Hat ein Mann übermächtige Muskeln, dann ist er: ›Rudi der Eisenkönig‹. Hat man Muskelschwund, so macht man die Nummer: ›Das lebende Skelett‹. Einer ist ganz Magen (kann Glas schlucken, kann Nägel verdauen). Kurz: irgendeine gewinnbringende Entartung der Natur hat ein jeder und kann sie verstärken, ausbilden, unterstreichen. Dann ist man immerhin Etwas und macht im Leben eine Nummer. (Theodor Lessing: Schmerzensruf eines Normalen, 1927)
Denn das gewöhnliche Leben ist für manche ein Grauen. Kommt man jedoch mit einer besonderen Begabung auf die Welt, zum Beispiel einem stapazierfähigen Magen, dann ist die Versuchung groß oder liegt es nahe, etwas daraus zu machen, vielleicht sogar einen lebenslänglich ausgeübten Beruf. In früheren Zeiten, als man das Marketing noch nicht kannte, traten solche Leute auf Jahrmärkten auf und zeigten dort ihre einzigartigen Fähigkeiten. So Nicolas Wood, der ein ganzes Schaf aß, bei einer anderen Gelegenheit vierundachtzig Kaninchen, und wieder ein anderes Mal vierhundert Tauben. In John Taylors Buch ›The great eater, of Kent, or Part of the admirable teeth and stomacks exploits of Nicholas Wood‹ (1630) wird dies behauptet und beschrieben. Über dreihundert Jahre später tritt ein französischer Schausteller auf, der sich ›Monsieur Mangetout‹ nennt und verzehrt, mit einer Elektrosäge kleingeschnitten, in den Jahren 1966 bis 1997 achtzehn Fahrräder, fünfzehn Supermarktwagen, sieben Fernseher, sechs Leuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, ein Leichtflugzeug, einen Computer und einen Sarg. In einen solchen wurde er im Alter von siebenundfünfzig Jahren gebettet. Man nennt solche Menschen heute Freaks, weil sie ganz offensichtlich zwar zur menschlichen Rasse hinzugezählt werden können, aber doch so weit vom Normalmaß abweichen, daß sie nur als eine Laune der Natur von der Gesellschaft Anerkennung erfahren. So bewundert man den Feuerschlucker und zollt seiner Kunst Beifall, aber man selbst möchte doch bei der Erledigung solcher Kunststückchen ein bloßer Zuschauer bleiben.
Aber nicht nur die Kirche hat einen großen Magen, wie Mephistopheles im Goethes ›Faust‹ sagt (»Die Kirche hat einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch noch nie sich übergessen; / Die Kirch’ allein, meine liebe Frauen, / Kann ungerechtes Gut verdauen.«), im 19. Jahrhundert in Paris füllte der wohlhabende Bourgeois seinen Magen mit beträchtlichen Portionen. »Der erste Akt dieses eines Pantagruel würdigen Mahls dauert von sechs Uhr abends bis Mitternacht: Suppe à la Crécy, zuvor mehrere Gläser herber Wein; Steinbutt in Kapernsauce, Rinderfilet, geschmorte Lammkeule, Poularde im Kasten, Kalbszunge im Sud, Sorbets in Maraschino, gebratenes Huhn, Cremes, Torten und Teilchen, alles begossen mit sechs Flaschen altem Burgunder pro Kopf. Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens dauert der zweite Akt. Es werden serviert: eine oder mehrere Tassen Tee, Schildkrötensuppe, indischer Kari aus sechs Hühnern, Lachs mit Schnittlauch, Rehschnitzel mit spanischem Pfeffer, Schollenfilet mit Trüffelsauce, Artischocken mit Javapfeffer, Sorbets mit Rum, schottisches Haselhuhn mit Whisky, englische Puddings mit Rum, stark gewürzte englische Kuchen, alles begossen mit drei Flaschen Burgunder und drei Flaschen Bordeaux pro Kopf. Der dritte Akt dauert schließlich von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags: Man reicht eine äußerst stark gepfefferte Zwiebelsuppe und eine Unmenge nicht gesüßter Backwaren, dazu vier Flaschen Champagner pro Kopf. Dann geht man zum Kaffee über, begleitet von einer ganzen Flasche Cognac, Kirsch oder Rum.« (Alfred Delvau: Les plaisirs de Paris, 1867, 126f., zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 85). Allein bei der Vorstellung, diese Unmengen auf einen Sitz verschlingen zu müssen, denn von Genießen kann man bei diesem Überangebot wohl nicht sprechen, wird einem übel. Diese Passage könnte auch einem der Romane des Marquis de Sade entnommen sein, einer der Folterszenen, mit der die armen Opfer zu Tode gequält werden. Aber das ist unsere heutige Sicht, manche Menschen des 19. Jahrhunderts empfanden nichts dabei, auf einmal hundert Austern zu verspeisen (Aron 1993, 137) oder, kaum daß sie zwölf Dutzend Austern verputzt hatten, noch einmal soviel nachbestellten (Aron 1993, 195) und dann erst das nachfolgende Diner beginnen ließen. Was diese Vielfraße dazu brachte, solche Mengen zu essen, war der Wunsch nach einer nicht endenwollenden Geschmacksorgie.
Darin unterschieden sie sich von den heutigen Wettessern, die für ein Preisgeld bei einem ›Hot Dog Eating Contest‹ innerhalb von zehn Minuten die größte Zahl an Brötchen mit heißer Wurst zu verdrücken. Ließen sich die Gourmets und Gourmands der Pariser Bourgeoisie noch einzig und allein vom allerdings übermäßigen Genuß der köstlich zubereiteten Speisen leiten, so schert es die Heiße Wurst-Verschlinger nicht mehr, wie diese schmecken, da es nur darauf ankommt, ein Höchstmaß an Quantität zu erreichen innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums. Effizienz steht im Vordergrund ihres Schauessen vor Publikum, nicht das Schwelgen in vielen, von Meisterköchen zubereiteten Köstlichkeiten. Ein ›competitive eater‹ tritt an, der zuvor ein langes Training absolviert haben muß, um sich überhaupt Chancen für den Titelgewinn ausrechnen zu dürfen. Dem momentanen Titelträger Joey Chestnut aus den USA hat man den Spitznamen ›Jaws‹ beigegeben, was nicht nur an den Weißen Hai (der berühmte Film aus dem Jahre 1975 hieß im Original ›Jaws‹) erinnert, sondern eben auch darauf hinweist, wie wichtig ein großes Maul, ein kräftiger Kiefer, ein aufnahmefähiger Rachen ist. Dazu wird ein Übungsgerät für den Mund eingesetzt, das dabei helfen soll, die Kaumuskulatur zu straffen. Auch wird der erfolgsorientierte ›competitive eater‹ vor dem Wettbewerb täglich Gewichtheben mit dem Kiefer üben. 2018 brach Joey Chestnut den Weltrekord mit vierundsiebzig Hotdogs, dieses Jahr gewann er, indem er innerhalb von zehn Minuten zweiundsechzig Hotdogs hinunterstopfte. Wenn auf dem Tisch zuviel heruntergefallene Brösel und Wurstreste von den Preisrichtern registriert werden, gibt es Punkteabzug. Sauberkeit wird hier großgeschrieben, es soll zwar so schnell wie möglich eine möglichst hohe Zahl von Hotdogs verspeist werden, aber Unordnung auf der Tafel verstößt gegen die puritanischen Tischsitten. Wie man sich vorstellen kann, ist das Ganze eine sehr ungesunde Angelegenheit, doch die Wahrscheinlichkeit, an verdorbenem Magen zu sterben, ist viel geringer als die Tatsache, daß die meisten Todesfälle beim ›competitive eating‹ durch Ersticken erfolgt sind. Was dem Vielesser seine Austern waren, »die besten Truppen, die Sie vorschicken können, um die gastronomische Schlacht in Gang zu bringen« (Horace Raisson: Code gourmand, Paris 1827, 88; zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 345), das sind heute die Hotdogs als mundgerechte Waffen, mit denen man sich gegen die Kontrahenten durchsetzt. Aber Achtung! Wir sind alle längst zu solchen Wettsportessern geworden. Der Besuch in einem Fast Food-›Restaurant‹ bedeutet, sich auf einen schnellen Eintritt, einen schnellen Verzehr und einen schnellen Abgang einzustellen. (Vgl. George Ritzer: The McDonaldization of Society, Newbury Park, Calif. 1993; dt. Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997). Und so sind wir genauso vulgär geworden wie der Schriftsteller und Milliadär Raymond Roussel, der um 1920 von zwölf Uhr mittags bis fünf Uhr morgens sechzehn Gerichte auf einmal verzehrte. (Vgl. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 355). Oder sind wir alle Exzentriker geworden?