Ein Kuß ist eine symbolische Handlung. Zu einem vollständigen Kuß ist erforderlich, daß die Handelnden ein Mädchen und ein Mann sind. (Søren Kierkegaard: Beiträge zur Theorie des Kusses, 1843)
A.: In Spanien ist der Teufel los.
B.: Ach, und ich dachte Franco ist 1975 gestorben.
A.: Nein, nein. Der spanische Fußball-Verbandspräsident Luis Rubiales hat nach dem Sieg der spanischen Fußballerinnen bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen der Spielerin Jennifer Hermoso einen Kuß auf den Mund aufgedrückt, nachdem er sie zuvor schon auf die Wangen geküßt hatte.
B.: Und?
A.: Nun, die Fußballerin hat erklärt, daß das nicht abgesprochen war und daß sie es als Angriff wahrgenommen habe.
B.: Küssen sich Fußballspieler nicht sehr häufig, wenn sie ein Tor geschossen haben? Ich glaube mich zu erinnern, daß die männlichen Fußballer nach einem Tor sogar übereinander herfallen und sich auf dem Rasen wälzen, als wären sie dabei, sich zu begatten.
A.: Na ja, das ist doch nur die ganz harmlose Freude über einen gelungenen Spielzug. Fußball ist ein sehr körperlicher Sport und als Mannschaftssport auf das Interagieren der Beteiligten angewiesen. Niemand auf den Zuschauerrängen glaubt, es handele sich dabei um sexuelle Handlungen.
B.: Ah, so! Und was war nach dem Gewinn der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft in Australien anders gegenüber den von Ihnen eben berichteten normalen Vorgängen?
A.: Die Darstellungen gehen auseinander. Während der Fußballfunktionär sagt, die Spielerin habe ihn angefaßt und leicht in die Höhe gehoben und ihn dann durch gestische Zeichen praktisch zu dem Schmatzer eingeladen, sagt die Spielerin, er habe sie an sich gezogen und ihr einen Kuß auf die Lippen verabfolgt.
B.: Gibt es nicht Videoaufnahmen von der Szene?
A.: Doch, schon, aber so ganz deutlich wird der Vorgang dadurch auch nicht.
B.: Ist das Ganze nicht ein Sturm im Wasserglas? Könnte es nicht sein, daß der Verbandspräsident einfach überwältigt war von dem Sieg seiner Mannschaft, oder sollen wir sagen: Frauschaft?, nein, das klingt irgendwie falsch und erzwungen. So wie die männlichen Fußballspieler auf dem Feld sich spontan umarmen oder, was ich schon öfter gesehen habe, wenn der Siegespokal überreicht wird und dann alle Spieler dem Ding einen Kuß geben?
A.: Ja, so könnte man argumentieren. Doch in Spanien ist der Teufel los. Die Mitspielerinnen der unfreiwillig geküssten Spielerin haben damit gedroht, nicht mehr für Spanien aufs Feld zu gehen, wenn der Verbandspräsident nicht seines Postens enthoben wird.
B.: Könnten andere Gründe eine Rolle gespielt haben?
A.: In der Tat, es scheint, als würde dieser Vorfall dazu benutzt werden, alte Rechnungen zu begleichen. Die öffentlichen Erklärungen gehen alle in die Richtung, daß es im spanischen Frauenfußball in der Vergangenheit immer wieder zu sexuellen Übergriffen gekommen ist.
B.: Und der Kuß des Verbandspräsidenten ist nur der Anlaß, um über diese Vorfälle öffentlich zu sprechen.
A.: Das könnte man so sagen.
B.: Was mich daran noch interessiert wäre die Frage, ob der Kuß zu tonsil hockey geführt hat.
A.: Was ist los?
B.: French kissing. Ein Zungenkuß!
A.: Oh, das meinen Sie. Nein, es wäre alles um vieles leichter, wenn es zu diesem Akt gekommen wäre, denn das wäre ein glattes Überschreiten der Grenze des Schicklichen gewesen. Da wäre der Mann nicht zu retten gewesen.
B.: Dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht. In einem Moment höchster Erregung über einen unerwarteten Sieg gibt der Verbandspräsident einer der siegreichen Spielerinnen einen Kuß. Das kann man auch damit erklären, daß man in einem Siegesrausch ist und in diesem Moment eine grenzenlose Verbundenheit mit den Trägerinnen des Sieges verspürt und dann seine Freude durch diese Geste zum Ausdruck bringt, so wie die männlichen Fußballspieler ja auch gelegentlich sich dadurch gratulieren, indem sie sich küssen, ohne damit auch nur irgendeine sexuelle Handlung einleiten zu wollen. Das ist einfach lächerlich.
A.: Die Gegenseite erklärt, es sei ein Akt der Aggression gewesen.
B.: Es hat sich doch nicht um den Todeskuß des Judas gehandelt.
A.: Ich weiß auch nicht, was sich die spanische Spielerin dabei gedacht hat. Der Verbandspräsident hat ausgesagt, es sei ein Dankeskuß gewesen, so wie er einen solchen auch seiner Tochter gegeben hätte, um ihr zu so etwas Großartigem zu gratulieren.
B.: Dann können wir den Fall ja zu den Akten legen.
A.: Nicht so schnell. Wir brauchen doch einen amüsanten Abschluß nach diesem tragikomischen Gespräch.
B.: Unterhalten Sie mich!
A.: Es gibt von Theodor Lessing einen Text, der heißt: ›Der Theaterkuß‹. Im Kommentar zu diesem Aufsatz hat der Herausgeber eine lustige Episode aus dem Wiener Theaterleben ausgegraben. Die Geschichte spielt im Jahre 1872 und handelt von einer Hofschauspielerin und ihrem männlichen Conterpart, der ihr auf der Bühne einen derben Kuß applizierte, statt ihn, wie sonst üblich, nur zu markieren. Und schon war ein ›Kuß-Conflict‹ entstanden. Die Hoftheater-Direktion verbreitete ein Papier, in dem Verhaltensmaßregeln niedergelegt waren, wie man auf der Bühne sich zu küssen habe, wenn das im jeweiligen Stück vorgeschrieben ist. »Der Kuß auf den Mund muß so ins Werk gesetzt werden, daß in demselben Augenblicke, als sich die Nasenspitzen der Liebenden berühren, zwei Theaterarbeiter hinter der Szene mit der Zunge schnalzen. Zuwiderhandelnde sollen mit Geldstrafen belegt werden.«
B.: Das ist doch reine Erfindung, oder?
A.: Oh nein, Sie können das in der Ausgabe einer Wiener Zeitung nachlesen. Es kommt aber noch besser. In einer Szene muß die Schauspielerin, nachdem der Kollege ihr bereits auf die rechte und die linke Hand geküßt hat, sagen: »Nun küsse Er mir auch den Mund.« Der Schauspieler folgte dieser Aufforderung, doch die Kollegin war über den Kuß so erbittert, daß sie sich bei der Theaterdirektion darüber beschwerte. Es half alles nichts, sie darauf hinzuweisen, daß der Kollege durchaus nicht als Mann ihr diesen Kuß gegeben hatte, sondern bloß dem Rollentext gefolgt und als Berufsschauspieler sie geküßt habe. Sie erklärte, sie fühle sich in ihrer weiblichen Ehre gekränkt und wenn ihr von Seiten der Theaterdirektion kein Recht widerführe, werde sie sich an die Gerichte wenden. Alles war in Aufruhr. Dann kam die nächste Vorstellung und man wartete gespannt darauf, wie die beiden die Szene über die Bühne bringen würden. Wieder küßte der Kollege zuerst die rechte und dann die linke Hand und als er dann auf den Satz der Kollegin wartete: »Nun küsse Er mir auch den Mund.«, sagte die Dame statt dessen: »Nun, den Kuß auf den Mund schenke ich euch.« Der Kollege erstarrte nicht lange über diesen im Stück nicht vorkommenden Satz, sondern erwiderte schlagfertig, wenn auch ein wenig boshaft: »Gott sei Dank, daß ich die alte Schachtel nicht zu küssen brauche.« Fräulein Gindele, so hieß die Schauspielerin mit der starken Aversion geküßt zu werden, geriet darüber derart in Aufregung, daß sie auf offener Bühne in Ohnmacht fiel und in ihre Garderobe getragen werden mußte. Abermals beklagte sie sich bei der Theaterdirektion. Die ›Neue Freie Presse‹, in der diese Geschichte berichtet wurde, beschloß ihren Artikel mit der Erwägung, die Theaterfreunde sähen dem Urteil in dieser Frage mit Spannung entgegen, da hier zum ersten Male die Frage zur Entscheidung kommen muß, ob ein Kuß auf der Bühne eine Beleidigung einer Dame involviere.
Vgl. Theodor Lessing: Der Theaterkuß. In: ders.: Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908–1909, herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Göttingen: Wallstein Verlag, 2021, 2 Bde., Bd. 1 328–335 (Text); Bd. 2, 334–337 (Kommentar).