Lessing vor Ort – Der gelbe Fleck mit dem QR-Code

Am 22. Mai 2014 hielt ich eine Rede in den Räumen eines ehemaligen Kriegslazaretts in Hannover, in dem Theodor Lessing während des Ersten Weltkriegs als Arzt tätig war. Es war zugleich der Tag, an dem die Freischaltung der Website www.theodorlessingedition.de erfolgte. Die Rede hatte den Titel: Theodor Lessing als Denkmal. A mobile monument.

Mit der Studentin Maren Ihnen habe ich die Theodor Lessing-Figur 2011/2012 entwickelt und gebaut, und wir sind ein Jahr lang durch Hannover gezogen, mit der Figur unter dem Arm und mit einer Kamera, um Fotos für die Website aufzunehmen. (In der Rubrik ›Streifzüge durch Hannover‹ auf dieser Website können Sie sowohl die Fotos wie auch längere erläuternde Zitate aus Lessings Schriften sehen.) In die Figur war ein QR-Code eingelassen, der zu einer ›Daily App‹ hinführen sollte; diese hätte täglich auf ein Smartphone ein neues Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk gebracht. Die hundert Figuren sollten an Schulen und Bildungseinrichtungen verteilt werden.

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Unsere Versuche, die Figuren zu verteilen, stießen auf massiven Widerstand der Brandschutzbeauftragten, die die Pappaufsteller für sicherheitsgefährdend hielten. Unsere Argumentation, daß die Figuren, bestehend aus einer Deckschicht (Karton, PE, Glasfaser, Kunststofffaser, Aluminium und Mineralfaser-Verbunde) und einem Kern (Polyurethan-Hartschaum, Polyol+Isocyanat) nicht leicht entzündlich seien, stieß auf taube Ohren. Auch der Vater von Maren Ihnen, der Mitglied in der freiwilligen Feuerwehr war, hatte uns versichert, daß keine Brandgefahr bestünde. Darüber hinaus erhielten wir von vielen Institutionen nicht einmal eine Rückmeldung. Die Figuren sollten nicht nur Theodor Lessing in ganz Hannover bekannt und vor allem junge Leute auf elegant-digitale Art mit seinen Gedanken vertraut machen, sondern auch für die Edition werben und potentielle Sponsoren anlocken. Dank des Desinteresses auch seitens der Stadt Hannover war somit das digital-analoge Projekt zum Scheitern verurteilt, bevor es hatte beginnen können.

Aus meiner Rede vom 22. Mai 2014:

Denkmäler wirken durch sich selbst und brauchen keine Erklärungen. Aber: Es gibt nichts, was so unsichtbar sein kann wie ein Denkmal. Für die Ewigkeit gebaut, halten sie oft nur Jahrzehnte, weil sie den Menschen auf einmal nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Dann werden sie entweder demontiert oder man läßt sie stehen und distanziert sich auf einer Tafel von dem plötzlich unerwünschten politischen Symbol.

Der Eiserne Hindenburg, ein Holzstandbild, am 4. September 1915 in Berlin eingeweiht, wog 26 Tonnen und war 12 Meter hoch. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wurden die 21 Holzblöcke, aus denen dieser Hindenburg gefügt war, als Brennholz verfeuert. Der Kopf blieb zunächst erhalten, sollte in ein Museum geschafft werden, doch der hölzerne Hindenburg-Kopf paßte durch keine Tür; während des Zweiten Weltkriegs ging er verloren. Heute wird Hindenburg als der Reichspräsident in Erinnerung gebracht, der am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler berief. Aber natürlich gibt es in der Bundesrepublik Straßen, Plätze, Brücken, Parks und auch Schulen und Kasernen, die weiterhin seinen Namen tragen und er ist in Hannover immer noch, [auch heute noch, im Jahr 2023], Ehrenbürger der Stadt. Gern beruft man sich, wenn es um die Beibehaltung solcher Ehrungen geht, auf ›Die Geschichte‹, ein Kollektivsingular, der alles zu rechtfertigen scheint.

Theodor Lessing hatte 1925 vor einer Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten gewarnt: »Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: ›Besser ein Zero als ein Nero‹. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.«

Zum 50. Todestag Theodor Lessings, am 30. August 1983, wurde der Platz vor der Volkshochschule nach ihm benannt; die Universität wollte seinen Namen nicht. Das ist heute nicht mehr so wichtig, denn nun steht ein mobiles Denkmal vor Ihnen, und mittels eines QR-Codes können Sie es an historischen Orten, Straßen und Plätzen Hannovers sehen. Im Gegensatz zu den stummen steinernen Denkmälern spricht dieses zu Ihnen, die Website liefert täglich neue Aphorismen aus Theodor Lessings philosophischem Gesamtwerk. Es sind keine beliebigen Zitate des Tages, die man heute vielerorts findet, keine banalen Spruchweisheiten; vielmehr strenge Philosophie in der Form von oft überraschenden Paradoxa, die auf einen philosophischen Zusammenhang verweisen, auf Bücher, die Theodor Lessing geschrieben hat.

Das mobile Monument ist ein künstlerisches Bildobjekt und ein politisches Symbol. Die Website theodorlessingedition.de dokumentiert sein Leben und Werk. So gibt es nun einen analogen und einen digitalen Theodor Lessing. Niemand wird heute die Auffassung Platos teilen, wonach die Philosophen die Führer der Völker sein sollen, aber als einen freundlichen Reiseführer durch sein eigenes Werk kann man die Lessingfigur mit Smartphone-Anschluß schon sehen. In Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen aufgestellt, soll sie auch junge Leser gewinnen, für die der digitale Lebensstil zur Gewohnheit geworden ist, der Gang in eine Buchhandlung oder eine Bibliothek aber nicht.

Der Judenstern auf der Figur, der den QR-Code rahmt, ist als eine Erinnerung an den 1. September 1941 zu verstehen, als eine Polizeiverordnung festlegte: »§ 1, Abs.1: Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen. Abs. 2: Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ›Jude‹. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest angenäht zu tragen.«

Das mobile Denkmal zerstört dieses Stigma, bricht den gelben Fleck auf und zeigt in der Mitte einen Digitalcode, der zur Website, zur Philosophie hinführt. Theodor Lessing mußte dieses Brandzeichen des Hasses nicht mehr tragen, die NS-Verbrecher, die ihn 1933 erschossen, brauchten dazu keine Markierung. Er selbst hat 1932 in einem Text ahnungsvoll von einer bevorstehenden Vertreibung der deutschen Juden gesprochen:

»Ihr wollt uns den gelben Fleck der Schande anheften.
Tut es.
Wir tun es selbst.
Freiwillig.
Wir tragen ihn als Ehrenzeichen.
Weist uns aus jeder Heimat.
Aber denkt auch an eure eigene Seele.
Aus der werdet ihr uns nie los,
denn dank dieser Not unseres Lebens
sind wir der tiefere Teil eurer selbst.
Richtet uns, ihr richtet euch selbst.«

Diese lebendige philosophierende Figur ist ein bewegliches Erinnerungszeichen an das, was auch heute noch als ein unvorstellbares Ereignis erscheint und erscheinen muß: Der planmäßig betriebene und industriell ausgeführte Mord an Millionen von Menschen durch Menschen. Rainer Marwedel (2014)

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