Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Kurt Felix meets Walter Ulbricht
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. (Walter Ulbricht, 15. Juni 1961)
Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …
Kurt Felix: Stop! Halt! Nicht weitersprechen! So geht’s aber nicht. Alles zurück! Sie können hier nicht Ihre uralten Sprüche aufwärmen. Das soll hier eine richtige Unterhaltung werden.
Walter Ulbricht: Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht …
Kurt Felix: Halt! Aufhören! Himmel, Arsch und Zwirn, hüt glingt mer au gar nüt! Verehrter Herr Ulbricht, bitte sprechen Sie mich doch direkt an und vergessen Sie für einen Moment Ihre historischen Augenblicke.
Walter Ulbricht: Wenn ich durch die Straßen gehe und etwas Neues, Schönes sehe, weis‘ ich stolz darauf: Das hat mein Freund getan! Mein Freund, der Plan!
Kurt Felix: Du liebe Zeit! Sitzt mir hier eine vorprogrammierte Sprechmaschine gegenüber oder handelt es sich wirklich um den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden?
Walter Ulbricht: Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben, ja?
Kurt Felix: Lieber Herr Ulbricht, bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Sie sind hier im Elysium, Sie brauchen Ihre früheren Funktionen im Leben hier nicht mehr zu aktivieren und können sich ganz entspannt mit mir unterhalten, über alles Mögliche. Haben Sie nicht irgendein Hobby gehabt? Das wäre ein schöner Gesprächseinstieg.
Walter Ulbricht: Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht. (Wendet sich um und sucht vergebens nach Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes, die ihm eine Geheimakte zustecken könnten. Zuckt mit den Achseln.) Je nun, wenn ich Sie bitten darf, sich vorzustellen.
Kurt Felix: Ich bin ein ehemaliger Schweizer Fernsehmoderator, ich heiße Kurt Felix, bin 1941 geboren und 2012 gestorben. Mit der zwischen 1980 und 1990 ausgestrahlten Sendung ›Verstehen Sie Spaß?‹ hatte ich meinen größten Erfolg. Das war eine Unterhaltungssendung, bei der berühmten und unbekannten Personen mit einer versteckten Kamera kleine Streiche gespielt wurden. Die Anregung für diese Sendung erhielt ich aus Amerika, wo seit 1947 die Sendung ›Candid Camera‹ lief. Man brachte die ›Opfer‹ in unerwartete Situationen und der Spaß bestand darin, zu beobachten, wie die darin hineinverwickelten Personen darauf reagiert haben. Sie waren nach der Aufdeckung der gestellten Szene dann wohl oder übel gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Walter Ulbricht: Ja, das erinnert mich an den 8. Februar 1950, als bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik das Ministerium für Staatssicherheit gegründet wurde. Es folgte dann gleich der Aufbau eines flächendeckenden Überwachungsapparates. Wir hatten hauptamtliche Mitarbeiter, aber auch inoffizielle Mitarbeiter. Diese lasen die Post der verdächtigen Personen, hörten ihre Telefone ab und verschafften sich auch bei Bedarf Zutritt zu den Wohnungen der Beobachtungsobjekte, ja?
Kurt Felix: Ich hatte Sie nach einem Hobby gefragt. Die Aushorchung der gesamten Bevölkerung der DDR gehört nicht dazu oder wollen Sie damit sagen, daß das Ihre schönste Freizeitbeschäftigung war, das heimliche Bespitzeln Ihrer Untertanen?
Walter Ulbricht: Jedermann an jedem Ort jede Woche einmal Sport. Diesen Satz habe ich erfunden und in der DDR propagiert. Ich war ein leidenschaftlicher Turner. Gleich nach dem Aufstehen habe ich für zehn Minuten Gymnastik getrieben. Meine spätere zweite Ehefrau Lotte habe ich beim Schlittschuhlaufen kennengelernt. Wir waren ein gutes Gespann. Wir haben ausgedehnte Spaziergänge und Wanderungen unternommen. Ich bin geschwommen, habe gerudert, Tennis gespielt, bin Ski gefahren. Ich war der Vorturner der DDR, ja?
Kurt Felix: Interessant, wir kommen dem Privatmann Walter Ulbricht doch schon etwas näher. Ich habe gelesen, daß Sie trotz dieser vielen sportlichen Betätigungen dennoch ständig eine Art von Leibarzt dabeihatten.
Walter Ulbricht: Je nun, man muß immer auf der Wacht sein, auch wenn man auf sich selbst aufpaßt. Als führende Person des Staates war es meine Pflicht, einem Ausfall meiner Person vorzubeugen. Das war im Prinzip nichts anderes als die durch die Staatssicherheit durchgeführten Kontrollmaßnahmen gegenüber unserem Volk. Dowerjai, no prowerjai. Vertraue, aber prüfe nach, wie der Genosse Lenin einmal gesagt hat.
Kurt Felix: Als Sie am 1. August 1973 gestorben sind, standen schon lange vor Beginn des offiziellen Staatsaktes kilometerlange Schlangen vor dem Gebäude des Staatsrates. Nach den Berichten über diesen Tag, waren das keineswegs nur abkommandierte Parteimitglieder der SED, sondern erstaunlich viele Bürger der DDR, die Ihnen die letzte Ehre erweisen wollten. Dann wurden Sie also geliebt von Ihrem Volk?
Walter Ulbricht: Ich war nicht beliebt und schon gar nicht geliebt, weil ich mit meiner verschlossenen Art und meinen bescheidenen rhetorischen Möglichkeiten die Massen eigentlich nicht erreicht habe. Aber das hat mich auch nicht gekümmert und die ideologischen Maßnahmen, die meine Partei unternommen hat, mich persönlich aufzuwerten, waren unverzichtbare Maßnahmen zur Etablierung einer Gefolgschaft. Ich bin 1 Meter 65 groß und habe durch ein frühes Kehlkopfleiden eine Fistelstimme bekommen, die durch meinen sächsischen Tonfall noch in ihrer Wirkung verstärkt wurde, ja? Zu runden Geburtstagen wurde ein Personenkult mit mir getrieben, dem ich zugestimmt habe, denn man weiß ja, daß die Massen der Führer bedürfen und daß es besonders wichtig ist, daß diese Massen ihre Führer verehren und lieben, ja? Der Genosse Honecker hat das 1961 in der Formel zusammengefaßt: »Ulbricht wird siegen. Und Ulbricht, das sind wir alle.«
Kurt Felix: In einer der zahlreichen Biographien, die über Sie geschrieben wurden, heißt es: »Er war kalt, abweisend, unbeliebt, verbissen, heimtückisch, selbstherrlich, linkisch, unbeholfen, verkrampft, angestrengt, skrupellos, nachtragend, herrisch und diktatorisch.« Das ist nicht gerade ein netter Nachruf.
Walter Ulbricht: Feindpropaganda muß so sein, nur wenn man den Feind diffamiert und dies immer wieder macht, wirkt es auf das Bewußtsein der Massen. Die wollen sich nicht mit Theorien aus der Arbeiterbewegung beschäftigen, die haben täglich ihre kleinen Sorgen und ihre kleinen Familien, das füllt sie vollkommen aus. Deshalb ist Feindpropaganda so wichtig und deshalb haben die Medien in der BRD auch ständig mich zu diskreditieren versucht und mir diese Eigenschaften zugeschrieben, die Sie eben aufgezählt haben.
Kurt Felix: Als gute Eigenschaften werden ihnen rasche Auffassungsgabe, enormer Fleiß, Neugier und ein hervorragendes Gedächtnis attestiert. Das fabelhafte Personengedächtnis soll ihnen allerdings auch dazu gedient haben, Rache zu nehmen an den Personen, die Ihnen einmal dumm gekommen waren. Die haben Sie dann, wenn die Gelegenheit sich ergab, bestraft. Es wird Ihnen ein untrüglicher Machtinstinkt nachgesagt, der alle äußerlichen Mängel und ihr bei öffentlichen Auftritten eher unbeholfenes Agieren kompensierte.
Walter Ulbricht: Ich habe alle meine Talente stets in den Dienst des Sozialismus gestellt. Als ich versuchte, die DDR zu einem besseren Staat zu machen als es die Sowjetunion jemals gewesen ist, da fiel mir die russische Partei- und Staatsführung in den Rücken und der ständig intrigierende Genosse Erich Honecker hat mich dann mithilfe der russischen Brüder gestürzt.
Kurt Felix: Das muß Sie geschmerzt haben, denn wenn ich es richtig sehe, haben Sie in Ihrem Leben immer nur die aktive Politik als Ihren Lebenssinn empfunden. Auf einmal standen Sie vor dem Nichts.
Walter Ulbricht: Man muß das dialektisch sehen. Das war die List der Geschichte und die List der Gewalt. Dieser Listen habe ich mich bedient, aber es kommt der Zeitpunkt im Leben, wo diese List sich gegen einen wendet. Das muß man akzeptieren, weil es ein objektiver Faktor ist und dennoch ist es natürlich persönlich ein schwerer Schlag ins Kontor, ja?
Kurt Felix: Ich weiß noch, wie ich an Krebs erkrankt bin und alle meine Fernsehaktivitäten aufgeben mußte, um wieder gesund zu werden. Und dann half alles nichts und ich bin dann doch bald an Krebs gestorben.
Walter Ulbricht: Haben Sie denn vor Gericht eine Verurteilung erreichen können gegen die Personen, die Sie mit versteckter Kamera aufgenommen haben?
Kurt Felix: Du liebe Güte! Nein, natürlich nicht, es ging doch gar nicht darum, den heimlich Gefilmten eine Straftat nachweisen zu wollen. Das war doch bloß ein harmloser Spaß. Das war pure Unterhaltung.
Walter Ulbricht: Das verstehe ich nicht. Wie können Sie Ihre kostbare Zeit damit verschwenden, irgendwelche Personen zu filmen, wenn Sie das nicht mit einem Auftrag tun, dessen Ziel es ist, den Personen etwas nachzuweisen, ja?
Kurt Felix: Sie müssen Sich von dieser Verfolgermentalität verabschieden. Es gibt im Leben Dinge, die man ganz zwecklos tut, oder wenigstens nur mit dem bescheidenen Zweck, die Menschen an den Fernsehgeräten gut zu unterhalten, auch wenn man dabei an die Schadenfreude der Zuschauer appelliert.
Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …
Kurt Felix: Fangen Sie schon wieder damit an?
Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht, aus Spaßvergnügen fremde Personen zu beobachten. Damit ist immer eine Absicht, ein gesellschaftlicher Auftrag verbunden. Und dieser dient der Sicherheit des Staates.
Kurt Felix: Ja, eine Erkenntnis haben Sie mir heute vermittelt: Die Menschen ändern sich nicht, selbst nach ihrem Tod.