Ich war schwanger / Mir ging’s zum Kotzen / Ich wollt’s nicht haben, mußte gar nicht erst nach fragen / Ick freß’ Tabletten / Und überhaupt, Mann / Ich schaff’ mir keine kleinen Kinder an. (Nina Hagen: Unbeschreiblich weiblich, 1978)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, grüß Gott, meine Damen und Herren an ihren Fernsehgeräten. Heute haben wir ein ganz ernstes Thema gewählt, die Bevölkerungsexplosion. Wenn wir im Vorspann Nina Hagen als provokantes Punkmädchen ihr Lied vom Schwangersein haben singen lassen, dann ist das so zu erklären, daß wir Medienleute immer einen Aufmacher brauchen, wie wir das in der Fachsprache nennen, damit unsere Zuschauer am Ball, sprich am Bildschirm bleiben. Also, nicht ausschalten, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, wir werden jetzt gleich ganz seriös. Ich darf unsere heutigen Gäste kurz vorstellen. Da haben wir zu meiner Rechten eine Familie in Gestalt von Hubert und Birgit, Vater und Mutter, das ist die Familie Reichenhalt, und das ganz Besondere an ihr ist, daß sie aus neun Kinder besteht. Die sind heute aber alle zuhause und sitzen vor dem Fernsehapparat, nicht wahr, Frau Reichenhalt?
Birgit Reichenhalt: Ja, freilich, das wäre doch etwas viel hier in ihrem kleinen Fernsehstudio, Kinder brauchen Platz.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, das ist schön, daß Sie heute bei uns sind, Frau und Herr Reichenhalt. Jetzt gleich zu unserem nächsten Gast. Das ist ein Fachwissenschaftler aus dem Bereich der Demographie, das ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet: Bevölkerungswissenschaft. Herr Professor Birger Häusler lehrt an einer Universität und ist im Beirat im ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹.
Prof. Birger Häusler: Guten Abend, Frau Doktor.
Dr. Anneliese Sendler: Als nächstes darf ich in unserer Gesprächsrunde willkommen heißen Herrn Professor Friedrich Lensing, der inzwischen schon zu einem Dauergast in unseren Sendungen geworden ist. Professor Lensing hat in seinen Veröffentlichungen immer wieder der Frage der Bevölkerungspolitik seine Aufmerksamkeit gewidmet, deshalb freue ich mich auch, ihn heute hier wieder bei uns zu haben.
Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank für ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Schließlich möchte ich noch unseren letzten Gast vorstellen, er ist der jüngste in unserer Runde, Herr Tim Hummel. Er ist Student der Biologie und Mitglied in einer Musikband namens ›Wicked Witch‹.
Tim Hummel (trägt ein T-Shirt mit den Aufdruck: ›My father didn’t wear a condom!›): Ja, Hi.
Dr. Anneliese Sendler: Nun aber gleich zur ersten Frage, die ich an Herrn Professor Häusler richten will. Können Sie uns kurz einen Überblick über die derzeitige Bevölkerungslage geben?
Prof. Birger Häusler: Ja, Frau Sendler, das ist kein schönes Bild, das ich Ihnen und uns allen jetzt malen werde. Wir stehen vor dem Kollaps. Der Geburtenrückgang in den westeuropäischen Ländern, insbesondere aber Deutschland, ist bestürzend. Wenn wir die Menschen als natürliche Spezies erhalten wollen, muß es zu drastischen Veränderungen in der Bevölkerungspolitik kommen. Seit meinem 2005 in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ publizierten ›Grundkurs Demographie‹, in dem ich eindringlich einen bevölkerungspolitischen Kurswechsel gefordert habe, ist die Entwicklung bis heute noch katastrophaler geworden. In meiner 2014 erschienen Studie ›Die alternde Republik und das Versagen der Politik‹ habe ich die Bilanz meiner bisherigen Bemühungen gezogen. Wir sind ein Land ohne Zukunft, und das sage nicht nur ich, sondern das sagen mir auch Statistiken aus Italien, wo 2019 ein neuer Negativrekord bezüglich der Geburtenrate erreicht wurde.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nach den mir vorliegenden Erhebungen hat sich seit 1945 die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht, von damals 2,5 Milliarden Menschen auf 7,9 Milliarden. Dabei hat sich der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung von 17 auf 39 Prozent mehr als verdoppelt, der Anteil Asiens hingegen wird von aktuell 60 Prozent auf 43 Prozent kräftig schrumpfen. Eine Frau in Afghanistan bringt knapp viermal so viel Kinder auf die Welt wie eine Japanerin.
Prof. Friedrich Lensing: Und dennoch will die japanische Regierung jetzt 23 Milliarden Euro ausgeben, mit der die Geburtenrate in Japan gesteigert werden soll. Das ist doch völliger Wahnsinn. Die sollten doch froh darüber sein, daß ein Geburtenrückgang zu verzeichnen ist. Die Verminderung der Geburtenziffer ist ein Wesensgesetz der Kultur. Nur so kann auch die Menschheit als Ganze noch etwas Hoffnung auf ihr Überleben haben. Stattdessen klagen diese kurzsichtigen Politiker über das Aussterben der Japaner, und nicht nur sie, auch in anderen Ländern wird so getan, als ob mit weniger Menschen der Untergang des Abendlandes beschlossene Sache ist. Es ist rassischer Nationalismus.
Prof. Birger Häusler: Da muß ich sowohl Ihnen, Frau Doktor, wie Ihnen, Herr Professor Lensing entschieden entgegentreten. Das stimmt so alles nicht. Sie können nicht mit der Weltbevölkerung kommen und so tun, als gäbe es eine Überbevölkerung unseres Planeten. Wir müssen uns doch stets an die eigene Nation wenden und überlegen, wie wir ihren Fortbestand sichern können. Sonst würden wir ja fordern, daß die ganze Welt ein Einwanderland wird, und, glauben Sie mir, das wollen die Japaner ganz sicher nicht. Die wollen die Identität ihrer nationalen Eigenheit erhalten, und das geht nur mit einer gezielt gesteuerten Bevölkerungspolitik.
Tim Hummel: Ey, also jetzt muß ich aber mal dazwischenfunken. Als Biologe studiere ich das Leben in allen seinen Formen und da muß ich feststellen, daß die Natur zwar ununterbrochen versucht, sich selbst zu reproduzieren — auf Masse legt sie Wert, nicht? — und das hat sich für viele Menschen als ein Weg ins Elend erwiesen. Viele Kinder bedeuten immer viele Münder, die man zu füttern hat. Woher das Geld nehmen und nicht stehlen? Der Evolutionsbiologe George Williams hat seinen berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1993 betitelt: ›Mother Nature is a Wicked Old Witch‹. Damit will er sagen: Von wegen ›Kinderwunsch‹, das bilden sich die Menschen nur ein, daß es ihr persönlicher Wunsch ist, Kinder zu bekommen, das spielt sich doch alles hinter ihrem Rücken ab. Nichts davon ist gewünscht, man wird durch einen biochemischen Cocktail, der wie eine Droge wirkt, dazu gezwungen, mittels der persönlichen Illusion, daß das aus ›Liebe‹ geschieht, die Gattung fortzupflanzen. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat das 1976 in dem Buch ›Das egoistische Gen‹ nachgewiesen.
Prof. Friedrich Lensing: Bravo, Herr Hummel. Damit bringen Sie die Problematik auf den Punkt. Schon mein großes philosophisches Vorbild Arthur Schopenhauer hat in seiner ›Metaphysik der Geschlechtsliebe‹ geschrieben, daß, sobald ein Paar sich gefunden hat und sich verliebt in die Augen schaut, das Werk der Gattungsvernunft vollendet wird. »Daß dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den Teilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache.« So Schopenhauer.
Dr. Anneliese Sendler: Das ist starker Tobak, den Sie uns da zumuten, Herr Professor. Aber warum fragen wir nicht die Familie Reichenhalt einmal, was sie dazu denken?
Birgit Reichenhalt: Ja, also Ich und mein Mann, wir können dazu nur sagen, daß wir diese Art, über Kinder zu reden, nicht mögen. Nein, so kann man doch nicht über den wertvollsten Schatz reden, den man hat, die Kinder, ohne die das Leben so einsam und eintönig wäre.
Hubert Reichenhalt: Wir haben zum zehnjährigen Bestehen unseres Vereins, dem ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹ zahlreiche Grußschreiben von bekannten Politikern unseres Landes erhalten. Ich lese mal aus einem Brief vor: »Kinderreiche Familien braucht unser Land, also jene Eltern, die sich ganz bewußt für drei und mehr Kinder entschieden und damit aus freien Stücken große Verantwortung übernommen haben. Schon deshalb sorgt die Landesregierung in zahlreichen Bereichen dafür, daß Familien bei uns in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert werden. Wir wissen, starke Familien sind das Fundament unserer Gesellschaft. Familien, in denen Liebe, Geborgenheit und Werte vermittelt werden, sind die beste Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.«
Tim Hummel: Das ist doch ganz primitive Propaganda, ganz typisch auch die Redeweise dieser Politiker, die Leuten, die nicht wissen, was sie tun, um den Bart schmieren und sie loben dafür, daß sie viele Kinder in die Welt setzen. Und diese Betonung, daß das ›ganz bewußt‹ geschehen ist. Wer so viele Kinder hat wie hier diese Familie Reichenhalt, der ist doch das beste und deprimierendste Beispiel dafür, daß eben überhaupt kein bewußtes Handeln vorliegt, sondern man ist einfach dem jedem Menschen inhärenten Trieb gefolgt, ohne auf die Folgen zu achten. Ein Egotrip ist das, allein diese Vorstellung, daß man sich so viele Male zu vervielfältigen glaubt, als sei das ein Segen für die Umwelt, grotesk ist das.
Dr. Anneliese Sendler: Lieber Herr Hummel, ich muß ihren jugendlichen Überschwang nun aber bremsen, so geht es doch nicht, wir sind hier doch unter zivilisierten Menschen, die sich zu benehmen wissen.
Tim Hummel: Was heißt hier Benehmen? Diese Leute, die ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, die sollen sich einmal benehmen und darüber nachdenken, was das für ein Unfug ist, den sie betreiben.
Prof. Friedrich Lensing: Da muß ich nun aber meinem jungen Kollegen beispringen, verehrte Frau Doktor Sendler. Sein Argument sticht. Die Weltbevölkerung wird bis zum Jahr 2050 um 29 Prozent von 7,55 Milliarden auf 9,77 Milliarden wachsen. In Afrika werden im Jahr 2050 etwa 2,5 Milliarden Menschen leben, doppelt so viele wie im Jahr 2017, und die Bevölkerung der zweiundzwanzig Staaten der Arabischen Liga wird von 414 Millionen um 63 Prozent auf 676 Millionen Menschen wachsen. Ist ein Land stabil und wächst die Bevölkerung nicht zu schnell, kann die Demographie der Impuls für einen Wohlstandsimpuls sein. In der arabischen Welt gibt es jedoch sehr viele Jugendliche ohne Arbeit. Sie sind die Ursache für Unruhen. Die wirksamsten Faktoren, um die Geburtenrate zu senken, sind Bildung und Arbeit für die Frauen.
Tim Hummel: Wenn Herr Reichenhalt eben zitiert hat, dann will ich das jetzt auch einmal tun. In seinem 2005 erschienenen Buch ›Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen‹ schreibt der Evolutionsbiologe Jared Diamond: »Beim derzeitigen Wachstum der Weltbevölkerung wären wir in 774 Jahren bei 10 Menschen je Quadratmeter Landfläche angelangt, in knapp 2000 Jahren wäre die Masse der Menschen ebenso groß wie die Masse der Erde, in 6000 Jahren hätte die Masse der Menschen die gesamte Masse des Universums erreicht.«
Prof. Birger Häusler: Ich wende mich ganz entschieden gegen diese Rechenbeispiele, die ideologisch motiviert sind und uns nicht weiterbringen. Wir leben doch hier in Deutschland, und dank der Wiedervereinigung sind wir auch wieder ein zahlenmäßig größeres Volk geworden. Und das sollen wir auch bleiben, aber dazu müssen seitens der Regierung auch stärkere finanzielle Anreize gegeben werden, damit wir als deutsche Nation nicht weiter schrumpfen. Vor über zwanzig Jahren habe ich in einem Buch vor der ›demographischen Zeitenwende‹ gesprochen, die auf uns in Deutschland und Europa zukommt. Wenn seit neuestem der jetzige Bundeskanzler das Wort von der ›Zeitenwende‹ aufgegriffen hat, um damit verstärkt den Blick auf die Ukraine und Rußland zu wenden, so muß ich in meiner Verantwortung als Demograph darauf pochen, daß auch auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik eine Zeitenwende in Gang gesetzt wird.
Tim Hummel: Na klar doch, Professorchen, wir brauchen Menschenmaterial, damit wir die Panzer und Raketenwerfer auch bedienen können, wenn wir einen lange andauernden Krieg gewinnen wollen.
Prof. Birger Häusler: Unverschämter Lümmel!
Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Gäste, bitte bleiben Sie doch alle auf dem Teppich. Das ist hier doch nur eine Talkshow. Auch wenn ich die Lebhaftigkeit, mit der hier diskutiert wird, schon toll finde. Aber ein Blick auf die Studiouhr sagt mir, daß wir schon wieder das Ende unserer Sendezeit erreicht haben. Im Namen des Senders bedanke ich mich bei allen Teilnehmern für ihre Mitwirkung und sage Auf Wiederschaun bis zum nächsten Mal.
Prof. Friedrich Lensing (ruft während des Abspanns, den Schluß von Goethes ›Faust. Erster Teil› zitierend): O, wäre ich nie geboren!