Im Sommer kann man auf den Straßen das anschauen, was Karl Rosenkranz 1853 in seinem Buch ›Ästhetik des Häßlichen‹ weitausgreifend philosophisch-psychologisch zu begründen versucht hat. Schon die Einleitung ist für die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz schön flott: »Eine Ästhetik des Häßlichen. Und warum nicht?« Hier kündigt sich die allerneueste Zeit an, es wird modisch im Stil und in der Kleidung. Was sieht man auf den sommerlichen Straßen jeder Stadt, ob groß, mittel oder klein? Sehr viel Häßliches. Und warum nicht? sagen sich viele Bürger und Bürgerinnen, und holen ihre Sommerkleider aus dem Schrank. Mal sehen, da haben wir die Hawaiihemd-Abteilung, daraus bedient man sich immer gern. Lassen Sie mich gar nicht erst auf die verschiedenen Oberhemden eingehen, die die heutige Mannheit in der Gegend herumspazieren führt. Selbstverständlich ist eine kurze Hose für Männer ein Muß. Zeigt her eure Beine, zeigt her eure Schuh. Gürtel sind wichtig, weil sie den das kurze Hemd und die kurze Hose tragenden deutschen Mann zusammenhalten, an der Stelle zusammenhalten, wo die Wölbung des ganzen Körpers sich am deutlichsten zeigt. Natürlich steckt er das kurze Hemd in die kurze Hose, nur so kann man dann den Passanten auch präsentieren, was man mit ganzem Stolz vor sich herträgt wie eine Monstranz: den Schmerbauch, die Wampe, oder, wenn wir uns vornehmer und etwas antiquiert ausdrücken wollen: den Embonpoint. Man könnte ein langes Hemd über dem Gürtel und der Hose tragen, ein weit geschnittenes Hemd, das gnädig die deutlich hervor ragende Mitte des Gesamtkörpers bedeckt, doch nein, im Sommer muß alles herausquellen, vor allem das nicht erst im vergangenen Winter angesammelte Bauchfett. »Der dicke Bauch, der so viel Inconvenienzen mit sich bringt, vor welchem der Inhaber seine eigenen Füße nicht mehr sehen kann, der so boshaft den Dichtern das Ätherische, den Priestern das Geistliche nimmt, der dicke Bauch, den man vor sich hertragen muß und der an einer Straßenecke eher, als sein Träger, sichtbar wird.« (Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853, 232)
Auch manche Frauen stehen dem in nichts nach, und oft schon ist es vorgekommen, daß man einer Dame in aller Freundlichkeit alles Gute für die bevorstehende Niederkunft gewünscht oder gefragt hat, wann es denn soweit sei. »Wann ist was soweit?« wurde einem dann entgegnet, zusammen mit erdolchenden Blicken, die den eigentlich nur das Beste wünschenden Gratulanten trafen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß man einem Mann Segenswünsche für das zu erwartende neue Erdenkind gewünscht hat, weil im Zuge der Angleichung der Geschlechter man nicht in jedem Falle sicher sein kann, mit wem man es gerade zu tun hat und manche Bauchwölbungen einem Schwangerschaftsbäuchlein doch sehr ähnlich sehen. Shocking! Wie barmherzig ist doch dagegen ein Wintermantel, wie hat er doch Verständnis und Mitgefühl für unseren verletzten ästhetischen Sinn, indem er alles das verhüllt, was man nicht zu sehen wünscht. Aber die kurze Hose ist auch nicht ohne. Nicht jeder Mann verfügt über solche Beine, wie sie Tony Curtis in den Filmrollen vorgeführt hat, in denen er kurze Hosen (oder ein Kostüm) hat tragen müssen. Ganz im Gegenteil, hier wird die ganze Tragweite der Ästhetik des Häßlichen erfaßbar. Das Grauen kommt einem entgegen, entweder in der kurzen Hose oder in Cargo Shorts. Der Winter war wie immer lang, sehr lang, und wer geht schon zum Bräunen der Beine während dieser Zeit ins Sonnenstudio? Ein fahler gelblichweißlicher Farbton zeichnet diese Sommerbeine aus, sie sehen aus wie gerade aus dem Riesen-Ei einer urzeitlichen Echse geschlüpft. Das ist noch nicht alles. Während jede westliche Frau wie selbstverständlich sich der Prozedur der Enthaarung unterzieht, da weder nackte Beine noch bestrumpfte gut aussehen, wenn sie von einem Haargeflecht überzogen sind oder durchscheinen, meinen Männer, daß es Teil ihrer ›Männlichkeit‹ sei, wenn sie alles so belassen, wie es ihnen die Natur mitgegeben hat. Das gilt dann auch für die grauenerregende Brustbehaarung, wo die Geschmacklosigkeit noch gesteigert wird, wenn ein Goldkettchen sich in diesem Dickicht verfängt. Da helfen auch die jetzt gerade als modisch erklärten ›Transparenz-Tops‹ (für Männer) nichts, es geht doch zu sehr in Richtung Zuhälter-Ästhetik.
Männerbeine sind häßlich, sie dienen der Fortbewegung, aber das ist auch schon alles. Diese Säbelbeine und ihre Eigentümer, diese stachligen, wie von dem Wilhelm Busch’schen Elephanten in einen Kaktus geworfenen Kreaturen, die nicht merken, wie häßlich sie aussehen. Da werden auf der Welt Frauen mit wunderschönem langen Haar verfolgt, weil sie kein Kopftuch tragen, aber nackte Männerbeine läßt man unbehelligt von Staat und Polizei frei herumlaufen. Es wird stets das Falsche verboten. Oder es wird etwas erlaubt, wovon dann keiner mit Recht einen Gebrauch macht. So dürfen seit neuestem Frauen in Hannover in den Schwimmbädern ›oben ohne‹ herumlaufen, doch bisher war die Ingebrauchnahme dieses neu installierten Rechts auf Nacktheit mäßig. Und wen haben sich die für dieses Recht sich öffentlich rührenden Frauen zum Vorbild genommen? Männer mit freiem Oberkörper! Als wenn man den männlichen Körper in all seinen bedauernswerten Einzelteilen mit dem weiblichen vergleichen kann. Der nackte Mann ist kein schöner Anblick, ein Funktionsgestell, das als sexuelles Gegenstück zum weiblichen Körper notwendig für den Fortbestand der menschlichen Rasse ist, mehr aber auch nicht. Man kann sagen: ja, aber die Muskeln! Doch wer hat die schon und wer hat die Gelegenheit, sie öffentlich zur Schau zu tragen? Höchstens professionelle Boxer, die sich dann aber im Ring grün und blau schlagen lassen und die deformierte Boxernase ist nur ein Moment in der im ganzen abstoßenden Erscheinung dieses widerlichen Sports. Hingegen sieht eine Frau auch mit einer nicht nach klassischen Schönheitsidealen geformten Figur immer noch tausendmal besser aus als jeder Mann. Der weibliche Körper ist ein von der Evolution geschaffenes Kunstwerk. Die von Michelangelo geschaffene David-Figur in Florenz, über fünf Meter hoch und fast sechs Tonnen schwer, bildet da keine Ausnahme. Sicher ist sie formvollendet in ihrer Art, kaum ein lebender Mann wird diese Wohlproportioniertheit erreichen, aber verglichen mit weiblichen Statuen ist sie doch ästhetisch unbefriedigend. In den sommerlichen Straßen und Fußgängerzonen wird man einem solchen David nicht begegnen. Weder nackt, gottlob nicht, und auch nicht in Shorts. Die Fernbedienung ist noch nicht erfunden, mit der man den überwiegend häßlichen Teil der spazierenden Menschheit einfach wegzappen könnte. Obwohl … kennen Sie den australischen Schauspieler Simon Baker? Nein? Vielleicht doch, falls Sie die Fernsehserie ›The Mentalist‹ gesehen haben sollten. Sehen Sie, der sieht wirklich gut aus in seinem lässigen Anzug und seinen locker gekämmten blonden Haaren. Aber der ist auch ordentlich gekleidet und läuft nicht unten ohne herum. Na ja, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Nein, heute werde ich wohl zuhause bleiben.