Entwertete Welten, wölfische Zeiten.
Der Bahnhof. Ohne ihn sähe die jüngere Geschichte Hannovers anders aus. Und seltsam, wie dieses Tor zur Stadt seit den Jahren des Neubaus wie ein Glanzstück dasteht, ein Ort, vor dem Aufnahmen mit nobler Gesellschaft und allerhöchsten Gästen gemacht werden, denen ein ›Großer Bahnhof‹ bereitet wird. Das war zu Kaiser Wilhelm II. Zeiten. Nach dem Ersten Weltkrieg hockte, verlaust und verdreckt, ein Publikum davor, von dem kein Photograph Notiz nahm: das menschliche Treibgut aus den zurückgekehrten Armeen, die Ludendorff und Hindenburg befehligt hatten.
Der Bahnhof wurde eine verruchte und verrufene Gegend, in der man sich als unbescholtener Bürger nur ungern lange aufhielt. In diesem Umkreis an- und abfahrender Züge trug Dunkles sich zu, wurden Verbrechen ausgeheckt, ging schwarze Ware um. In der großen Empfangshalle sammelten sich nächtens die Obdachlosen. Mit der Rückkehr der ehemaligen Soldaten, die meist nicht mehr in ihren zivilen Beruf zurückfanden, dem Elend, der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Verrohung der durch den Krieg radikal veränderten Sitten und Umgangsformen, wurde Hannovers Bahnhofshalle zum Symptom; ein Brennglas, in dem das sich zusammenzog, was fünf Jahre Krieg den Menschen zugefügt hatten an Not, Schmerz und Leiden. Dem Beobachter Theodor Lessing bot sich hier das »Schauergemälde der Jahre 1918–1924«.
Im Mittelpunkt zwischen Berlin, Köln und Amsterdam gelegen, wuchs Hannover während der Nachkriegszeit die Bedeutung einer Drehscheibe für Tausch- und Schiebergeschäfte zu. Die Waren und ihre Agenten, die Hehler, gelangten von dem Punkt aus in die Stadt, wo jeder Hannoveraner nach begehrten Lebensmitteln sich umschaute: vom Hauptbahnhof. Nicht um den nächsten Zug abzupassen, ging mancher Einwohner der Stadt in die Grauzone des Bahnhofgebäudes, sondern um sich mit schwarz geschlachtetem Fleisch zu versorgen.
Zwischen der mittelalterlichen Altstadt am östlichen Leineufer und der frühneuzeitlichen Calenberger Neustadt wucherte in altem Gemäuer ›Klein-Venedig‹. In diesem Slumviertel , wo die Ärmsten der Armen einen Unterschlupf gefunden hatten, setzten Trödler, Zuhälter und Diebe alles auf eine Karte, wenn sich eine gute Gelegenheit bot. Dazwischen die Kleinhändler, Kioske, Friseure, Metzger und andere Kleingewerbler. Alle fügten sich ins Weichbild dieses Sammelsuriums von Animierbaracken und Absteigen und den verfallenden, in fahles Licht getauchten Gassen. Eine »Insel der Bierseligen«, wie es ein zeitgenössischer Reim trällerte, war dieses ›Klein-Venedig‹ ganz gewiß nicht.
Als Kinder am Hohen Ufer spielten, fanden sie Spuren eines Tuns, das bald die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzte; Spuren eines Tuns, von dem, wie Theodor Lessing schrieb, »die augenlosen Höhlen menschlicher Totenschädel klagten«.
So wie die hannoversche Bevölkerung auf dem schwarzen Markt ihre Lebensbedürfnisse befriedigte, so erledigte die Bahnpolizei ihren Auftrag zur Erhaltung von Sicherheit und Ordnung, indem sie zwielichtige Figuren aus der Unterwert zu Hilfsdiensten heranzog und diese Spitzel in ihr Überwachungssystem einbaute. Die Bahnbehörde, wie die anderen Zweige der Ordnungskräfte überlastet und personell schlecht ausgestattet, griff auf den fähigsten Mann der Szene zurück; und nicht lange, da war die Legende in der Welt, daß dieser Spitzel ein »Herr Kriminal« sei. Diesen Mann ließ man ungehindert die Bahnsperren passieren, damit er nachts die überfüllten Wartesäle durchstöbern konnte, Ausweise kontrollierend, das Telefon der Bahnhofswache benutzend; dieser Mann wurde von den diensttuenden Beamten mit Ehrbezeugungen gegrüßt: Fritz Haarmann lebte in beiden Welten.
Zur Lektüre empfohlen:
Rainer Marwedel: Theodor Lessing. 1872-1933. Eine Biographie, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand Verlag, 1987, 208–243.
Theodor Lessing: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs und andere Gerichtsreportagen, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Marwedel, Frankfurt/M.: Sammlung Luchterhand, Bd. 865, 1989; dtv, 2. Aufl. 1995.