Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Udo Walz meets Margot Honecker
»Mein Herr« sagte der ganz feine Friseur langsam und pointiert, teils schmerzlich und teils ironisch, »Sie haben gewiß immer nur bei Barbieren arbeiten lassen. Aber noch bei keinem Künstler.« Durch ein vieldeutiges Gemurmel gab ich zu, daß mir in der Tat eine Künstlerpersönlichkeit seinesgleichen bisher noch nicht begegnet war. Er lächelte, wie man ein Kind anlächelt. »Mein Herr« sagte er, »um Ihren individuellen Typ völlig sicher zu kennen, dazu muß ich erst lange, vielleicht Monate lang Ihre Morphologie studiert haben. Indessen glaube ich schon einen Weg zu Ihrem Typ dämmern zu sehn. Denn Sie haben einen Typ, mein Herr. Ja, Sie sind eine Type.« (Theodor Lessing: Beim ganz feinen Friseur, 1923)
Udo Walz: So, dann wollen wir mal. Was haben Sie sich denn so gedacht, irgendeine neue Fasson, eine andere Farbe? Was kriegen wir denn?
Margot Honecker: Was sich bewährt hat, soll bleiben. Keine neue Frisur und verschonen Sie mich mit neuen Haartönungen. Lila war es, Lila soll es bleiben. Leider ergrauten meine Haare schon früh, als ich Mitte Vierzig war. Im Haus des Zentralkomitees gab es einen Friseursalon, da arbeitete meine Friseurin Martina, und sie entschied über die fliederfarbene Tönung und den bewährten Kurzhaarschnitt, den ich jederzeit mit meinen zehn Fingern durchkämmen kann.
Udo Walz: Wissen Sie, ich habe Marlene Dietrich, Romy Schneider, Hildegard Knef, Inge Meysel und Elizabeth II. die Haare gemacht, Sophia Loren, Barbra Streisand, Faye Dunaway, Gena Rowlands, Demi Moore, Gwyneth Paltrow, Andie McDowell, Eva Longoria, Carla Bruni, Claudia Schiffer. Aber auch die Männer habe ich schön gemacht. Ich erspare Ihnen eine Aufzählung der Namen. Die treuen Kundinnen und Kunden, die keinen besonderen Namen tragen, sind aber meine eigentlichen ›Stars‹. Sie sind es, die meinen Erfolg ausgemacht haben. Für sie stand ich jeden Tag gern in meinem Geschäft. Sehr klassisch und immer mit viel Volumen ist die typische Walz-Frisur. Aber ganz wie Sie wünschen, Frau Honecker. Sie müssen zwar zu keiner offiziellen Veranstaltung mehr gehen, aber man freut sich selbst doch auch über einen neuen Look. Mit dieser violetten Tönung sehen Sie auf die Dauer vielleicht ein wenig langweilig aus.
Margot Honecker: Ich sehe langweilig aus? Das will ich nicht gehört haben, Herr Walz. Ich sehe beständig aus, so wie ich all die Jahre in der DDR darauf geachtet habe, daß die Errungenschaften des Sozialismus stabil und beständig blieben.
Udo Walz: Da ist Ihnen dann leider der Fall der Mauer dazwischengekommen.
Margot Honecker: Sie meinen den antifaschistischen Schutzwall, den wir damals zu bauen gezwungen waren, weil immer mehr unserer besten Arbeitskräfte unser Land verließen, weil sie den Schalmeienklängen des westdeutschen Imperialismus verfallen waren. Und kommen Sie mir bloß nicht mit den ›Toten an der Mauer‹. Die an dem Schutzwall getöteten ›Flüchtlinge‹ brauchten ja nicht über die Mauer zu klettern, um diese Dummheit mit dem Leben zu bezahlen. Die Grenztruppen der Nationalen Volksarmee taten ihre Pflicht an einer Grenze, die die Trennlinie zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt war und keine innerdeutsche Grenze, wie immer behauptet wird. Kein Gericht konnte den Nachweis führen, daß es einen ›Schießbefehl‹ gab. Es gab auf beiden Seiten, sowohl der DDR wie der BRD, wie überall üblich, eine Schußwaffengebrauchsordnung,
Udo Walz: Herrgott, ich bin doch nur ein einfacher Figaro und will mich hier mit Ihnen nicht über Politik streiten. Huch, aus Ihrer Handtasche ragt ja eine Pistole heraus!
Margot Honecker (wiegt die Waffe in der rechten Hand): Ja, das ist eine Browning. Den habe ich immer bei mir. Wenn ich in der DDR unterwegs war, war das mein ständiger Begleiter. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Udo Walz: Wollen Sie damit sagen, daß die Werktätigen auf Sie ein Attentat geplant haben?
Margot Honecker: Das nicht, um die Arbeiterklasse mußte man sich keine Sorgen machen, aber die anderen Elemente, die Zwischenelemente, die kleinbürgerlichen Klassen, da mußte man genau hinsehen, ob da nicht einer ausscherte und mit individualanarchistischem Terror unsere Republik kaputtbomben wollte.
Udo Walz: Bitte stecken Sie doch dieses Ding weg, ich kriege gleich einen Herzinfarkt! Also so was, man glaubt es nicht. Sie haben hier doch nichts zu befürchten. Andererseits: wir sind ja beide schon tot, mehr als tot kann man nicht sein, aber auch im Nachleben will man nicht mit einem Revolver bedroht werden.
Margot Honecker: Alte Gewohnheit. Man kann nie wissen. Nur nicht sich eine Blöße geben. Wenn Erich damals genügend Härte gezeigt hätte, gäbe es die DDR immer noch. Er ist auf seine alten Tage weich geworden. Ich mache es mir immer noch zum Vorwurf, daß ich damals nicht die Zügel in die Hand genommen habe. Man hätte kämpfen müssen, unter Umständen auch unter Anwendung von Gewalt. Wir haben es nicht vermocht, dem Gegner hinreichend Widerstand entgegenzusetzen. Es ist eine Tragik, daß es dieses Land nicht mehr gibt. An die Stelle von menschlichen Beziehungen hat sich jetzt das Monster Geld gesetzt.
Udo Walz (bekommt einen Hustenanfall und versucht, durch ihn hindurchdringend zu sprechen): Wollen wir dann zum Waschbecken gehen?
Margot Honecker: Wissen Sie, was ich am meisten vermisse? Den Wald und den Geruch von Pilzen.
Udo Walz: Gehen Sie doch hier im Elysium mal in den Wald, wir haben hier viel Wald und sicher auch viele Pilze. Es ist allerdings kein Paralleluniversum. So, bitte einmal den Kopf nach hinten ins Waschbecken legen.
Margot Honecker (nachdem die Waschprozedur beendet ist): Ich hätte meinem Mann das Ruder aus der Hand nehmen sollen, ich hätte es müssen. Erich war immer zu gutmütig, ich habe mich darüber geärgert, daß er manchmal zu vertrauensselig war. Das war einer der Punkte, über die wir uns oft gestritten haben: die Beurteilung von Menschen. Es gab in der SED Genossen, die den Kommunismus auf der Parteihochschule gelernt hatten, das waren ›die Angelernten‹, die hatten nicht wie Erich und ich den Kommunismus durch die eigene schmerzhafte Lebensgeschichte kennengelernt.
Udo Walz: Haben Sie Erich Honecker nicht aus purem Machtkalkül geheiratet? Er war Chef der FDJ, Politbüromitglied, Sie haben sich gedacht: Er wird mal höher steigen, mit ihm werde ich ganz nach oben kommen. Sie waren eine kluge Frau, die sich mit einem bornierten Mann eingelassen hat, um selbst an Machtpositionen heranzukommen. Beschäftigt Sie eigentlich nur die Vergangenheit oder nehmen Sie jetzt, wo Sie von allem Drangsal des Alltäglichen für immer befreit sind, noch etwas Anderes, Neues wahr?
Margot Honecker: Was Sie unverschämter Weise über meine Gründe, Erich Honecker zu heiraten sagen, will ich unkommentiert lassen. Was Sie über mein Verhältnis zur DDR-Vergangenheit gesagt haben, möchte ich als einen kleinbürgerlichen Standpunkt bezeichnen. Die DDR war mein Leben und der Sieg des Sozialismus ist ein den Einzelmenschen übergreifendes Thema. Alles andere verblaßt dagegen.
Udo Walz: Ich bin sehr darüber erfreut, wie Sie sich mir gegenüber öffnen. Kaum jemand kommt einem Menschen so nah wie ein Friseur. Man sagt ja, daß ein guter Friseurbesuch die Psychoanalyse ersetzt. So, dann mal los. Dann werde ich mal mit dem Schneiden beginnen.
Margot Honecker: Schneiden Sie mir bloß keine Frisur, die wie die von der Dame Merkel aussieht! Eine Topffrisur! Fürchterlich, man darf gar nicht hingucken. Aber so sehen diese spätbürgerlichen Damen der Bourgeoisie aus, wie Marionetten des Kapitals.
Udo Walz: Nun beleidigen Sie aber nicht eine meiner besten und treuesten Kundinnen. Im übrigen war der Schnitt bei der Kanzlerin gar nicht anders machbar, das lag an ihrer Haarstruktur, da mußte ich so vorgehen. 2004 habe ich übrigens einmal überschlagen, wie viele Köpfe ich bereits frisiert hatte: Weit über 200. 000! Und da hatte ich noch sechzehn Jahre vor mir, also rechnen Sie mit, wieviele Köpfe das insgesamt gewesen sind.
Margot Honecker: Ach, wenn ich an die Zeiten in der DDR zurückdenke, wie ich damals morgens mich ins Ministerium habe fahren lassen und dann spätabends zurück, an Wochenenden im ungeliebten Wandlitz inmitten der langsam vergreisenden Politbüromitglieder, wo keiner mit keinem sprach. Diese Abgeschiedenheit. Aber wenn die Abschlußbälle des Parteitags herannahten, da gab es für mich kein Halten mehr, da habe ich den ganzen Abend getanzt. Das Tanzen war meine Leidenschaft, ich konnte keinen Tanz auslassen.
Udo Walz: Das ist schön. Man sagt über Sie auch, daß Sie während Ihrer Ehe mit Erich Honecker des öfteren kleine Flirts hatten. Gab es auch richtige Affären?
Margot Honecker: Ach, da wurde nach dem Ende der DDR viel darüber geschrieben, das waren ja erfundene Geschichten. Aber ja, meine Verbindung mit Erich hatte sich im Laufe der Zeit verändert. Denken Sie auch an den Altersunterschied, immerhin fünfzehn Jahre. Unser Verhältnis wurde freundschaftlich-kameradschaftlich, er sagte zu mir immer »Mein Mädchen«.
Udo Walz: Ich kenne einen Witz, der über Sie als ›Genossin Minister‹, als Bildungsministerin in der DDR, erzählt wurde. »Worin besteht der Unterschied zwischen Margot Honecker und dem alten Fritz? Der alte Fritz hat Krüppel zu Lehrern gemacht«.
Margot Honecker: Der Lehrplan war Gesetz. Daran habe ich mich orientiert und dafür gesorgt, daß Inspektoren ohne Vorankündigung in eine Unterrichtsstunde marschiert sind und dem Lehrer gesagt haben: Heute ist die 18. Unterrichtswoche, du müßtest mit deiner Klasse so und so weit sein und heute ist das und das dran. Diese, wenn Sie so wollen, ›Uniformierung‹ des Unterrichts hat nicht allen Lehrern gepaßt. Aber der Lehrplan ist Gesetz, da kann man nicht so einfach darüber hinweggehen. Finnland hat wesentliche Teile des DDR-Bildungssystems übernommen, und nun sehen Sie sich an, wo Finnland heute im internationalen Vergleich steht: ganz oben.
Udo Walz: Unter Ihrer Führung gab es aber auch ideologische Härte gegenüber den Ihnen Untergebenen, und eine bigotte Haltung zudem. Einem Schüler wurde durch vier Streifenpolizisten das Emblem von Levis von dessen Jacke abgerissen, obwohl es diese Marke in DDR-Geschäften zu kaufen gab. Hingegen haben Sie, immer auf ein elegantes, modisches Äußeres bedacht, sich Ihre Kostüme, Röcke und Blusen gelegentlich aus Westdeutschland beschaffen lassen. Damit das aber nicht auffiel und weil Sie Westprodukte schätzten, haben Sie dann zum Beispiel von einem Bleyle-Pullover das Schildchen entfernen und ein österreichisches Etikett einnähen lassen. Und Sie haben sich Westzigaretten beschaffen lassen.
Margot Honecker: Ja, die ›HB‹, die schmeckte einfach besser als unsere Eigenproduktion. Aber was wurden mir nach 1989 nicht alles für Spinnereien vorgeworfen. Ich hätte ein aufwendiges Leben geführt, von wegen! Als ich einmal auf einem Fest eingeladen war, gab es Pflaumenkuchen, aber der war nicht einmal ganz durch.
Udo Walz: Das ist aber eine recht seltsame Argumentation. Naja, auf jeden Fall bin ich jetzt fertig mit Ihnen. Schauen Sie sich das Ergebnis mal im Rückspiegel an. (Hält einen Handspiegel hinter ihren Kopf.)
Margot Honecker: Ja, nicht schlecht. Dann kann ich mich wieder reinmischen in die menschliche Zivilisation.
Udo Walz: Früher habe ich mir immer vorgestellt, daß ich im Rentenalter mich ins Hotel Reid’s in Funchal auf Madeira einweisen lasse. Da fahren sie die alten Herrschaften auf ihren Liegen im Garten herum. Dann bin ich aber 2020 an Diabetes gestorben, mit 76 Jahren. Wenn man mich früher gefragt hat: »Who wants to live forever?« Dann habe ich immer gesagt: Ich! Es hat nicht geklappt, deshalb: Willkommen im Elysium!