Wenn nun fast die ganze Welt zuhause hockt wie früher der Steinzeitmensch in seiner Höhle, ist endlich ausreichend Zeit zur Verfügung, um das zu tun, was die meisten von uns in der Schule gehaßt haben: Mathematik. Wir sind keine logischen Wesen und sind nur sehr raffiniert, wenn es um das Berechnen unserer Interessen geht.
Täglich wird man jetzt mit neuen Zahlen zum ›Corona‹ benannten Virus konfrontiert, und es scheint, als sollten diese Zahlen uns überzeugen, dass wir uns auf etwas ganz Katastrophales einzustellen haben. Die Verdoppelung von Todesopfern an einem Tag läßt keinen kalt. Das ist die eine Welt, die Welt der absoluten Zahlen. Es gibt aber die Parallelwelt der absoluten Häufigkeit der Zahlen, die bildhafter und ehrlicher ist. Wir sind von Natur mit kollektiver Zahlenblindheit geschlagen und scheitern im Alltag an der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Warum haben Menschen mehr Angst vor dem Unbekannten (Terroranschlag oder Virus) als vor einem Autounfall (der viel häufiger vorkommt, häufiger auch als ein Flugzeugabsturz)? Weil es das große Unbekannte ist, und die Menschen große Gefahren und zahlreiche Opfer (im Winter 2017/ 2018 starben allein in Deutschland 25. 000 Personen an einem ›normalen‹ grippalen Infekt) ruhig hinnehmen und nicht in Panik geraten, weil es zur Gewohnheit geworden ist und weil es, wie es der Wahrscheinlichkeitsmathematiker Jeffrey S. Rosenthal (Struck by Lightning. The Curious World of Probabilities, 2005) ausgedrückt hat, »auf wohlbekannte Weise geschieht«.
Heute, am 23. März 2020, gab es weltweit 350.536 statistisch erfaßte Fälle einer Corona-Erkrankung, von diesen erholten sich 100.182 und 15.327 starben daran. Es muß wohl nicht eigens betont werden, dass jeder einzelne Todesfall für sich genommen eine schreckliche Tragödie ist. Aber es geht hier nicht um das ganz natürliche Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen, es geht um das Ausrechnen der Wahrscheinlichkeit, um eine Zukunftsprognose für die Überlebenden. Mehr als 96% der Infizierten haben sich innerhalb einer Woche wieder erholt. Die Mortalitätsrate beträgt 0,8%.
Als man die Zahl der Besucher von öffentlichen Veranstaltungen auf die Zahl 1000 begrenzte, erlag man dem magischen Zauber der Zahl, aber das Virus folgt dem Gesetz der großen Zahl und daher ist es für die Reproduktion entscheidend, ob die Zahl der Virusträger im Mittel wächst oder kleiner wird. Das erreicht man nicht durch die willkürliche Festlegung einer Obergrenze, denn natürlich, wie man wunderbarer Weise nun erkannt hat, reproduziert sich das Virus auch bei wesentlich kleineren Menschenansammlungen.
Die »Wahrscheinlichkeitsblindheit« (Massimo Piattelli-Palmarini: Inevitable Illusions. How Mistakes of Reason Rule Our Minds, 1994) der Menschen erklärt, weshalb man mental unfähig ist, Risiken anhand von Zahlen abzuwägen. Und so glaubt man immer aufs Neue: Ist ein Ereignis wiederholt als Thema im Tagesgedächtnis, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch eintrifft. Wahrscheinlichkeitswerte für ein Einzelereignis ausrechnen zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie wurde im 17. Jahrhundert entwickelt; bis sie im Bewußtsein dieser und kommender Generationen angekommen ist, werden wohl noch einige Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vergehen.