2024 im Wallstein Verlag veröffentlich werden.

 

Von 2011 bis 2012 haben die beiden Studentinnen Maren Ihnen und Daniela Meyer zu Bargholz mir bei der Edition der beiden Bände ›Kultur und Nerven‹ geholfen. Hier berichtet Maren Ihnen über ihre gemeinsamen Editionserfahrungen:

Buchstabengetreue Transkription

Am Anfang der Arbeit an einer Werkausgabe steht immer die buchstabengetreue Transkription der Originaltexte. Uns blieb daher nur ein kontrollierender Vergleich der Texte. In den meisten Fällen konnte direkt mit der kritischen Textarbeit im Rahmen der Erstellung des Kommentars begonnen werden. Einzig die Übertragung von griechischen Buchstaben, Einsprengsel einer Gelehrtensprache zwischen der lateinischen Standardschrift, deren Verwendung um 1900 nichts Ungewöhnliches war, bereitete Schwierigkeiten bei der Übertragung zwischen verschiedenen Textprogrammen und bildete daher die häufigste Fehlerquelle.

Kritische Textarbeit

Zunächst wurden im dreiköpfigen Edier-Team die Texte noch einmal Wort für Wort durchgegangen. Beim gemeinsamen Lesen konnten dann erste Anmerkungen getroffen werden, bevor in einer zweiten Runde bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch Rainer Marwedel definierte Lemmata besprochen oder neue Textpassagen durch die Mitarbeiterinnen Daniela Meyer zu Bargholz und Maren Ihnen markiert werden, die nach Auffassung des Edier-Teams einer kritischen Anmerkung bedürfen. So entstanden umfangreiche Listen von Begriffen, Zitaten und Halbsätzen, deren Kommentierung wir unter uns nach Neigung und bereits vorhandenem Fachwissen aufteilten. Ein auf diese Weise festgelegtes Lemma, kann aus unterschiedlichen Gründen in den Kommentar aufgenommen werden. In Bezug hierauf lassen sich fünf Kategorien definieren:

1. Begriffserklärungen solcher Lemma, die einer nicht bei jedem Leser voraussetzbaren Fach-, oder Modesprache zugehörig sind;

2. Einordnung in den Kontext anderer Publikationen, die Grundlage des Gedankenfundaments von Lessing gebildet haben könnten;

3. Anreicherung der im Text gegebenen Informationen mit den Ergebnissen moderner Forschung und anderer textbezogener Hinweise

4. Quellenangabe der durch Lessing verwendeten oder ihm vermutlich bekannten, nicht kenntlich gemachten Literatur,

5. Überprüfung von durch Lessing angegebenen Quellen, die durch Lessing häufig nur unvollständig oder fehlerhaft angegeben werden

Recherche

Nach der Verteilung der zu recherchierenden Inhalte, arbeiten die Mitarbeiter in Einzelarbeit oder gelegentlich im Team daran, die entsprechenden Quellen zu ermitteln. Ein großer Teil der Recherchearbeit beginnt dabei im Internet. Viele Texte sind inzwischen digital dort verfügbar und bieten erste Anhaltspunkte für einen Nachweis. Aufgrund des Anspruches des Edier-Teams für die Belege, vor allem solche Quellen heranzuführen, die unter Umständen auch von Theodor Lessing genutzt worden sein können, ersetzt die Onlinerecherche nur in den Fällen den Gang in die Bibliothek, wenn ein betreffendes Buch tatsächlich abphotographiert vorliegt. Oft muß das entsprechende Werk per Fernleihe bestellt werden. Besonders Zeitungen sind häufig nur auf Mikrofilm erhältlich und manchmal löchrig oder verschmiert. Aber besonders dann, wenn eine Recherche schwierig ist, man sich verbeißt in die Ermittlung und nach Stunden dann doch Erfolg hat, schlägt das Herz des Suchenden höher. Kleine Perlen des Wissens, die aneinandergereiht einen ganzen Kosmos eröffnen, werden so gewonnen. Entgegen aller Unkenrufe, Editionsarbeit würde überdurchschnittlich oft zu suizidalen Verstimmungen führen, kann gerade die Recherche sehr amüsant sein. Oft waren es die Mißgriffe, vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung von Suchmaschinen, die zu viel Erheiterung führten. Aber auch die vielen hilfsbereiten Menschen, manchmal selbst Forschende, manchmal der Museumsdirektor, eine Studentin oder ein Nachfahre Lessings, die diese Edition unterstützt haben, halfen den Spaß am Recherchieren nicht zu verlieren.

Alles nur Text?

Natürlich sitzen wir viel am Schreibtisch vor unseren Computern und Büchern. Auch Archiv- und Bibliotheksluft muß mögen, wer ein solches Projekt anstoßen möchte. Neben der vielen Recherchearbeit haben wir aber auch viele lustige Stunden damit verbracht, lebensgroße Theodor-Lessing-Pappaufsteller zu basteln und unser mobiles Denkmal an historischen Orten in Hannover zu fotografieren. Im Rahmen dieser Spaziergänge erlebte wir Skurriles, Schönes, Trauriges und vor allem viel Lustiges in Hannover und entdeckten, dass vor allem die älteren Hannoveraner ›ihren Lessing‹ noch lange nicht vergessen haben, aber auch die jüngeren Semester viel Interesse an Lokalgeschichte haben und mit viel Neugier gerne etwas Neues erfahren. Am Ende werden die Fotos, die dabei entstanden sind, auf einer Website zu bestaunen sein. Maren Ihnen

 

Edition, praktisch vorgeführt

Die Frage, was Edition bedeutet, kann man vielleicht am besten durch dieses praktische Beispiel beantworten. Natürlich kann man einen Text immer auch ohne den Kommentar lesen und verstehen, aber im Detail zeigt sich dann doch, wieviel mehr man von einem älteren Text versteht und begreift, wenn man den dazugehörigen Kommentar vorliegen hat. Hier ein Beispiel aus den beiden Bänden ›Kultur und Nerven‹. Kleine Schriften 1908–1909, herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Göttingen: Wallstein Verlag, 2021, 2 Bde., hier entnommen aus dem Band 1, 328 (Text) und aus dem Band 2, 334–337.

Der Theaterkuß

1
Der philosophierende Kater Hiddigeigei, der sich die Frage vorlegt: »Warum küssen sich die Menschen?« kommt bekanntlich zu dem Resultat, daß es beim Küssen sich wohl um eine mildere Abart von gegenseitigem Fressen handeln dürfte. Und das ist in der Tat ein philosophischer Standpunkt. Trotz der entgegenstehenden Anschauung Darwins scheint mir Hiddigeigeis Idee, daß der Kuß das letzte Überbleibsel des Triebes zum Einanderfressen ist, biologisch in der Tat haltbar zu sein. Unsre Sprache kennt die schöne Wendung: »Sie wollen sich vor Liebe fressen.« Darin liegt viel Tiefe! Es liegt darin ein Hinweis auf den naturhistorischen Ursprung der sogenannten Liebe, auf die Genealogie ihres geläufigsten Symbols, des Kusses … Es ist der unverwüstlichste, tiefste Impuls des neugeborenen Menschenkindes, jeden Gegenstand, dessen es habhaft werden kann, an die Lippen zu führen. Das ist ein Impuls des Sichbemächtigen- oder Sicheinverleibenwollens. Die Lippen sind die Pförtner des Organismus. Sie sind die Lager der zartesten, reizbarsten Nervenkomplexe; das Tor zum Inneren, zum Innenleben des Menschen. Dieser Pförtner aber hat die Gegenstände der Außennatur auf Freßbarkeit oder Nichtfreßbarkeit zu prüfen. Wir wissen nach gerade, daß das ›Liebesleben‹ in der Natur, das geschlechtliche Sichverschlingen in Tier- und Pflanzenwelt in der Regel damit endet, daß der eine Teil vom andern gefressen wird; meistens das Männchen vom Weibchen. Noch bei Homer erhält die Frau das merkwürdige Beiwort: die männerfressende. In zahllosen Fällen des Naturlebens ist Hunger und Gattungstrieb unentwirrbar verwoben. Der Wunsch, sich des andern Lebens zu bemächtigen und es in sich einzuverleiben, tritt auf der primitivsten Daseinsstufe zugleich als Hunger und als Geschlechtsleben auf. Die wissenschaftliche Genealogie der Liebe müßte auf dieses primitivste Erlebnis des Hungerns zurückgreifen. Sie würde die tiefe Wahrheit verstehen lehren, die das christliche Mysterium des heiligen Abendmahls verhüllt. Die Liebe zum Gottes- und Menschensohn, die tiefste Erhabenheit, die es gibt, ist in ein momentanes »Verspeisen« Gottes gekleidet. Die letzte Hingabe und Hinnahme, die äußerste Selbsterweiterung und Entselbstung, die die Seele erleben kann, konzentriert sich hier wieder in den primitiven Akt des Essens und Trinkens …

[…]

Kommentar

13. Der Theaterkuß

D1: Die Schaubühne, 4. Jg., Bd. 2, Nr. 50 (10.12.1908), 571f.; 4. Jg., Bd. 2, Nr. 51 (17.12.1908), 597–599; 4. Jg., Bd. 2, Nr. 52 (24.12.1908), 623–625
D2: Der fröhliche Eselsquell. Gedanken über Theater, Schauspieler, Drama, Berlin 1912, 89–108 (Mit stilistischen Änderungen und inhaltlichen Erweiterungen)

»Die Plauderei über den Theaterkuß wurde der Schaubühne vom 10., 17. und 27. De- zember 1908 entnommen. Hierzu Liebe und Kunst, Gesellschaft. Herausgegeben von M. G. Conrad und Karl Bleibtreu 1897, auch Darwin, Hannov. Courir [sic] 10. und 17. Februar 1909.«

Der philosophierende Kater Hiddigeigei … Abart von gegenseitigem Fressen ] »Manch ein schwer Problema hab’ ich / Prüfend in dem Katerherzen / Schon erwogen und ergründet, / Aber eins bleibt ungelöst mir, / Ungelöst und unbegriffen: / Warum küssen sich die Menschen? / ’s ist nicht Haß, sie beißen sich nicht, / Hunger nicht, sie fressen sich nicht, / ’s kann auch kein zweckloser blinder / Unverstand sein, denn sie sind sonst / Klug und selbstbewußt im Handeln; / Warum also, frag’ um- sonst ich, / Warum küssen sich die Menschen? / Warum meistens nur die jüngern? / Warum diese meist im Frühling? / Über diese Punkte werd’ ich, / Morgen auf des Daches Giebel / Etwas näher meditieren.« J. V. v. Scheffel: Der Trompeter von Säkkingen. Ein Sang vom Ober- hein, 1855, 455.

entgegenstehenden Anschauung Darwins ] »We Europeans are so accustomed to kissing as a mark of affection, that it might be thought to be innate in mankind; but this is not the case. […] But it is so far innate or natural that it apparently depends on pleasure from close contact with a beloved person; and it is replaced in various parts of the world, by the rubbing of noses […], by the rubbing or patting of the arms, breasts, or stomachs, or by one man striking his own face with the hands or feet of another. Perhaps the practice of blowing, as a mark of affection, on various parts of the body may depend on the same principle.« Ch. Darwin: The expression of the emotions in man and animals, 1873, 216; Ch. Darwin: From So Simple a Beginning. Darwin’s Four Great Books, (ed.) E. O. Wilson, 2006, 1386.

Die Lippen sind … die Lager der zartesten, reizbarsten Nervenkomplexe ] »(Nach Kleinpauls plausibler Deutung soll das Wort für Küssen in allen Sprachen ursprünglich mit der Bezeichnung für lieben identisch sein; lieben aber ursprünglich eine Ausdrucksbewegung meinen, und zwar entweder das Berühren der Lippen oder das der Nasen (Aneinanderschnuppern.)« Sym 1925, 321. »Wenn wir von Liebe und Haß reden, so fühlen wir nur noch dumpf, daß Liebe die Bewegung der Zärtlichkeit (Kuß), hassen den Anblick des Häßlichen zu bezeichnen unternahm.« PrCh 1926, 47.

›Liebesleben‹ in der Natur ] W. Bölsche: Das Liebesleben in der Natur, 3 Bde., Bd. 1, 1898; Bd. 2, 1900; Bd. 3, 1903. R. Schmidt: Die Auffassung der Sinnlichkeit und die Einstellung zur Sexualität bei Wilhelm Bölsche, 1964. »Oder man denke (um ein Beispiel zu geben, welches in der außermenschlichen Natur nicht selten, in der menschlichen vielleicht niemals vorkommt), daß ein Mann aus Liebesleidenschaft für eine Frau diese einem andern ihm widerwärtigen Mann läßt, bloß weil dieser der von der Geliebten Geliebtere ist, dann aber das Kind des andern als sein Kind nimmt und liebt. Bei solcher Unbedingtheit und Unverbrüchlichkeit muß ansetzen, wer Liebe ergründen will, nicht aber bei Aufgewühltheiten der Leidenschaften oder bei jenen Naturkämpfen, die etwa Bölsches ›Liebesleben in der Natur‹ schilderte. Diese Unbedingtheit allein erklärt, warum in der Natur unsere menschlichen ›Probleme‹ (Ehe, Treue, Monogamie, Scham, Sittlichkeit) überhaupt ohne Bedeutung sind. Denn von Natur fällt ›Treue‹ mit Liebe ganz zusammen, weil Natur alle Triebgewalten regelt einfach durch die Macht der Unwider- stehlichkeit und Unbezwinglichkeit jedes vitalen Triebes. (Deswegen sehen wir, daß in der Tierwelt alle Geschöpfe treu (konstant) sind, im selben Maße als sie erotisch sind.)« ThL: Liebe. In: Prager Tagblatt, 53. Jg., Nr. 21, 25.1.1928, 3f. (3f.).

daß der eine Teil vom andern gefressen wird ] »Alles Erdentreiben kann man auf zwei Beweggründe zurückführen: ›Ich will fressen‹ und ›Ich will nicht gefressen werden‹.« 4EuA 1924, 371.

Sichverschlingen ] »Wie das webt und sich verschlingt … siehst du nicht die Liebe überall dabei? Auf Liebe steht die Folge der Geschlechter, durch sie kommt der Baum des Lebens auf dem wandernden Planeten von Ast zu Ast herauf, bis endlich die Geistesknospe bricht.« W. Bölsche: Das Liebesleben in der Natur, Bd. 1, 1898, 37. »Das Ursprünglichste aller Mysterien der Natur ist der Fraß: Verschlingen oder Ge- fressenwerden! Wer dies Geheimnis des Lebens und Sterbens enträtselt, gelangt zum Kerne aller Metaphysik.« ThL: Wolf und Hund. In: Prager Tagblatt, 50. Jg., Nr. 224, 25.9.1925, 3f. (3); MT 1926, 138–144 (139). »Denn Liebe, (sie ist ursprünglich ganz das gleiche wie Haß), ist zu- nächst nur das Begehren, etwas Gleiches einzuschlingen […]. Spielarten des großen Geheimnisses ›Fressen und Gefressenwerden‹, als dessen Knotenpunkt wir die Wollust kennen: jenen Augenblick, darinnen Selbsthingabe wie Selbstbehauptung magisch in Eines zusammendrängt« ThL: Liebe und Hass unter Blumen. In: Blu 1928, 50–65 (50).

das merkwürdige Beiwort: die männerfressende ] In der ›Odyssee‹ trifft diese Bezeichnung auf Antiphates’ Frau zu wie auch auf Scylla, ein weibliches, männerfressendes Ungeheuer, das durch Circe zur Strafe für die Abweisung des Syclla begehrenden Claucus in ein solches verwandelt wird; der Unterleib verformt sich zu einem beißenden Hundemaul.

Hunger und Gattungstrieb unentwirrbar verwoben ] »Für den dialektisch Geschulten ist es nicht schwer, jedes Bedürfnis der Natur auf jedes andere zurückzuführen; also wie beim Witze die Brücken zu schlagen zwischen weit Entlegenem, etwa darzutun, daß der Hunger eine Art Liebe oder die Liebe ein ›Hungern‹ sei« PrCh 1926, 18. Vgl. ThL: Drei Experimente mit der Liebe und was dabei herauskam. In: Frankfurter General-Anzeiger, 29.5.1926.

als Hunger und als Geschlechtsleben ] »Doch weil, was ein Professor spricht, / Nicht gleich zu Allen dringet, / So übt Natur die Mutter- pflicht / Und sorgt, daß nie die Kette bricht / Und daß der Reif nie springet. / Einstweilen, bis den Bau der Welt / Philosophie zusammenhält, / Erhält sie das Getriebe / Durch Hunger und durch Liebe.« Fr. Schiller: Die Weltweisen. In: Sämtliche Werke I, (Hg.) G. Fricke, H. Göpfert, 1960, 223. »Denn wie deklamiert unser größter deutscher Geschichtsdoktrinär? ›So lange bis den Bau der Welt Philosophie zu- sammenhält, besorgt sie das Getriebe, durch Hunger und durch Liebe.‹« ThL: Demokratie und Führerschaft. In: Prager Tagblatt, 52. Jg., Nr. 195, 18.8.1927, 1 (Leitartikel). »In Wahrheit nämlich ist es völlig sinnlos, vom Geschlechtstrieb als von einem fundamentalen Urtrieb zu reden. Ein solcher ›Urtrieb‹ besteht ebensowenig wie ein ›Hungertrieb‹. […] In der Natur ist das Geschlechtsleben eingesenkt in die Lebensüberfülle der Affekte […], aber es kann sich […] ausnahmsweise verengen zum Phänomene nackter Geschlechtssucht.« ThL: Über Symbolik des Hymens. In: Biologische Heilkunst, 12. Jg., Nr. 5 (31.1.1931), 89f. (90). »Begierde! Das ist nichts Einfaches, Elementares! Vielmehr ist eine Noth […] zu unterscheiden und ein aus Erfahrung bekanntes Mittel, dieser Noth abzuhelfen. Es entsteht so eine Verbindung von Noth und Ziel, als ob die Noth von vornherein zu jenem Ziel hinwolle. […] Durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt, und nicht nur dieser, sondern wie Obertonsaiten noch andere […]. Wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist.« Fr. Nietzsche: KSA 9, 181, 210, 213.

das christliche Mysterium des heiligen Abendmahls ] »In die letzte Tiefe aber leitet uns das christliche Symbol des heiligen Abendmahls. […] Es kann kein Zweifel obwalten: die Konsekration und das Opfer Christi deuten zurück auf vorgeschichtliche kannibalisch-magische Opfer- handlungen.« Blu 1928, 146.

den primitiven Akt des Essens und Trinkens ] »Alle Vernunft und Gesittung des Lebens beginnt und endet bei den einfachen Tagtäglichkeiten; bei Essen, Trinken, Schlafen, Verdauen, Atmen, Schreiten, Sichkleiden, Sichwaschen, Wohnen, Heizen, Körperpflege, Arbeiten, Sicherholen. Diese Tatgebiete sind wichtiger als alle Religion und Philosophie; oder richtiger gesagt: sie sind das Betätigungsfeld der Religion und Philosophie selber.« 4EuA 1924, 47. »Die Art, wie wir bauen, wohnen, essen, trinken, arbeiten, genießen wird schon unserem Enkelgeschlecht als mittelalterlich erscheinen.« ThL: Den Erfindern gewidmet. In: Prager Tagblatt, 55. Jg., Nr. 231, 1.10.1930, 3f. (3). Am 4.9.1931 sprach ThL in der NORAG [Nordische Rundfunk AG, 1924–1932] Hamburg, von 17:25 bis 17:50 Uhr über ›Dein Heim, das bist du! Architektur und Lebensgestaltung‹ in der Sparte ›Stunde der Werktätigen‹. StAH: ThLN 2092 (Dein Haus, das bist du, masch. Vortrags-Ms.).