Am 12. Juni 1936 ist Karl Kraus im Alter von 62 Jahren gestorben.
Am 20. Juni 2019 ist Peter Matić im Alter von 82 Jahren gestorben.
Im Jahr 2003 las Peter Matić eine von mir eingerichtete zehnteilige Sendung (›Fackellichter‹) mit Texten (Glossen, Reden und Satiren) von Karl Kraus im Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks in Hannover. Bis heute hat sich kein Hörbuchverlag gefunden, diese Lesung in einer Box herauszubringen.
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 als Sohn eines Papierfabrikanten in einem kleinen böhmischen Dorf. Sein ganzes Leben verbrachte er als ökonomisch unabhängiger Schriftsteller in Wien. Die am 1. April 1899 von ihm gegründete Zeitschrift ›Die Fackel‹ erschien bis zu seinem Tode am 12. Juni 1936.
Worüber schrieb Karl Kraus?
Es war das Alltagsgerede in der Stadt Wien, die in den Zeitungen gedruckten Phrasen und Geschichten, Stimmen der Banalität und Trivialität, die er in der ›Fackel‹ abdruckte und polemisch und satirisch kommentierte. Er war kein Romancier und kein Erzähler, er war ein Schriftsteller im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Er stellte die Schrift, das Geschriebene und Gedruckte der Zeitungen, die öffentliche Meinung in eine satirische Perspektive. Das wörtliche Zitat diente ihm als Waffe. So wurde Karl Kraus zum satirischen Dokumentaristen und Protokollanten der menschlichen Dummheiten und Gemeinheiten.
Die ›Welt im Satz‹ war sein Lebensthema. Die gedruckte Welt der Worte in Gestalt der großen liberalen Zeitung Wiens, der ›Neuen Freien Presse‹. Ihren ›Ton‹ stellte er aus, und die Umkehrung der Reihenfolge von Ereignis und Bericht. Für Kraus war diese Zeitung (und andere Blätter) die gesellschaftliche Verkörperung einer Meinungsmacht, die Kriege ideologisch vorbereiten hilft, indem sie die Vorstellungskraft der Leser zerstört.
65 Millionen Soldaten wurden in den Ersten Weltkrieg geschickt, 8 Millionen wurden getötet. Zwischen 1914 und 1918 wurden täglich durchschnittlich 6000 Menschen getötet. 21 Millionen Soldaten wurden verwundet. Über 12 Millionen Zivilisten wurden getötet durch Massaker, Krankheiten, Hunger und Seuchen. 11. 400 Hinrichtungen wurden in Österreich vollstreckt, die Opfer wurden als Verräter bezeichnet.
Für Karl Kraus waren der Verlust der kollektiven Vorstellungskraft und die neuen Kriegstechnologien die entscheidenden Auslöser des Ersten Weltkriegs. Wenn die Phantasie ausgereicht hätte, die Wirklichkeit auch nur eine Stunde der Vorgeschichte des ersten Weltkriegs zu erfassen, dann hätte es diese Wirklichkeit nicht gegeben. Daß die neue Waffentechnologie das Wesen des Krieges von Grund auf verändern würde, blieb außerhalb des militärstrategischen Vorstellungshorizonts der Generäle und Politiker. Diese Korruption des Bewußtseins führte Karl Kraus auf die langjährige Wirkung der Presse zurück, die die Phantasie mit Phrasen vom Heldentod und vom glorreichen Vaterland abgelenkt und einen Automatismus blinder Reflexe geschaffen hatte.
Einige Jahre nach Ende des Krieges bemerkt Kraus einen kollektiven Gedächtnisverlust. »Sie haben vergessen, daß sie einen Krieg angefangen haben; sie haben vergessen, daß sie einen Krieg verloren haben; und sie haben sogar vergessen, daß sie einen Krieg geführt haben. Und eben darum müssen sie es erfahren, daß sie den Krieg nicht beenden werden.«
Die Sprachkritik von Karl Kraus ist eine Kritik des Sprachgebrauchs und der Lebensform, eine Überprüfung des Vorstellungsvermögens am Beispiel der Sprache des einzelnen. Zwischen einem fehlerhaften Satzgefüge und einem fehlerhaften Weltgefüge erkennt er notwendige Beziehungen. Ein schlechter Charakter tarnt sich mit blendender Rhetorik, spricht aber nicht die Wahrheit. Ein scheinbar unglücklich formulierter Satz beschert dem Sprecher sein selbstbereitetes Unglück, denn seine Sätze zeugen wider ihn.
Sprachphantasie ist nicht ein außergewöhnliches künstlerisches Vermögen, über welches nur wenige verfügen, es ist ein allen Menschen gegebenes natürliches Potential, das darin besteht, den Sinn jedes Satzes und jeder Handlung und deren Auswirkung auf das Leben anderer zu überdenken. Vor jedem Sprechen muß die Vorstellungskraft soweit angeregt sein, daß man diese Sprachwirksamkeit an sich selbst im voraus zu erleben vermag. Der Sprachzweifel während des Sprachgebrauchs ist das lebhafte Vorstellen der Bedeutung bei jeder Äußerung. Die sprachliche Phantasie während des Sprechens besteht darin, daß man prüft, ob der Sinn der Aussage psychisch nacherlebt wurde oder nicht.
Einer seiner Bewunderer, der Schriftsteller Sigismund von Radecki, erinnert sich an das Kriegsjahr 1942: »Wir hatten die Wohnung wegen der Verdunkelung dicht verhängt und legten in gespannter Erwartung die Platte aufs Grammophon. Plötzlich war des Verstorbenen Stimme im Raum. Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab. In demselben Augenblick erdröhnten die Luftabwehrbatterien, denn es kam ein Angriff. Auch nach seinem Tode gab es bei Karl Kraus keine Zufälle.«
Peter Matić hat Karl Kraus nicht wie Karl Kraus gelesen, sondern wie Peter Matić, wie wir ihn aus der großartigen Aufnahme von Marcel Prousts Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ kennen. Wie gern hätte ich dem natürlich auch und vor allem als Theaterschauspieler bekannten Peter Matić zu seinen Lebzeiten diese FACKEL-BOX geschenkt. Vielleicht kann sich jetzt, nach seinem zu frühen Tode, ein Hörbuchverlag dazu entschließen, diese zum allergrößten Teil völlig unbekannten Glossen von Karl Kraus als Hörbuch herauszubringen.
Zusatz, 19. Juni 2022:
2021 hat der NDR ohne mein Einverständnis einzuholen und ohne im Booklet auf meine Urheberschaft hinzuweisen, eine CD durch einen Hörverlag herausgebracht.