Bayerische Ordnung ist keine deutsche Ordnung. (Kurt Tucholsky: Reisende, meidet Bayern!, 7. Februar 1924)
A: Frohes neues Jahr, Herr Nachbar!
B: Gleichfalls! Was haben wir denn in diesem Jahr zu erwarten?
A: Ach, am Jahresanfang versuchen unsere Politiker uns meist mit einem tollen Angebot ins Alltagsleben zurückzuholen. Da wird man auch nie enttäuscht, das haut immer voll rein.
B: Voll rein? Was für eine Art Sprache verwenden Sie denn gerade?
A: Volle Ausrüstung, volle Munitionsdepots, volle Ausbildungsmöglichkeiten!
B: Hat der Russe schon wieder den Militäretat aufgestockt?
A: Iwo! Das ist der bayerische Ministerpräsident, der in seiner Neujahrsansprache diese Töne von sich gegeben hat.
B: Nein, wirklich? Ist unsere Bundeswehr denn unterversorgt?
A: Und wie! Wenn eine ausländische Macht die Bundesrepublik Deutschland jetzt im Handstreich übernehmen möchte, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Jetzt oder nie! Ein einmaliges Angebot. Der bayerische Ministerpräsident hat uns verraten, was der deutschen Generalität schlaflose Nächte beschert. Man sei besorgt, ob man überhaupt eine kampfkräftige Brigade aufstellen könne.
B: Oje, das hört sich aber nicht gut an. Dann sind also alle Flanken offen, der Russe bräuchte jetzt nur einzumarschieren.
A: Ja, und der bayerische Ministerpräsident hat deswegen auch gemeint, es werde ernst für uns, wenn Rußland in der Ukraine gewinnen sollte und zugleich die USA sich aus Europa zurückziehen würden.
B: Dann stünden wir völlig nackt da, da käme das Ende der Bundesrepublik also doch schneller als manche Professoren und journalistischen Kommentatoren befürchtet haben.
A: In der Tat, da könnte man höchstens noch auf die Waffenbrüderschaft mit den Franzosen hoffen, es sei denn, der Franzose überlegt es sich dann doch noch einmal und beläßt es bei verbalen Protesten und arrangiert sich mit der neuen russischen Besatzungsmacht, weil ja auch die Franzosen es im Winter warm haben wollen und der Russe mit dem billigen Heizöl als Köder locken wird.
B: So habe ich mir den Anfang des neuen Jahres aber nicht vorgestellt.
A: Beruhigen Sie sich, deshalb hat der bayerische Ministerpräsident ja diese Rede gehalten und uns allen versichert, daß wir nur durch militärische Stärke den Russen beeindrucken können. Und das geht am besten durch einen europäischen »Atom-Abwehrschirm«.
B: Huch! Das erinnert mich an das Jahr 1957, als die Kampagne ›Kampf dem Atomtod‹ entstand. Seit 1953 hatten damals Frankreich und Großbritannien eine Ausrüstung ihrer Streitkräfte mit Atomwaffen gefordert, und zwar, weil diese billiger sei als die konventionelle Aufrüstung der NATO um 96 Divisionen. Schon Ende 1955 berichteten westdeutsche Zeitungen, daß eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr früher oder später vorgesehen sei. Ein Jahr später erklärte der damals für die Bundeswehr zuständige Minister Strauß, die Atombewaffnung der Bundeswehr sei bereits beschlossene Sache. Der damalige Bundeskanzler Adenauer verkündete 1957, die Atomwaffen seien eine »Weiterentwicklung der Artillerie«. Und der Bundestag in Bonn erlaubte mit der Stimmenmehrheit der CDU/CSU-Fraktion 1958 die Aufstellung von Atomwaffen unter dem Oberbefehl der NATO in der BRD. Frankreich widersetzte sich einer Atombewaffnung der Bundesrepublik und Ende 1958 entschied die NATO dann, daß nur die USA das »Schlüsselrecht« zum Einsatz von Atomwaffen in Europa erhalten sollte.
A: Ich staune, wie gut Sie informiert sind. Aber das ist nun alles Geschichte und wir haben heute ganz andere Voraussetzungen als damals. So hat der bayerische Ministerpräsident denn auch als flankierende Maßnahme eine »Drohnenarmee mit 100.000 Drohnen« gefordert. Die Drohne gab es in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht.
B: Das ist richtig, aber vielleicht sollte man sich doch entscheiden, was man bevorzugt: Atomwaffen oder Drohnen, denn was nützen diese vielen herumfliegenden Drohnen, die sicher Bomben abwerfen sollen, wenn man über einen ordentlichen Atom-Schirm verfügt. Ist es nicht lustig, daß eine so gefährliche und Millionen Menschen bedrohende Waffe wie die Atombombe als Schirm bezeichnet wird? Man muß doch damit rechnen, daß die Gegenseite auch über diesen Atom-Schirm verfügt, und wenn dann die Kontrahenten beide ihren Regenschirm, nein, Atomschirm aufspannen, welche materielle Kraft stellt dann das Atom analog zum Regen dar?
A: Das ist natürlich nur billige Rhetorik, auf die aber immer genug Leute hereinfallen. Hauptsache, das Wort erfüllt seine beruhigende Funktion. Und wer unter einem Regenschirm geht, das ist ja sehr einleuchtend, wird eben garantiert nicht naß. Der Atomschirm ist demnach die erste Wahl, wenn die Atombomben gezündet werden. So einfach machen es sich die Politiker.
B: Es ist empörend, wie man verschaukelt wird und wie eine so fürchterliche Waffe wie die Atombombe als Regenschirm verharmlost wird!
A: Tja, Politiker brauchen stets Bilder, auch wenn diese nicht immer gut gewählt sind. Sie vertrauen auf die Gutgläubigkeit der Masse. Aber etwas habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt: Der bayerische Ministerpräsident hat auch gefordert, die Wehrpflicht wieder einzuführen, die Aussetzung sei aus heutiger Sicht ein Fehler gewesen.
B: Nein, das gibt’s doch nicht. Und sollen die neu eingezogenen Wehrpflichtigen dann zu Atombomben-Spezialisten ausgebildet werden?
A: Seien Sie nicht albern, natürlich nicht. Es macht sich aber immer gut wenn man Masse vorweisen kann, uniformierte Masse. Das gehört zum Einschüchterungsrepertoire jedes Staates, auch wenn der tatsächliche Nutzen mehr als fragwürdig ist. Wir führen im 21. Jahrhundert ja nicht mehr Kriege wie im 17. Jahrhundert, wenn auch die Mentalität des sehr kriegerischen 17. Jahrhunderts heute weltweit wieder vorherrscht.
B: Wann wurde von Politikern dieses Landes jemals mehr Diplomatie gefordert? Gab es jemals Anzeigen und Plakate, wie es sie zuhauf von der Bundeswehr gibt, wo für den diplomatischen Dienst geworben wurde?
A: Das wäre ein Eingeständnis von Schwäche, denn eine Waffe, die das Potential und die Potenz zum Töten hat, ist gegenüber diplomatischem Takt und kluger Verhandlungsführung allemal die erste Wahl für unsere Politiker. Das kommt daher, daß sie ihre Entscheidungen auf der Basis ihres Reptiliengehirns treffen.
B: Vorsicht! Mit solchen Feststellungen können Sie sich leicht eine Beleidigungsklage einhandeln.
A: Wir alle verfügen über ein Reptiliengehirn. Der Neocortex, die Großhirnrinde, ist eine recht neue Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, das Substrat unserer Individualität, instabil und damit anfällig für die Bedürfnisse der älteren Hirnschichten. Dazu gehören das Säugergehirn, das limbische System, die Amygdala und der Hypothalamus, die uns dazu anregen, die Gesellschaft anderer zu suchen. Ganz unten sitzt das Reptiliengehirn, wo alle vitalen Lebensfunktionen wie Atmen, der Schlaf-Wach-Rhythmus, Temperaturregelung und Wahrnehmung der Außenwelt, unabhängig von unserem Bewußtsein, ablaufen. Im Neocortex findet die Feinabstimmung dieser vitalen Funktionen statt, hier ist der Ort des abstrakten Denkens, der rationalen Planung, er ermöglicht, auf neue Herausforderungen zu reagieren, es ist die Region der Vernunft. Die Amygdala ist für angstauslösendes Verhalten zuständig und hat immer einen größeren Einfluß auf den Cortex als der Cortex auf die Amygdala.
B: Auf einen medizinischen Vortrag war ich jetzt nicht unbedingt eingerichtet. Aber dennoch, bemerkenswert, was Sie da vortragen, nur wird es wohl leider nicht und niemals Eingang in die öffentliche Diskussion finden.
A: Weil der Schimpanse in uns auf wirkliche oder eingebildete Gefahr immer auf der Basis des Reptiliengehirns reagieren wird. Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. Das hat sich bei Schimpansenhorden bestens bewährt und es bewährt sich auch bei Menschenhorden, wenn sie einen Feind ausgemacht haben. Dafür werfen sie gern Steuergelder zum Fenster raus, und das nur, um sich in einem falschen Sicherheitsgefühl wiegen zu können.
B: »Die politische Führung Deutschlands hatte keinen Begriff von dem Zerstörungspotential der Waffen, die ihr zur Verfügung standen, und ihr fehlte deshalb in der Krise vom August 1914 der Wille, ihren Einsatz zu verbieten.« Das sagt der große schottische Historiker Gordon A. Craig in seinem Buch ›Krieg, Politik und Diplomatie‹ (2001). Und resignierend stellt er an anderer Stelle des höchst lesenswerten Buches fest: »Seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem aber seit 1945 und den Jahren des Kalten Krieges befindet sich die Diplomatie im historischen Sinn im Niedergang. Die Rolle des Botschafters und des Berufsdiplomaten im Außenministerium wird zunehmend untergraben durch Außenminister, Regierungschefs und der ärgsten aller diplomatischen Erfindungen überhaupt, der Gipfelkonferenz.«
A: Sehr gute Diagnose, die zugleich eine deprimierende Wirkung auf mich hat. Was bilden sich diese Politiker, die durch eine politische Wahl in ihre Ämter gebracht worden sind, eigentlich ein, so zu tun, als würde der Wille des Volkes erfüllt werden, wenn sie solche Forderungen aufstellen, wie es jetzt der bayerische Ministerpräsident getan hat?
B: Ich verstehe diese Leute nicht, die immer noch der DDR nachtrauern, wo es doch in Bayern einen Parallelstaat zur DDR gibt. Die Einparteienherrschaft der CSU dauert heute schon länger als die der SED je gedauert hat.
A: »Reisende, meidet Bayern!« hat Kurt Tucholsky vor genau einhundert Jahren gewarnt.
B: Doch heute ist Bayern nur ein Modell für ganz Deutschland. Wenn ich an die Äußerungen des jetzigen Ministers denke, der für die Bundeswehr zuständig ist. Da spielt die Parteizugehörigkeit auch schon keine Rolle mehr. Die Welt wird immer gleichförmiger und monotoner.
A: Das erklärt die Beliebtheit von Schnellgerichten, ich meine die Fertiggerichte, das Fast Food. Und so, in diesen weichen Kategorien bewegen sich unsere Politiker. Dagegen kommen die Diplomaten in der Politik, die es ja auch gibt, nicht an.
B: Dann warte ich jetzt nur auf die Empfehlungen der Bundesregierung, was man im Falle eines Atomkriegs als Zivilist machen soll.
A: Die Antwort kommt aus den USA. ›Duck and Cover‹! Das war ein 1951 zustande gekommener Zeichentrickfilm, in dem eine Schildkröte vorführt, wie man sich bei einer Atombombenexplosion zu verhalten hat. Man müsse in Deckung gehen, to duck heißt sich ducken, und sich dann bedecken, to cover heißt genau das, zum Beispiel mit einem Mantel oder einer Zeitung.
B: »Nicht die Unermeßlichkeit des Sternenhimmels kann uns die vollkommene Idee des Unendlichen liefern, sondern eher die menschliche Dummheit.« (Ernest Renan)