Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Friedrich Engels meets Carl Zuckmayer
In Stuttgart ließ man Schulkinder durch die Stadt marschieren, die Spruchbänder trugen: ›Eltern, bewahret Eure Reinheit, geht nicht in den Fröhlichen Weinberg!‹ (Sie gingen.)
(Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, 1966, 484)
Carl Zuckmayer (durchquert mit einem großen Tablett den Raum seines Restaurants ›Zum Fröhlichen Weinberg‹, hält vor einem der Tische, und setzt es dann ab): So, bitte sehr, hier kommt ein grüner Salat und ein Irish Stew, Ihre Lieblingsspeisen. Und dazu eine Flasche 1921er Nackenheimer, das ist der Wein, den ich während der Premiere meines Lustspiels ›Der fröhliche Weinberg‹ hinter den Kulissen getrunken habe. Ich konnte Alkohol immer vertragen, ich bin ihm treu geblieben. Der berühmte Jahrgang 1921 war einer der größten Jahrgänge, ein heißer Sommer führte zu vollreifen Trauben und durch den schönen Herbst konnten die Trauben unbeschadet in die Keller gebracht werden.
Friedrich Engels: Das ist aber aufmerksam von Ihnen, Herr Zuckmayer! Es stimmt, Salat und Irish Stew esse ich für mein Leben gern. Meine Auffassung vom Glück fällt aber noch einfacher aus, ich sage nur: Château Margaux 1848. Da könnten wir uns auf allerhöchstem Niveau einen schönen Rausch antrinken. Ich erinnere mich an die Silvesternacht 1888/89. Als das neue Jahr anbrach, war die Luft so dick wie Erbsensuppe. Keine Aussicht fortzukommen; unser Droschkenkutscher, für ein Uhr bestellt, kam nicht, und so mußte die ganze Gesellschaft bleiben, wo sie war. Also fuhren wir fort mit Trinken, Singen, Kartenspielen und Lachen bis halb sechs. Draußen klarte es etwas auf; es war nach sieben Uhr, als wir schlafen gingen und ungefähr um 12 oder 1 standen wir wieder auf, um zum Pilsner zurückzukehren. Die Sonne schien klar auf einen prachtvoll gefrorenen Boden. Der fidele Abend sagte uns allen außerordentlich zu, und niemandem von uns war das Gelage schlecht bekommen. Die anderen tranken ungefähr um halb fünf Kaffee, aber ich blieb bis um sieben beim Rotwein. Silvester 1890/91 haben wir dann bis halb vier Uhr morgens gekneipt und vertilgten, den Rotwein nicht gerechnet, 16 Flaschen Schaumwein. Das Jahr darauf mußte ich mir dann aber eingestehen, daß der gute Wein und leider auch das Pilsener Bier die Herznerven etwas in Unordnung brachte. Les jours se suivent et ne se ressemblent pas, und so geht’s mit den Weinjahren.
Carl Zuckmayer: Ich bin ja am 27. Dezember 1896 in Nackenheim am Rhein geboren, und 1896/97 war der Rhein zugefroren, so fest, daß zu Silvester bei Fackelschein auf dem vereisten Fluß getanzt wurde. Mein Vater hatte übrigens in Nackenheim eine kleine Fabrik für Weinflaschenkapseln. À propos Château Margaux 1848! Dieser Jahrgang hat tatsächlich immer noch eine unvergleichliche Frische. Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, eine Flasche Château Margaux 1848 zu ergattern, es hat mich zwar mehr als ein kleines Vermögen gekostet, aber was soll’s! Heute bekommt man den schon nicht mehr, man muß stattdessen mit einem 1870er vorlieb nehmen, der kostet im Moment pro Flasche 8.316 €, hingegen schlägt der 1884er Jahrgang mit stolzen 13.643 € zu Buche. Erstaunlicherweise bekommt man einen Château Margaux aus dem Jahr 1890 für nicht mehr als 1.652 €.
Friedrich Engels: La belle France! Und welcher Wein! Welche Verschiedenheit, vom Bordeaux bis zum Burgunder, vom Burgunder zum schweren St. Georges, Lünel und Frontignan des Südens, und von diesem zum sprudelnden Champagner! Welche Mannigfaltigkeit des Weißen und des Roten, vom Petit Mâcon oder Chablis zum Chambertin, zum Château Larose, zum Sauterne, zum Roussilloner, zum Ai Mousseux! Und wenn man bedenkt, daß jeder dieser Weine einen verschiedenen Rausch macht, daß man mit wenig Flaschen alle Zwischenstufen von der Musardschen Quadrille bis zur ›Marseillaise‹, von der tollen Lust des Cancans bis zur wilden Glut des Revolutionsfiebers durchmachen und sich schließlich mit einer Flasche Champagner wieder in die heiterste Karnevalslaune von der Welt versetzen kann! An dem langen Abhang, der nach Auxerre hinunterführt, sah ich die ersten Burgunder Reben, zum großen Teil noch belastet mit der unerhört reichen Traubenernte des Jahres 1848. An manchen Stöcken sah man fast gar keine Blätter vor lauter Trauben. Auxerre war belebt, wie es nur einmal im Jahre belebt ist. Hier war nicht ein Lokal, hier war die ganze Stadt rot dekoriert. Und welches Rot! Das unzweifelhafteste, unverhüllteste Blutrot färbte die Mauern und Treppen der Häuser, die Blusen und Hemden der Menschen; dunkelrote Ströme füllten sogar die Rinnsteine und befleckten das Pflaster, und eine unheimlich schwärzliche, rotschäumende Flüssigkeit wurde von bärtigen, unheimlichen Männern in großen Zubern über die Straßen getragen. Die rote Republik schien mit allen ihren Gräueln zu herrschen, die Guillotine. Aber die rote Republik von Auxerre war sehr unschuldig, es war die rote Republik der burgundischen Weinlese, und die Blutsäufer, die das edelste Erzeugnis dieser roten Republik mit so großer Wollust verzehren, sind niemand anderes als die Herren honetten Republikaner selbst, die großen und kleinen Bourgeois von Paris. Wer nur in dieser roten Republik die Taschen voll Geld gehabt hätte! Die Lese von 1848 war so unendlich reich, daß nicht Fässer genug gefunden werden konnten, um all den Wein aufzunehmen. Und dabei von einer Qualität, besser als 1846er, ja vielleicht besser als 1834er! Ich habe selbst gesehn, wie ein Weinhändler in Auxerre mehrere Fässer 1847er, ganz guten Weins, auf die Straße auslaufen ließ, um nur Fassung zu bekommen für den neuen Wein.
Carl Zuckmayer: Wie bedauerlich, daß ich diese Zeit nicht miterleben konnte. Die Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Wasserscheide, da hätte sich so vieles auf so vielen Gebieten des Lebens entscheiden können, anders entscheiden können, aber die menschliche Dummheit und Feigheit und die große Angst vor dem Kommunismus hat alles das vorbereiten helfen, was dann in den beiden Weltkriegen zu Anfang des neuen Jahrhunderts kulminierte. Ein Trauerspiel, eine Welttragödie! Wissen Sie, wenn ich ehemalige Kriegsteilnehmer später wiedertraf, dann haben wir über den Krieg geschwiegen, denn man hatte da über etwas zu schweigen, das man besser wegsoff. Wir waren die verlorene, geschlagene Generation. Mut, Leidensbereitschaft, Heiterkeit, das habe ich in diesen Jahren gelernt. In meinen Lebenserinnerungen ›Als wär’s ein Stück von mir‹ habe ich Sie sogar einmal zitiert: »Die Schweiz zeigte damals den Emigranten von 1848/49 ihre rauhe Seite.« Und hinzugefügt: Neunzig Jahre später, anno 1938/39, war diese Seite nicht zarter geworden. (Greift in seine Jacke und holt zwei riesige schwarze Dannemann-Brasil-Zigarren heraus und bietet Engels eine davon an): Hier, die müssen wir jetzt aber entflammen, im Gedenken an die früheren Kampfjahre, die habe ich übrigens von Ilya Ehrenburg geschenkt bekommen. Lang, lang ist’s her.
Friedrich Engels (nimmt die Zigarre, läßt sich Feuer geben, zieht vorsichtig und stößt dann einen schönen Rauchkringel aus, dann nachsinnend…): Sie mußten aus Österreich fliehen, weil 1933 die NSDAP sich in Deutschland an die Macht geschlichen hatte und Österreich kurz vor der Besetzung durch die deutschen Faschisten stand. Nun ja, wechseln wir doch besser das Thema. Wir haben bisher nur vom Wein gesprochen, aber es gibt ein Getränk, das die politische Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert völlig umgekrempelt hat: der Schnaps. 1876 habe ich in einem längeren Artikel über die Herstellung von Schnaps dargelegt, wie die Kartoffel statt des bisher verwendeten Korns zur Basis der preußischen Schnapsproduktion wurde. Der Branntwein war neben dem Bier das Getränk des Proletariats. Das Infame des Kartoffelschnapses war das darin enthaltene sehr giftige Fuselöl. Die Besoffenheit, die früher das Drei- und Vierfache gekostet hatte, war jetzt auch den Unbemitteltsten tagtäglich zugänglich gemacht worden, seit der Mann für 15 Silbergroschen die ganze Woche lang im höchsten Tran bleiben konnte. Scharenweise Arm in Arm, die ganze Breite der Straße einnehmend, schwankten von 9 Uhr abends an die ›besoffenen Männer‹ unter disharmonischem Gejohle von Wirtshaus zu Wirtshaus. Der Charakter des Rausches hatte sich total verändert. Jede Lustbarkeit, die früher mit gemütlicher Anheiterung und nur selten mit Exzessen endigte, jede solche Lustbarkeit artete nun aus in ein wüstes Gelage und endigte mit unfehlbarer Keilerei. Der Branntwein blieb für die Arbeiterklasse ein Lebensbedürfnis in höherem Grade als zuvor. Aber nun kommt es: Von dem sauren dünnen Mosel- und Rheinwein schlechter Lagen, der mit Kartoffelzucker und Kartoffelsprit in Brauneberger und Niersteiner umgezaubert wird, von dem schlechten Rotwein bis zum Château Lafitte und Champagner, Portwein und Madeira ist kein Getränk, in dessen Zusammensetzung nicht preußisches Fuselöl hineingepantscht wurde.
Carl Zuckmayer: Nach dem Ersten Weltkrieg soffen wir den aus Kartoffelschalen gebrannten ›Monopolschnaps‹, den die staatlichen Destillerien verkauften, bis uns der Schädel rauchte. Aber was Sie am Beispiel des Kartoffelschnaps erzählt haben, das ist für das ganze 19. Jahrhundert symptomatisch gewesen: Lebenmittelverpanschung und in der Folge Vergiftung. Eine furchtbare Tatsache, von deren verheerenden Dimensionen man sich heute kaum noch eine Vorstellung macht. In Österreich hat man 1985 mit dem Frostschutzmittel Diethylenglycol den Wein vermanscht. Es wird a Wein sein, und mir wer’n nimmer sein. Unter diesem Vorzeichen bekam das Lied eine ganz andere Bedeutung. Der Wein als Mordinstrument, der Genuß von Wein als unbeabsichtigter Selbstmord.
Friedrich Engels: Aber um noch einmal auf den Wein als Genußmittel zu kommen! Der Wein wurde auch als Heilmittel angesehen. Zu meinen Lebzeiten haben die Ärzte noch regelmäßig Wein als Medizin verschrieben. Es galt die Regel: Bordeaux und Port für die Kranken, Rhein- und Moselweine für die Gesunden. Und so hat der Hausarzt von Marx ihm manchmal 3–4 Gläser Portwein, eine halbe Flasche Bordeaux täglich und das vierfache vom gewöhnlichen Essen verschrieben. Marx äußerte sich 1866 dazu in mehreren Briefen: »Da ich aus einer Weingegend, nämlich Trier, stamme und Ex-Weinbergbesitzer bin (mein Vater besaß einen kleinen Weinberg an der Mosel) weiß ich den Wert des Weins sehr wohl zu schätzen. Ich denke sogar selbst ein bißchen wie der alte Luther, daß ein Mann, der den Wein nicht liebt, niemals etwas Rechtes zustande bringt. (Keine Regel ohne Ausnahme.) Der Wein tut jetzt Wunderdinge an mir. Mehr als aller Medizin verdanke ich dem Bordeaux.« Marx hat sogar seiner Tochter Laura eine »Champagnerkur« verschrieben und dann entschieden, danach müsse sie nun ausschließlich Rotwein trinken. Das würde man heute unter ganz anderen medizinischen Voraussetzungen nicht mehr verordnen. Man hat ja sogar Kindern Alkohol als Medizin gegeben, in kleinen Dosen. Mehr noch als den Château Margaux von 1848 vermisse ich aber den Klassenkampf. Da will ich Ihnen schon reinen Wein einschenken. Den Klassenkampf vermisse ich schon sehr. Hier auf der ›Insel der Seligen‹ ist eine Stimmung wie in einer ewigen Schweiz. Sie wissen, ich bin kein Volksredner und kein Parlamentarier, meine Arbeit liegt auf einem anderen Feld, ich arbeite meist in der Studierstube und mit der Feder. Doch die Zeit um 1848, als ich mit Marx und den anderen Genossen mitten in den Kämpfen um die Revolution in Deutschland stand, das war eine aufregende Zeit, die für mich nicht wiederkommen wird. Und nun, wo ich tot bin, erst recht nicht. (Im Hintergrund hört man jetzt den Silvester-Countdown… Ten, Nine, Eight…): Nanu, sind heute am Silvesterabend nur Engländer in Ihrem Lokal?
Carl Zuckmayer: Oh nein, das sind alles US-Amerikaner, genauer gesagt: Komparsen aus Billy Wilders Film ›The Apartment‹, alle die Leute, die auf der Weihnachtsparty und in der Schlußszene mit Fred MacMurray und Shirley MacLaine in dem kleinen chinesischen Restaurant aufgetreten sind. Die kommen schon seit einigen Jahren zu mir. (Seven, Six, Five…)
Friedrich Engels: Na sowas, da kreuzen sich ja Film und Realität, wenn man denn das Elysium als Realität anerkennen will. Ich tue es, denn meine Weinbestände, einmal die in meinem wohlassortierten Weinkeller mit gleichmäßiger Temperatur und Raum für fast 100 Dutzend in 8 gemauerten Abteilungen, und die bei meinem Weinhändler Twigg & Brett eingelagerten Bestände. Beide mußte ich nach meinem Ableben zurücklassen, konnte sie aber dank meiner alten Handelsverbindungen hierher transferieren lassen: Unter anderem 77 Dutzend Flaschen Claret, 48 Dutzend Flaschen Portwein und 13 Dutzend Flaschen Champagner. Zu meinem siebzigsten Geburtstag hielten wir durch bis halb vier Uhr morgens und tranken außer Claret 16 Flaschen Champagner, am Morgen hatten wir 12 Dutzend Austern verzehrt. (Four, Three, Two…) Und hier ist eine von diesen Flaschen Champagner! (Engels zieht unter dem Tisch aus einem Kühlbehälter eine leicht eingestaubte Flasche Champagner hervor und nestelt geschickt am Verschluß… One… ›Happy New Year!‹ schallt es im Weinrestaurant, alles fällt sich in die Arme, Gläser klingen und auch Engels hat inzwischen seine Flasche ploppen lassen und gießt in zwei bereitgestellte Champagnergläser den edlen Saft und reicht Carl Zuckmayer eines). Auf ein gesundes neues Jahr, lieber Carl! Auf daß uns auch 2024 der Wein und der Champagner nicht ausgehen sollen! (Aus dem Hintergrund hört man ›Auld Lang Syne‹ … We’ll drink a cup of kindness yet / For the sake of auld lang syne.)