In der Sommerzeit fühlen sich die Massenmedien verpflichtet, dem lesenden und wählenden Volk über die Psychologie ihrer politischen Herrscher detaillierte Auskunft zu geben. Die Große Frankfurter hat das jetzt getan, indem sie auf einer ganzen Seite ihres kostbaren Anzeigen- und Nachrichtenraumes dem derzeitigen Bundeskanzler nähergerückt ist. Die Überschrift des Porträts ist in erheblichem Maße anmaßend: »So funktioniert Olaf Scholz«. Ohne Ausrufezeichen zwar, aber dennoch, die Große Frankfurter traut sich allerhand zu und das in jeder ihrer Ausgaben. Während man in der Regel eine Bedienungsanleitung unter dem Begriff der Funktion zu subsumieren gewöhnt ist, wird hier der Anspruch erhoben, auf einer Zeitungsseite eine ganze Person zu verstehen und zu erklären. Ja, wir sind alle nur Rädchen im großen Weltgetriebe und so mag man vielleicht auch vom Funktionieren eines Menschen sprechen dürfen, analog zu der im 18. Jahrhundert recht beliebten Metapher vom Menschen als einer Maschine. Wer die Große Frankfurter aus früheren Jahren kennt, wird sich jedoch gewiß wundern über die weiteren Untertitel: »Wir erklären schon mal: Wie spricht er? Wie führt er? Und: Steht er eigentlich auf Autos?« Bordelljargon, und dann noch falsch, ruft Kommerzienrat Treibel nach der Lektüre der Morgenzeitung (so gesprochen in der von Walter Jens bearbeiteten Fernsehfassung von Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹). Man sieht aber, wie auch ein seit seiner Gründung, 1949, auf hohem Kulturbewußtsein sich etwas zugute haltendes Blatt, gezwungen ist — die Zeiten für Zeitungen sind schlecht, und das schon seit etlichen Jahren — sich einen Zeitgeist-Jargon zuzulegen, der dem Leser, und wir bedienen uns jetzt einmal kurz dieses Jargons, auf die Pelle rückt.
Als erstes Merkmal fällt der Großen Frankfurter die Lautstärke des Kanzlers beim Sprechen auf. Er hat eine leise Stimme. Was aber daran bemerkenswert ist, das ist nicht so sehr die leise Stimme an sich, sondern daß er auf Zurufe, doch etwas lauter zu sprechen, nicht reagiert. Die Große Frankfurter enthält sich einer Wertung dieses Vorgangs, doch darf man bei diesem Verhalten ein Machtinstrument vermuten, denn wer konstant leise spricht und weiß, daß die Zuhörenden am Kabinettstisch aufgrund ihrer berufsmäßigen Anwesenheitspflicht genau verstehen müssen, was der Kanzler zu sagen hat, der übt subtile Macht über seine Kollegen aus. Wenn ich rede, dann haben alle still zu sein und auf meine Worte zu lauschen. Wer nicht die Ohren spitzt und etwas nicht mitbekommt, ist später selber schuld, wenn eine Information bei ihm nicht angekommen ist, und für alle darauf beruhenden Fehlentscheidungen ist der jeweilige Minister selbst schuld, denn er hat dann eben nicht aufgepaßt. Zu diesem autoritären Stil paßt das Credo, das der Kanzler mit dem britischen Könighauses teilt: Never complain, never explain. Wie die Große Frankfurter aus dem Umfeld des Kanzlers hat erfahren können, wird über ihn eine Geschichte kolportiert, die einst Bismarck zugeschrieben worden ist. Gesetze seien wie Würste, man solle besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. Am Ende zähle doch nur dir schmackhafte Wurst. Bekanntlich war Bismarck kein ausgesprochener Freund des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, und so ist die Wurstmetapher eher eine Erinnerung daran, wie lange ein demokratisches Prozedere in der deutschen Politik von der Obrigkeit verhindert worden ist, und weniger ein amüsantes Beispiel dafür, daß »entscheidend ist, was hinten rauskommt«, wie es ein früherer Kanzler auf einer Pressekonferenz 1984 erläuterte, ohne damit auf die Wurstmetapher wörtlich, aber doch sachlich zurückgegriffen zu haben. Aus der Philosophiegeschichte wird ein Satz von Schelling überliefert, daß man über dem Produkt den Prozeß nicht vergessen dürfe, aber solche Unterscheidungen haben für den derzeitigen Kanzler keinerlei Bedeutung, wie er auch sich erst kürzlich von Karl Marx »distanziert« hat, wie die Große Frankfurter weiß. Nun ist allein ein solcher Vorgang, wo ein Politiker sich von einem Philosophen distanziert, komisch zu nennen, denn dieser Politiker hat absolut nichts vorzuweisen, mit dem er mit dem Philosophen in eine theoretische Erörterung eintreten könnte. Ja, der Kanzler glaubt sogar zu wissen, was das Wesentliche des Marxschen Werkes, immerhin vierzig Bände der ›Marx-Engels-Werke‹ (MEW), und viele weitere in der ›Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), ausmacht: Mit seiner Theorie, daß »erst alles gut sei«, wenn die Menschen nicht mehr entfremdet arbeiteten und sich ihre Arbeit komplett aussuchen könnten, habe der Philosoph »danebengelegen«. »Das ist ja Quatsch, das darf uns auch nie wieder reinrutschen ins Denken.« wird der Kanzler von der Großen Frankfurter zitiert. Sehen wir davon ab, ob der Kanzler damit dem Marxschen Gesamtwerk auch nur im entferntesten gerecht geworden ist, so ist ein Wort wie »Quatsch« kein Argument, sondern das, was man in der Rhetorik als Widersprechen bezeichnet. Quatsch versteht jeder als Wort und man ist beruhigt, daß die Obrigkeit damit ein für alle Mal geklärt hat, in welchem Verhältnis sie zur Theorie steht. Quatsch klingt volkstümlich, und so kann die Große Frankfurter dann auch erfreut berichten, daß der Kanzler, wiewohl kinderlos, auch mit Kindern so reden kann, »daß es nicht zu sehr nach Bundeskanzler klingt.« Vor Kindern einer Grundschule hat der Kanzler unlängst das Wort »bekloppt« gebraucht, ein Wort, daß in einem deutschen Aufsatz nichts zu suchen hat, es sei denn, die Schüler zitieren damit den derzeitigen Kanzler. Als der Kanzler noch jung war, war er politisch »bei den ganz Harten«, womit der damals so genannte ›Stamokap‹-Flügel innerhalb der Jungsozialisten gemeint ist. Von der »kommunistischen Ideologie« habe sich der Kanzler gleich nach dem »Zusammenbruch des Kommunismus« getrennt, woraus hervorgeht, daß die dem Kanzler nachgesagte pragmatische Haltung vollauf zutreffend ist, denn wenn die Staaten, die man bisher als Vorbilder gesehen hat, nicht mehr existieren, so ist das der beste Anlaß, sich von diesen loszusagen. Der Kanzler, der sich von Marx distanziert, kann sich auch vom Sowjetkommunismus distanzieren, wenn er verschwunden ist, während es natürlich viel glaubwürdiger gewesen wäre, wenn er es schon vor dem Fall der Mauer getan hätte. »Aber aus Anarchisten werden Sozialdemokraten, aus Sozialdemokraten Redakteure, aus Redakteuren Theaterdirektoren.« hat Karl Kraus 1912 über Stefan Großmann gesagt. Im Falle des derzeitigen Kanzlers kann man sagen, daß er immer schon darauf geachtet hat, den Zug der Zeit nicht zu verpassen. In einer schärferen Version des kolportierten Bismarck-Spruchs über das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren heißt es, »das Volk solle besser nicht dabei sein, wenn Gesetze oder Würste gemacht würden, sonst werde ihm schlecht.« Es reicht manchmal aber schon die Lektüre der Großen Frankfurter dafür aus.