Im Bezirk der unanständigen Welt-Literatur sind in den letzten hundertundfünfzig Jahren nur Werke angeklagt worden, die zur Zeit der Anklage noch nicht klassisch waren. Platon ist mutiger gewesen; er warf dem klassischen Homer die pornographischen Zeus-Hera-Stellen vor. In unsern Zeiten aber ist man zu gebildet, um Ovid, Apulejus, Petronius, Shakespeare, Rabelais vor Gericht zu ziehn. […] Die Zoll-Behörde, die in Amerika zensiert, hat in ihren Regulationen auch ein Ausnahme-Recht für die »sogenannten Klassiker«. (Ludwig Marcuse: Obszön. Die Geschichte einer Entrüstung, 1962)
Die Schulbehörde in Hillsborough County im US-Bundesstaat Florida hat entschieden, daß Schüler nur noch Auszüge aus Shakespeares Werken im Unterricht zu lesen bekommen. Dies begründet sie erstens damit, daß die Schüler viele Werke kennen müßten, und deshalb sei es einfacher, Auszüge zu lesen als mehrere ganze Bücher. Zweitens bezieht sich die Schulbehörde darauf, daß es in Florida ein Gesetz gibt, wonach Themen wie Homo- oder Transsexualität im Schulunterricht nicht behandelt werden dürfen. »Es ist etwas Obszönes in Shakespeare« zitiert die ›Tampa Bay Times‹ einen Lehrer. Die Schulbehörde legt Wert auf die Tatsache, daß selbstverständlich alle Werke Shakespeares den Schülern zur Ausleihe in den Schulbüchereien weiterhin zur Verfügung stehen.
Ein Traum wird wahr. Welcher Schüler hatte schon jemals einen Überblick über die obszöne Literatur? (Wenn er oder sie nicht ohnehin die frei zugängliche reale Pornographie kostenlos im Internet konsumieren wollte, statt sich mit zu vielem Lesen die Augen zu verderben.) Dank der Schulbehörde in Hillsborough County bekommen alle Schüler nun wertvolle Hinweise auf die Literatur, die es in sich hat, und man kann nach der Ausleihe sich auf die Suche nach den ›Stellen‹ begeben, die die Weltliteratur bereithält. Alle amerikanischen Schulbehörden sollten es sich zur Aufgabe machen, sämtliche Texte der Weltliteratur auf obszöne Stellen zu durchforschen und dann den Schülern als Leselisten aushändigen. Bibliothekare, macht euch auf einen gewaltigen Ansturm gefaßt!