Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Neue Gespräche im Elysium XX
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Mae West meets Hanns Dieter Hüsch
Mae West: Is that a gun in your pocket, or are you just happy to see me?
Hanns Dieter Hüsch: Was ich ja immer sage: Die Unanständigsten sind die Unschuldigsten. Aber erst einmal guten Tag, liebe Mae West, was bin ich erfreut Sie hier zu sehen! Bisher kannte ich Sie ja nur aus dem Film.
Mae West: I’m a woman of very few words, but lots of action. Ich kann nur zwei Sprachen: Englisch und Körper. Aber für Sie, mache ich, wie Sie gerade gehört haben, eine Ausnahme.
Hanns Dieter Hüsch: Ihre Sprüche sind weltberühmt, Ihre ›double entendres‹. Besonders der, den Sie gleich zu Anfang aufgesagt haben. Ja, wenige Worte, viel action. Für Ihre Auftritte hatten Sie immer die richtigen Songs: ›Go As Far As You Like‹, ›Nothing Bothers Me‹, ›I Don’t Care‹. Da müßte ich jetzt wohl über meine herzzerreißende Neigung zu schönen Mädchen sprechen, wo ich gleichzeitig immer meine riesengroße Angst fühlte, nicht angenommen zu werden. Die ganz schönen Mädchen waren natürlich für mich unerreichbar. Aber manchmal sind solche Frauen auch elend dran, schön zwar, aber elend dran, denn sie brauchen immer jemanden, der sie auffängt, wenn sie fallen. Ich war immer unterwegs, um die Damen mit den knappen Röcken, den hohen Absätzen und den offenen Herzen zu sehen, im Sommer und im Winter, immer wußte ich, wo es solche Etablissements gab, immer führte mich meine Sucht mitten hinein in die Welt der Lust und des Lasters, irgendetwas zog einen wie mich immer wieder dorthin, vielleicht wollte man einfach in den Arm genommen werden, und das natürlich möglichst lasziv. Ich war aber manchmal schon mit einem Blick zufrieden. Je höher der Strumpf, desto tiefer der Wahnsinn. Die Freundin, kurzsichtig, aber hochhackig.
Mae West: The best way to hold a man is in your arms. Between two evils, I always pick the one I never tried before. No one can have everything, so you have to try for what you want most. Too much of a good thing can be wonderful! Ten men waiting for me at the door? Send one of them home, I’m tired.
Hanns Dieter Hüsch: Ja, das bewundere ich an Ihnen ja so sehr, diese Freimütigkeit, dieses naiv Schamlose. Sie haben es in diesem prüden Land Amerika nicht leicht gehabt, ihre künstlerischen Vorstellungen durchzusetzen, aber Sie haben sie durchgesetzt. Ein Regisseur hat mir einmal gesagt: »Kinder, freundlich bleiben, auch die ernsten und aggressiven Sachen ruhig und fast leicht vortragen.«
Mae West: Wenn die Leute nur wüßten, was während der Aufführung meines Theaterstücks ›Sex‹ aus dem Jahr 1926, eine Aschenputtel-Geschichte, die mir 500 Dollar Geldstrafe und eine Woche im Gefängnis eingebracht hat, hinter der Bühne passierte, wären sie überrascht. Unser Hauptvergnügen zwischen den Akten waren Diskussionen über die Musik von Beethoven und Bach, über Shakespeare und die Philosophen der Welt.
Hanns Dieter Hüsch: Ich komme ja vom Niederrhein, das ist eine Gegend, die werden Sie jetzt nicht kennen. Die Leute dort, die Niederrheiner, sind ein eigenartiges Völkchen. Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt, wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts. Sagt aber dauernd: Ist doch logisch! Wenn man dann fragt: Wieso logisch? antwortet er sehr oft: Ja wieso, weiß ich auch nicht, muß man ’nen anderen fragen. Wenn man dann weiter nachhakt: Warum sachste denn dauernd: ›Ist doch logisch!‹, sagt er oft: Man wird doch mal was in Frage stellen dürfen? Der Niederrheiner hat, genau besehen, immer nur zwei große Themen: Essen und Sterben. Denn wir Niederrheiner können stundenlang erzählen, was wir gern essen und was wir nicht so gern essen und wie der und der gestorben ist und woran, und wie lang das gedauert hat, und welcher Arzt das alles verpfuscht hat, und wer schließlich das Ganze erbt, und daß gar nichts mehr da ist, weil, alles ist für die Operation draufgegangen, und wir hatten am Sonntag dicke Bohnen. Ich sage ja immer, man kann sich seinen Tod nicht aussuchen, aber das Essen schon, das ist doch wenigstens etwas im Leben. Die alte niederrheinische Geschichte von der Küche ins Krankenhaus, vom Krankenhaus auf den Kirchhof. Das sind die drei Ks des Niederrheiners, und von diesen Plätzen erzählt er auch immer sein Leben lang.
Mae West: You only live once, but if you do it right, once is enough. I eat the right foods, exercise, take care of myself to maintain my curves. I have improved the Venus de Milo, I have arms. I never worry about diets. The only carrots that interest me are the number you get in a diamond.
Hanns Dieter Hüsch: Ich eß ja am liebsten alles durcheinander. Ich knatsch mir die Kartoffeln und Soße, einfach durcheinander. Möhren mag ich ja weniger. Am liebsten eß ich ja Suppen. Oder Hülsenfrüchte. Da is ja auch alles durcheinander drin. Et kommt ja doch alles in einen Magen. Hamse schon Hunger? Pomm Fritz eß ich nich so gern. Bratwurst geht noch so eben. Ich eß auch gern mal en Spiegelei zwischendurch. Erbsensuppe schmeckt ja am besten im Winter. Mit Schwarzbrot und Butter. Schad is ja nur, daß man das meiste Essen nich bei sich behalten kann. Einmal stand ich vor einem Würstchenstand am Bahnhof, da höre ich gerade, wie die Verkäuferin an diesem Stand zu dem Herrn, der da stand, sagt: »Sagen Se mal, was hat er denn ganz genau gehabt? Er ist ja jetzt aus dem Krankenhaus wieder raus?« Da sagt der Mann zu der Verkäuferin: »Ja, wissen Sie, er hatte wohl so irgendwie Beschädigungen, die dann aber doch nicht reparabel waren, und das Andere weiß ich auch nicht.« Für die Verkäuferin war das klar, die kannte die Krankheit: »irgendwie so Beschädigungen haben«. Diese Krankheit gibt es nur am Niederrhein.
Mae West: Almost anything goes, anywhere, if it is good and fast and amusing.
Hanns Dieter Hüsch: Ich hab’ immer Sätze aufgeschnappt. Das ist eine niederrheinische Krankheit, das Erinnern, und ich habe ja mal gesagt: Wir sterben am Erinnern. Es gibt keine stärkere Krankheit als die Erinnerung. Wissen Sie, wenn man sich am Niederrhein vorstellt, sagt man am besten gleich die Krankheit dazu, denn man kommt doch in fünf Minuten darauf. »Et is zuviel«, sagen die Niederrheiner oft, wenn sie mit dem Leben nicht mehr fertig werden. Und weil die Niederrheiner ja zur Schwermut neigen, das kommt vom dem weiten, flachen Land, von der Aussichtslosigkeit, und die macht schwermütig, tun sie sich sehr oft was an. Nicht alle, aber viele.
Mae West: Ich war ein Kind des neuen Jahrhunderts, das gleich um die Ecke lag, und unerschrocken lief ich darauf zu. Sie erwähnten Essen und den Tod. Es gibt dann noch Sex. Was den Sex betrifft, ist der Mann von Natur aus ein Tier. Ich hatte immer meine besonderen Haustierchen. Bei älteren Liebhabern weiß man nie genau, wo die Leidenschaft aufhört und das Asthma beginnt. A hard man is good to find.
Hanns Dieter Hüsch: Ich bin ein Nomade, abends sitze ich schon wieder in den Zügen. Ich habe vieles im Wartesaal geschrieben, Leute beobachtet, Nachtschattengewächse, genau wie ich. Trunken war ich von diesen Nächten. Und dann Kartoffelsalat mit Würstchen, Kännchen Kaffee, Overstolz ohne Filter, fünfzig Stück am Tag mindestens.
Mae West: Man hat einen Cocktail nach mir benannt, den ›Mae West Martini‹. Er besteht aus Wodka, Mandellikör, Preiselbeersaft und einem Spritzer Melonenlikör. Und den wollen wir jetzt zusammen trinken und auf das neue Jahr anstoßen. Du kannst Mae zu mir sagen, Hanns Dieter.
Hanns Dieter Hüsch: Zehn Pils vor der Vorstellung machten mir früher nichts aus. Dann werde ich hier im Elysium wohl auch schon einen ›Mae West Martini‹ vertragen. Para el beneficio, liebe Mae! And a happy new year!
Zum Wahlausgang in den USA
In Europa glauben viele Leute, ohne es zu sagen, oder sie sagen es, ohne es zu glauben, daß einer der großen Vorzüge des allgemeinen Wahlrechts darin bestehe, zur Führung der Geschäfte Männer zu berufen, die des öffentlichen Vertrauens würdig sind. […] Was mich angeht, muß ich sagen, daß nichts von dem in Amerika Gesehenen mich berechtigt, dies für wahr zu halten. Nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten entdeckte ich zu meiner Überraschung, wie sehr bei den Regierten das Verdienst verbreitet und wie wenig es bei den Regierenden vorhanden war. Es ist in den Vereinigten Staaten eine feststehende Tatsache, daß die bedeutendsten Männer selten zu öffentlichen Ämtern berufen werden, und dies trifft, wie man zugeben muß, in dem Maße zu, wie die Demokratie alle ihre früheren Grenzen überschritt. Ganz offenkundig hat sich der Bestand der amerikanischen Staatsmänner seit einem halben Jahrhundert außerordentlich verschlechtert. Für diese Erscheinung lassen sich mehrere Gründe anführen. Was man auch immer tue, es ist unmöglich, die Bildung des Volkes über eine gewisse Stufe emporzuheben. […] Eine Gesellschaft, in der alle Menschen hochgebildet wären, läßt sich daher ebensowenig ausdenken, wie ein Staat von lauter reichen Bürgern. […] Welch langes Studium, welch verschiedenartige Kenntnisse sind notwendig, um das Wesen eines einzigen Menschen zu erfassen! Die größten Geister irren sich darin, und wie sollte es der Menge gelingen! Das Volk hat nie die Zeit und die Mittel, sich dieser Aufgabe zu widmen. Es muß immer in Hast urteilen und sich an das Hervorstechendste halten. Daher kommt es, daß die Schwindler aller Art sich so trefflich darauf verstehen, ihm zu gefallen, während seine wahren Freunde darin sehr häufig scheitern. Übrigens fehlt der Demokratie nicht so sehr die Gabe, verdienstvolle Männer auszulesen, als der Wunsch und die Neigung hierzu.
Alexis de Toqueville: Über die Demokratie in Amerika, (Hg.) J. P. Mayer, Th. Eschenburg, H. Zbinden, [1835; 1976], 226f.
Money to burn
Day by day, night by night / I ain’t gonna mind that warnin′ light / I’m findin′ out, it’s too late to turn / Got nothing to lose, and money to burn / Oh, money to burn / […] / Red light night / In your cheap sleazy blue suit / Tell me everything I wanna hear / Anything but the truth / […] / Day by day, night by night / I ain’t gonna mind that warnin′ light / I’m findin‘ out, it′s too late to turn / Got nothing to lose / Oh! And money to burn / I got money to burn (Samantha Fish. Runaway, CD (2011), Track 4: Money To Burn)
Egon Mushroom: Kommen Sie doch ’rauf auf die Bühne, damit ich Ihnen den Scheck überreichen kann! (Die Menge tobt. Eine Frau mittleren Alters steigt auf das Wahlkampfpodium und strahlt über das ganze Gesicht.)
Mrs. Middle America: (Hält ihre Hände vor ihr Gesicht.) Danke, Danke, Danke! (Nimmt den auf Pappe aufgezogenen Scheck entgegen.)
Egon Mushroom: Wollen Sie nicht etwas sagen?
Mrs. Middle America: Oh ja, natürlich! Danke, Danke, Danke! Ich glaube an alles, was Sie tun. Sie benutzen Ihren Reichtum, um die Redefreiheit zu schützen. Gott schütze Sie! Ich habe Sie schon immer bewundert. Für freie Rede und das Recht, Waffen zu tragen! Danke für den Scheck! (Geht mit dem symbolischen Scheck über eine Million Dollar unter dem Arm von der Bühne ab.)
Egon Mushroom: Ich darf den Leuten im Publikum mal kurz erklären, wie das jetzt bis zum Wahltag am 5. November gehen wird. Sie müssen sich mit Namen und Adresse registrieren lassen, um meine Eingabe zum Erhalt der amerikanischen Verfassung zu unterstützen. Und jeden Tag wird durch eine Lotterie ein Gewinner von einer Million Dollar ermittelt werden. (Aufbrandender Beifall aus der vollbesetzten Halle, wo die Teilnehmer dicht an dicht nebeneinandersitzen.)
Egon Mushroom (strahlt): Sie glauben gar nicht, wie wohl mir das tut, diese Energie, die Sie hier zu mir herauf schicken, es entzündet ein Feuer in meiner Seele!
Die Menge (ruft im Chor): Mushroom! Mushroom! Mushroom! Mushroom! Mushroom!
Egon Mushroom: Danke, danke! Sie sind sehr freundlich. Ähem, ich möchte Sie hier nur darauf hinweisen, daß Sie hier im Staate Pennsylvania nur noch bis Mitternacht Zeit haben, sich registrieren zu lassen. Also: Registrieren! Registrieren! Registrieren! Denn vergessen Sie nicht: Präsident Dump ist der einzige, der die Demokratie retten kann. So! Wissen Sie, wenn man die Leute fragen würde, was wohl die inspirierendste Sache gewesen ist, die Menschen jemals getan haben, dann würden sie sagen: daß wir auf den Mond geflogen sind. Und wir werden bald auf dem Mars sein! Es wird eine Stadt auf dem Mars geben! Viele Städte!
Die Menge (unisono): Wir lieben dich Egon! Wir lieben dich Egon! Wir lieben dich!
Egon Mushroom: Thank you, thank you so much! Vergeßt nicht, euch alle registrieren zu lassen, denn wenn Präsident Dump nicht wieder Präsident wird, bedeutet das das Ende der Demokratie in Amerika. Und das wollen wir doch wohl alle nicht? Man hat mich immer wieder gefragt, warum ich nicht selbst für diesen Job kandidiere. Zunächst einmal geht das schon aus formalen Gründen nicht, denn ich bin nicht in den USA geboren, und die Verfassung verbietet die Kandidatur eines Ausländers. Doch das macht mir gar nichts, ich hasse Politik. Ich mag es viel lieber, Dinge aufzubauen und vor allem Dinge produzieren zu lassen, die die Leute lieben.
Frau Pannemeyer (schaltet mit einer Fernbedienung den laufenden Fernsehapparat ab): Greulich, dieser Kerl! Mir wird ganz schlecht von diesem Gefasel. Aber Sie (wendet sich zu dem neben ihr sitzenden Prof. Friedrich Lensing) wollten sich diese Veranstaltung ja einmal zu Gemüte führen. Na, also ich bin bedient. Diese Amerikaner sind doch Idioten, die man für Geld zu allem bewegen kann. Die schnappen nach dem geheiligten Dollar ebenso wie unser Lumpi nach der Knackwurst, wenn man ihm eine hinhält.
Prof. Friedrich Lensing: Sie haben schon Recht, liebe Frau Pannemeyer, das ist die Neue Welt, das ist Amerika. Das Zahlungsmittel, der Dollar, ist das große Symbol dieses großen Landes. Alles wird ausgedrückt durch diesen Seelengeneralnenner und Lebensgradmesser. Vergessen Sie auch nicht, daß in Amerika die politischen Wahlkämpfe stets erst einmal Kämpfe um das Geld sind, die Zahlen sprechen für sich, es sind inzwischen dreistellige Millionenbeträge, die die beiden dort existierenden Parteien einwerben. Damit machen sie sich natürlich abhängig von den Geldgebern, die ihr schönes Geld ja nicht aus edelmütigen Motiven hergeben, im Gegenteil, sie wollen einen Gegenwert dafür haben. Wer das meiste Geld sammelt, hat die meiste Werbezeit im Fernsehen und im Internet. Er ist dann der Dollarkönig.
Frau Pannemeyer: Und das alles für diesen widerlichen Kerl, diesen Dagobert Dump, der so viel auf dem Kerbholz hat, daß er eigentlich für den Rest seines Lebens im Kittchen sitzen müßte. Selbst der größte Teil seines Geldvermögens gehört eigentlich gar nicht ihm, es beruht alles auf gefälschten Konten und anderen Schwindeleien. Und so ein Individuum, so ein Verbrecher war für vier Jahre Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Also, als er unlängst beinahe von einem Attentäter ermordet worden wäre, da habe ich ganz im Stillen das schon ein bißchen bedauert, daß der Schütze aus dem Hinterhalt nicht richtig getroffen hat. Denn das habe ich aus meiner Schulzeit denn doch fürs Leben mitgenommen: Der Tyrannenmord ist gerechtfertigt. (Fällt in den Zitiermodus): »Zu Dionys, dem Tyrannen, / schlich Damon, den Dolch im Gewande: / Ihn schlugen die Häscher in Bande, / ›Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!‹ / Entgegnet ihm finster der Wüterich. / »Die Stadt vom Tyrannen befreien!‹ Das ist von Schiller, Friedrich Schiller. Ein deutscher Klassiker.
Biggi Pannemeyer (Tochter von Frau Pannemeyer und Ärztin im Allgemeinen Krankenhaus Celle, die übers Wochenende zu Besuch bei ihrer Mutter in Hannover ist): Ach Mutter, nun laß’ mal gut sein. Das hilft uns auch nicht weiter, wenn sich die Menschen gegenseitig aus dem Wege räumen, nur weil dem einen die Nase des anderen nicht paßt.
Frau Pannemeyer: Nase? Welche Nase? Dieser Dump ist doch von oben bis unten und von außen nach innen durch und durch verkommen! Ein richtiger Schweinehund. Es ist mir unbegreiflich, wie es tatsächlich Menschen geben kann, die einer solchen verabscheuungswürdigen Person eine Stimme geben können! Und dieser Mushroom ist auch nicht besser, ich will nicht wissen, wie der sich sein vieles Geld zusammengegaunert hat.
Biggi Pannemeyer: Das Vermögen dieses Egon Mushroom wird im ›Bloomberg Billionaires Index‹ auf 270 Milliarden Dollar geschätzt. Stell’ dir das mal vor! Das ist die tägliche Million, die er an die Wählermasse verschenkt, das ist ein Klacks für den. Das merkt der ja gar nicht, daß es weniger wird. Und ein richtiges Geschenk ist es ja auch eigentlich nicht, denn er erwartet sich davon ja die Wahl dieses Dumps und damit eine künftige Absicherung und Weiterentwicklung seiner Firmengeschäfte.
Prof. Friedrich Lensing: Diese eine Million ist ja doch sehr relativ. Für normale Leute mag das viel Geld sein und in ihrem Glücksrausch werden sie das Geld sicher bald durchgebracht haben, aber ein Vertreter der 400 reichsten New Yorker hat 1888 gesagt: »Ein Vermögen von einer Million ist nur respektable Armut.« Das bringt mich auf das Thema, weshalb diese sehr reichen Leute sich nicht einfach damit begnügen, ihren unglaublichen Reichtum zu genießen und sich auf die faule Haut zu legen, so wie ich das machen würde, wenn ich keine Geldsorgen mehr hätte und mich ganz meinen Studien widmen könnte. Die Reichen brauchen Aufmerksamkeit und Macht, und die erhalten sie nur, wenn sie in der Öffentlichkeit untereinander konkurrieren. Vor über zwanzig Jahren habe ich einmal dazu ein sehr interessantes Buch gelesen, es stammt von Richard Conniff und heißt ›Magnaten und Primaten. Über das Imponiergehabe der Reichen‹ (2002). Der Autor benutzt dazu den Zoomorphismus, das ist die Methode, Menschen so zu betrachten, als wären sie Tiere. Warum gibt es so viele Multimillionäre, die sich eigene Flugschiffe, ja sogar richtige Raketen zugelegt und sich in diese gefährlichen Vehikel begeben haben? Doch nur, um den anderen Millionären und Milliardären zu beweisen, daß sie besser sind als die anderen dieser kleinen Gemeinschaft. Dieser Richard Branson hat sogar eine Fluggesellschaft gegründet, nur um zu demonstrieren, daß er weit mehr als ein bloßer Angeber ist, obwohl er genau das ist.
Biggi Pannemeyer: Haben Sie gehört, was dieser Mr. Mushroom am Ende seiner Rede gesagt hat. Moment, ich bekomme es noch ungefähr zusammen. Er hat gesagt, daß er Politik haßt und daß er es viel lieber mag, Dinge aufzubauen, vor allem Dinge produzieren zu lassen, die die Leute lieben. Ich finde das schon bemerkenswert, denn damit hat er seinen Geschäftspartner, diesen Mr. Dump, doch auf den zweiten Platz verwiesen und deutlich gemacht, wer wen dominiert. Dump ist sein Produkt und er setzt einen wenn auch sehr geringen Teil seines riesigen Geldvermögens dafür ein, daß dieser Dump als politische Person zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird. Er ist seine Handpuppe.
Prof. Friedrich Lensing: Das haben Sie sehr gut gesehen, liebe Biggi, sie sind nicht nur eine gute Ärztin, der man vertrauen kann, sondern haben auch einen scharfen politischen Verstand.
Frau Pannemeyer: Ja, unsere Biggi war schon als kleines Mädchen ganz schön helle, nicht wahr, meine kleine Biggi?
Biggi Pannemeyer: Mutter! Aufhören! Genug? Du kannst doch in Gegenwart unseres gelehrten Gastes mich nicht so in Verlegenheit bringen.
Prof. Friedrich Lensing: Grämen Sie sich nicht, liebe Biggi, und machen Sie sich nichts draus, liebe Frau Pannemeyer, das ist eben so in Familien, entweder streitet man sich oder man ist, wie in ihrem Fall, die reinste Harmonie. Das ist doch eigentlich wunderschön.
Frau Pannemeyer: Wie recht Sie wieder einmal haben, lieber Herr Professor. Aber was soll nur aus der Welt und der Weltpolitik werden, wenn solche Ganoven mit ihrem vielen Geld und ihren primitiven Lockmitteln womöglich am Ende noch die Wahl gewinnen, weil der durchschnittliche Amerikaner nicht besonders schlau ist und auf jeden billigen Trick reinfällt?
Prof. Friedrich Lensing: Es läuft ja doch alles letztlich zusammen in der gewaltigen Maschinerie, die nicht nur in Amerika herrscht. Alles wird zur Maschine, und damit auch die Menschen, die mechanisch auf Reize reagieren und hilflos nach irgendetwas greifen, das ihnen als Lösung angeboten wird. Ihnen wird ein Theater vorgespielt vom weltgewandten Staatsmann, vom internationalen Bankherrn, vom vorurteilslosen Großindustriellen, von den vielen Schreiberseelen, die ihnen zugunsten Meinung produzieren, und alles im Dienste des Erfolgs und der Macht. Wir kommen nicht los von der Maschinerie, denn sie ist das unbewußte Ziel des abendländischen Menschen. Wir sind abhängig von kurzsichtigen Tagespolitikern, die nur bewegt werden von den Machtbedürfnissen der Gruppen und von solchen Unterstellungen, die jeweils für ihre Gruppe, ihre Partei die angemessensten sind. Alles wird zusammengehalten durch den Selbsterhaltungswillen einer Menschheit, die ihr Leben auf Selbsttäuschung aufgebaut hat, die nicht sehen will. So entsteht der Größenwahn und ihm entsprechen zufällige Sprecher dieses Größenwahns, die allen Ernstes Städte auf dem Mars bauen wollen. Haben Sie gehört, wie auf der Propaganda-Veranstaltung, die wir gerade im Fernsehen erlebt haben, ein Mann aus der Menge rief: »Go to the sun!«. Erinnert das nicht an den alten Mythos von Ikarus, der, übermütig geworden, immer höher flog, der Sonne entgegen, und die Sonne die mit Wachs zusammengehaltenen Flügel schmelzen ließ und er ins Meer stürzte? Das ist der Fluch der Maschine, unter die wir uns alle gebeugt haben und glauben, sie allein löse alle menschheitlichen Probleme. Wirft ein Staat auf dem Gebiet des Nachbarn Bomben ab und schießt mit Raketen, dann meint der Nachbarstaat, die richtige Antwort besteht darin, das dann auch zu tun. Irgendwann, nach vielen Toten und einer verwüsteten Landschaft, endet dieser Krieg dann, aber es gibt keinen Sieger, sondern nur Verlierer.
Frau Pannemeyer: Ach, lieber Professor Lensing, Sie haben ja in allem recht, aber die Wahrheit ist doch sehr schmerzlich anzuhören. Ich hole uns jetzt aus der Küche einen selbstgebrannten Zwetschgenschnaps, der soll uns auf fröhlichere Gedanken bringen.
Die Invasion
A: Was für eine Invasion!
B: Ja, die israelische Armee ist nie unbeschäftigt, sie sagen, sie müßten in den Südlibanon einmarschieren, sonst gebe es niemals Frieden im Nahen Osten.
A: Was reden Sie denn da?! Wovon ich hier spreche, hat die Dimensionen eines Hitchcock-Films. Ja, es ist geradezu die Kopie eines Hitchcock-Films.
B: ???
A: The Birds!
B: ???
A: Also gut, Sie scheinen die Nachricht aus Hilario Ascasubi nicht zur Kenntnis genommen zu haben.
B: ??? Hilario Ascasubi? Was ist das denn?
A: Das ist ein Städtchen mit 5000 Einwohnern in Argentinien.
B: Ja, und? Welcher Operettengeneral hat nun schon wieder geputscht?
A: Kein Militärputsch, sondern die Invasion von tausenden von Vögeln, genauer: Papageien, in dem Städtchen. Sie sind überall.
B: Aus einem nahegelegenen Zoo entflogen?
A: In Argentinien braucht man keinen Zoo, um Papageien zu halten, die leben in den umliegenden Wäldern des erwähnten Städtchens. Sie emigrieren in die Dörfer und Städte, weil ihr natürliches Habitat immer mehr entschwindet, genauer: weil die Menschen durch ihren Raubbau die Wälder abholzen und die hungrigen Vögel auf der Suche nach Futter und Wasser deshalb zu Tausenden Nahrung und Unterschlupf in den von Menschen bewohnten Gegenden finden.
B: Ach so, ja, das ist die Erklärung.
A: Aber nicht die Lösung, denn die Papageien sitzen auf den elektrischen Oberleitungen und zerbeißen diese, so daß es immer wieder zu Stromausfällen kommt. Außerdem hinterlassen sie überall ihre Ausscheidungen und machen die Einwohner wahnsinnig mit ihrem andauernden Kreischen.
B: Wird die Nationalgarde auftreten und die Invasoren mit den geeigneten Waffen erledigen?
A: Sind Sie wahnsinnig geworden? Es sind ohnehin durch die Umweltzerstörung viel weniger dieser schönen Kreaturen übrig gebliebenen als in früheren Zeiten; sie zu erschießen wäre ein zusätzlicher Umweltfrevel, dessen sich die Menschen schuldig machen würden.
B: Na gut, aber wie wird man dann dieser Situation Herr werden?
A: Ein örtlicher Biologe hat in einem Interview erklärt, wir müßten die natürliche Umwelt restaurieren, aber bevor das geschehen ist, müßten wir uns Strategien überlegen, wie man auf die harmonischste Weise in den Städten zusammenleben könnte.
B: In Argentinien? Was für ein Spaßvogel!
Neue Gespräche im Elysium XIX
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Dorothy Parker meets Trude Herr
Dorothy Parker: I’m not a writer with a drinking problem, I’m a drinker with a writing problem.
Trude Herr: Ach, entschuldigen Sie, können wir diese Konversation auf deutsch fortsetzen? Das wäre schön.
Dorothy Parker: Aber ja, meine Liebe, verzeihen Sie mir, Sie sind ja nicht von hier.
Trude Herr: Was heißt von hier? Was meinen Sie denn, wo wir uns hier befinden? Man möcht’ meinen, Sie glauben, wir sind noch auf der Erde.
Dorothy Parker: Of course not. What fresh hell is this?
Trude Herr: Das würd’ ich jetzt auch nicht wieder so sagen. Die Insel der Seligen ist zwar nicht die Sahara, die ich achtmal durchquert habe, doch sie hat auch ihre Vorteile.
Dorothy Parker: Alles was nicht Manhattan ist, kommt für mich überhaupt nicht in Frage, auch wenn ich zeitweise in Hollywood Drehbücher verfassen mußte. Aber die Leute da!
Trude Herr: Vielleicht darf ich mich kurz vorstellen, gnädige Frau. Ich bin die Trude Herr aus Köln, geboren 1927. Mit sechs Jahren habe ich erleben müssen, wie mein Vater nach Polen, ins KZ verschleppt wurde. Der mußte dort dann bis zum Ende des Weltkriegs 1945 als Lokführer arbeiten. Meine Mutter hat uns Kinder während dieser Zeit alleine durchgebracht, an ihr konnte ich sehen, wie eine Frau auch unter schwersten Bedingungen das Leben meistern mußte und konnte. Ich bin dann mit 18 Jahren über die Dörfer getingelt und habe schließlich Büttenreden für den Sitzungskarneval geschrieben. Ich bin dann dort auch aufgetreten, aber der Sitzungskarneval wurde mir bald zu albern. Daß ich Sängerin bin, ist eine Verleumdung meiner Schallplattenfirma.
Dorothy Parker: Ich bin die Tochter von deutsch-jüdischen und schottischen Einwanderern. Wir lebten in einem großen Apartment an der Upper West Side in New York City, das war damals die exklusivste Wohngegend in Manhattan. Wir waren gehobene Mittelklasse. Mein Vater hieß Rothschild und fuhr am Weihnachtstag in seiner Kutsche in die Lower East Side, um Umschläge mit Banknoten an die Armen zu verteilen. Aber genug von mir. Ich kenne Sie! Wenn man auf ›Youtube‹ ihren Namen eingibt, springt als Erstes ein Auftritt in Schwarz-Weiß aus dem Jahre 1959 auf den Schirm. (Sie rezitiert) »Ich will keine Schokolade. Ich will lieber einen Mann. / Ich will einen, der mich küssen / Und um den Finger wickeln kann.« Fabelhaft! Diese Direktheit! Das muß für die damalige Zeit in Deutschland doch für viele Zuhörer ein Schock gewesen sein. Eine Frau äußert sich ungeniert über ihre sexuellen Bedürfnisse.
Trude Herr: Ach ja, erinnern Sie mich nicht daran. Ich weiß, ich habe solchen Schlagern viel zu verdanken, ich habe ja auch noch andere gesungen, und ich bin meinem Publikum immer dankbar für alles, das es für mich getan hat. Ich habe aber auch noch andere Sachen gemacht, verstehen Sie?
Dorothy Parker: Wem sagen Sie das! Wenn man seinen Ruf so einfach ändern könnte! Ich bin festgelegt auf die sarkastische Sprüchemacherin. Wenn den Journalisten in den USA nichts mehr einfällt, also praktisch jeden Tag, dann suchen sie sich einen meiner Sätze heraus, um ihre langweiligen Artikel etwas aufzupeppen. Wollen Sie mal ein paar hören? The first thing I do in the morning is brush my teeth and sharpen my tongue. – I like to have a martini, / Two at the very most. / After three I’m under the table, / after four I’m under my host. – If you wear a short enough skirt, the party will come to you. – I’d rather have a bottle in front of me than a frontal lobotomy.
Trude Herr: Köstlich, wenn ich nicht mein eigenes Theater vor Jahren aufgegeben hätte, dann würde ich Sie auf der Stelle engagieren. Wissen Sie, daß ich mit Mitte Zwanzig angefangen habe, Büttenreden zu schreiben. Das werden Sie jetzt als Amerikanerin nicht so kennen, also die Bütt, das ist rheinisch für ein Rednerpult, hinter dem man während der Karnevalszeit steht und eine meist gereimte lustige Rede hält. Ich selbst wollte aber nicht hinter so einem Pult stehen, da ist doch die halbe Figur weg. Einmal habe ich mich in einem zusammengerollten Teppich auf die Bühne tragen lassen, die beiden Träger haben mich dann auf der Bühne ausgerollt und dann stand ich als Cleopatra da und habe den Leuten im Saal den neuesten Klatsch aus Hollywood verzählt. Ich trat in der Rolle des unbedarften kölschen Mädchens auf, eines dicken Dummerchens. So habe ich mich dann bis zur Selbstverleugnung über meine Körperfülle lustig gemacht, und das ist beim Publikum wirklich gut angekommen. Einmal, da war der Krieg schon fast zehn Jahre vorbei, habe ich ein Besatzungskind gegeben, denn die Soldaten aus den USA sind damals manches Mal eine amouröse Verbindung mit den Töchtern des besetzten Landes eingegangen. Da waren dann natürlich auch Neger darunter. Und so habe ich dann gerufen: »Weil meine Mutter eso jern amerikanische Schokelad jejessen hat, bin ich eso schwarz jeworden.« Das ist sehr gut angekommen, das glauben Sie gar nicht. Dann bin ich noch etwas mutiger geworden und habe eine ›Gangsterbraut‹ gespielt, das wollten die Leute im Sitzungskarneval gar nicht hören, weil es aus dem Asozialenmilieu kam. Dann habe ich ›Die Karnevalspräsidentengattin‹ gegeben, eine Satire auf die Ehegattin eines Sitzungskarnevalspräsidenten, da wurden die Leute richtig böse, das mochten sie nicht, wenn man sie so dargestellt hat.
Dorothy Parker: Wie gut ich das kenne! Ständig hatte ich Anfragen für witzige Sprüche. Einmal habe ich dem Präsidenten der Filmgesellschaft von MGM gesagt: I know this will come as a shock to you, Mr. Goldwyn, but in all history, which has held billions and billions of human beings, not a single one ever had a happy ending.
Trude Herr: Ja, wissen Sie, ich habe ja auch viele Theaterstücke geschrieben, mit mir in der Hauptrolle, das war reine Unterhaltung, so wie man das im Volkstheater eben so macht. Also so Szenen wie diese hier mit einer vulgären Person, die in dem Stück, sich selbst bewundernd, in einem biederen Kostüm vor dem Spiegel steht und zu sich sagt: »Jetzt bin ich aber en fein Dame, leck mich am Arsch!« Und da war ich dann schon über 50 Jahre alt, da spielte ich eine Trinkerin, das versoffene Lenche, die sich in einer Kneipe zu Tode tanzt, nur um einen Schnaps zu bekommen. Das mochte das Publikum nicht. Die Leute wollen ein Happy-End. Sie wollten immer nur Klamauk sehen, aber man kann doch nicht ewig am Kronleuchter hängen. Ich saje, wat ich meine, jon ich och dodran kapott, / Schad ich mir och selvs, ich kruffe keinem en de Fott. / Mer hät doch e Hätz noch, / Ne Kopp, e Jewesse, / Un sin Meinung verkäuf me nit om Maat.
Dorothy Parker: Da müssen Sie mir jetzt aber weiterhelfen, ich beherrsche den Kölner Dialekt wirklich nicht.
Trude Herr: Ich sage, was ich meine, geh’ ich auch daran kaputt, / Schade ich mir auch selbst, ich krieche keinem in den Arsch. / Man hat doch ein Herz noch, / ’nen Kopf, ein Gewissen, / Und seine Meinung verkauft man nicht auf dem Markt.
Dorothy Parker: Das kommt mir sehr entgegen, auch wenn man sich ein bißchen was vormacht, wenn man glaubt, man sei unabhängig und müsse nicht für den Markt produzieren.
Trude Herr: Ja, wissen Sie, da haben Sie schon recht. Als ich meine Filme über die Sahara verkaufen wollte, haben die Produzenten mir gesagt: Nein, das paßt doch gar nicht zu Ihrem Image. Machen Sie das doch nicht, singen Sie lieber was. Aber natürlich gibt es keine Komik ohne Salz. Was mich wirklich interessiert, das ist der Moment, wo die Komik umkippt, wo die Komik plötzlich nicht mehr komisch ist und wo die Tragödie plötzlich zum Lachen ist. Nur so Witze erzählen, das interessiert mich nicht. Ich habe versucht, Geschichten zu schreiben, die heute spielen und heute möglich sind.
Dorothy Parker: Das genau habe auch ich versucht, über Dinge zu schreiben, die ich wirklich kenne: die Welt berufstätiger urbaner Singlefrauen in New York. Davon handeln meine Kurzgeschichten. Beobachtungen über die Damen der Upper-Class. Ich gebe die Alltagserlebnisse der städtischen Mittelklasse der 1920er Jahre wieder. Einmal habe ich, ich war zeitweise politisch sehr aktiv, die Charity-Ladies der High Society um Spenden für den ›Spanish Children’s Milk Fond‹ gebeten. Sie wissen, in Spanien tobte Mitte der dreißiger Jahre der Bürgerkrieg, aber die Damen der Gesellschaft haben nichts gegeben. Diese engherzige Mentalität habe ich in der Short story ›Das Butterkremherz‹ beschrieben.
Trude Herr: Ich bin politisch erzogen worden, wir waren Kommunisten. Wenn ich innerlich entscheide, dann entscheide ich, wie ein Kommunist entscheidet. So ähnlich wie es doch Herr Marx und Herr Engels dargelegt haben. Der Mensch ist gar nicht gut und das müßten wir einmal wissen, daß wir nicht gut sind. Ich bin ein einfacher Mensch und sehe die Dinge konkret. Ich bin nicht damit einverstanden, was man im Namen von Marx und Engels alles treibt. Ich weiß auch, daß die Kommunisten Mist bauen, allenthalben, aber irgendwo ist man doch da zuhause. Und dann habe ich den Ruck nach rechts gemacht und bin in die SPD eingetreten.
Dorothy Parker: Espede?
Trude Herr: Ach so, ja, das muß ich erklären. SPD, das heißt auf deutsch: Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Die kommunistische Partei ist 1956 in der Bundesrepublik Deutschland verboten worden.
Dorothy Parker: Wir haben in den USA nur zwei Parteien, die Demokraten und die Republikaner, aber beide werden vom großen Geld getragen. If you want to know what God thinks of money, just look at the people he gave it to. Die einen vertreten das große liberale Geld, die anderen das große konservative, oder, wie man in letzter Zeit feststellen muß, das große reaktionäre Geld. Alles spielt sich über den Dollar ab. Wenn Sie über keinen großen Wahlkampffond verfügen, können Sie es gleich bleiben lassen. Der Sozialismus oder gar der Kommunismus hat hier keine Chance. Der Kommunismus bestand zu Zeiten der Kommunistenverfolgung, als Senator McCarthy unter jedem Bett in Amerika einen ›Red‹ oder wie man auch sagte, einen ›Commie‹ vermutete, nur als Phantom.
Trude Herr: Wissen Sie, ich wollte irgendwann etwas ganz anderes machen. Und deshalb bin ich dann auch in die Wüste gefahren, mehrmals, immer wieder. Wüste, schon der Name ist falsch. ›Weite sei um dich‹, so begrüßt man sich hier. Für die Nomaden ist sie der Begriff der Weite, Platz, einfach Platz. Im Morgengrauen quält diese Landschaft noch nicht. Bevor die Sonne aufgeht, weht sogar ein frischer Wind, so, als sei dies ein Auftakt zu der Schreckensherrschaft des Tages, der Sonne, der Hitze. Und wenn erst die Helligkeit voll da ist, wenn der Sand wie Salz in den Wunden brennt, weiß man um die ungeheure Kraft der Wüste. Es ist eine Landschaft, die hart und klar ist, keine Lüge hat in ihr Platz. Sie verlangt das Äußerste und gibt gleichzeitig alles.
Dorothy Parker: Ich bin doch immer eine Großstadtpflanze geblieben. Ja, ich war längere Zeit in Kalifornien, aber da hat es mir nicht gefallen. New York war für mich von Anfang an die ganze Welt. Deshalb bin ich immer wieder dorthin zurückgekehrt, und als ich älter und auch nicht mehr ganz gesund war, dorthin zurückgezogen und habe mich in eins dieser Apartmenthotels eingemietet, wo für alles gesorgt wird. In ›Ladies im Hotel‹ habe ich das vergeudete Leben jener Frauen beschrieben, die überall in den USA in diesen kleinen Apartmenthotels leben. Sie haben genug Geld und noch mehr Zeit, und ihre einzige Beschäftigung besteht darin, das eine auszugeben und das andere totzuschlagen. Sie sind nicht mehr ganz jung. Aber sie achten sehr auf sich und können sich gut und gerne auf weitere zwanzig Jahre freuen, in denen sie genau dasselbe tun werden wie im Augenblick, nämlich gar nichts. Aus den jungen Stenotypistinnen mit den falschen Erwartungen sind verbitterte ältere Frauen geworden. Diesen Gefühlszustand moderner Frauen habe ich immer wieder beschrieben.
Trude Herr: Vier Jahre vor meinem Tod bin ich auf eine Insel gegangen, eine Fidschi-Insel, um dort mich ganz dem Schreiben zu widmen. Mein Leben hat sich immer außerhalb der gesicherten bürgerlichen Grenzen abgespielt. Ich habe mit meiner Theaterarbeit und den Unterhaltungsfilmen viel Geld verdient, aber oft noch mehr ausgegeben, wozu ist Geld schließlich da? Ich habe aber nie vergessen, daß, wer das Elend der Arbeiterviertel um die Chemische Fabrik in Köln-Kalk übersteht, dies nie ohne irgendeinen Schaden tut.
Dorothy Parker: Bei mir hat der Alkohol sehr stark in mein Leben hineingewirkt. Noch am Abend vor meinem Tode war ich betrunken. Man hat mit mir manche Versuche unternommen, mich von der Flasche wegzubringen, aber der Trieb zum Trinken war doch immer stärker. Und meine geliebten Chesterfield-Zigaretten!
Trude Herr: Während meiner letzten Lebensjahre mußte ich manches Mal damit rechnen, daß man mir wegen meines starken Rauchens ein Bein abnehmen muß. Nicht zu reden von den tatsächlich hineinoperierten künstlichen Venen und den Bypaß-Operationen. Und mein Pillenbeutel hat mich stets begleitet, da habe ich immer wieder wahllos hineingegriffen.
Dorothy Parker: Ich habe drei Selbstmordversuche unternommen, aber alle drei sind gescheitert, stellen Sie sich das mal vor! Was bin ich für eine Versagerin! Während dieser Zeit habe ich immer neue Inschriften für meinen Grabstein verfaßt. Dieser scheint mir am gelungensten zu sein, aber natürlich hat man ihn nicht auf meinem Grabstein eingemeißelt: Wherever she went, including here, it was against her better judgment.
Trude Herr: Ach du meine Güte! Sie sind ja wohl auch wie ich verbrannt worden, und meine Urne wurde im Familiengrab bestattet, und zwanzig Jahre nach meinem Ableben stand dann in der Kölner Presse: »Fast wäre das Grab von Trude Herr im Jahr 2011 eingeebnet worden. Hintergrund: Die Liegezeit des Grabs war nach 20 Jahren abgelaufen. Es fand sich zunächst niemand mehr, der die Liegezeit und die Kosten von 1. 500 Euro für weitere 25 Jahre verlängern wollte. Nach einer öffentlichen Debatte meldete sich ein anonymer Spender, der die Kosten übernahm. So ist die Liegezeit für das Grab von Trude Herr nun bis mindestens 2036 gesichert.« Ist das nicht komisch? Liegezeit! Wo ich doch nur als Dose voller Staub da eingebuddelt worden bin.
Dorothy Parker: Warten Sie, bis ich Ihnen die Geschichte meiner Urne erzählt habe. Ich gehe also in einem Krematorium in Flammen auf. Die Asche, oder genauer gesagt: einen Teil der Asche, denn man befüllt diese Gefäße niemals mit der ganzen hinterbliebenen Asche des Verstorbenen, da immer Knochenteile übrigbleiben, die man dann einfach in die Mülltonne wirft, also: meine Asche gelangt in eine Urne… und dann holt sie niemand ab. Ich war zu Lillian Hellman, die sich in den letzten Jahren meines Lebens rührend um mich gekümmert hat, nicht sehr nett und habe sie nicht als Gesamterbin in meinem Testament eingesetzt, sondern die NACCP, das ist die Organisation, der Martin Luther King jr. angehörte, die ›National Association for the Advancement of Colored People‹. Jedenfalls wird die Urne zu einem Wanderpokal und landet nach einigen Zwischenstationen, über zwanzig Jahre nach meinem Tod, im Jahr1988, bei der NACCP. Die hat ihren Hauptsitz in Baltimore. Nun kommt es. In einem nach mir benannten ›Memorial Garden‹ wird auf einer Rasenfläche die Erde ausgehoben und meine Urne dort beigesetzt. In Baltimore! Einer Stadt, wie eine Biographin völlig zutreffend schrieb, die ich niemals freiwillig betreten hätte. Wenn sie wenigsten so viel Humor bewiesen hätten und meine selbsterfundene Grabinschrift dort eingraviert hätten: ›Wo immer sie auch hinging, einschließlich hierher, sie tat es wider bessere Einsicht‹.
Trude Herr: Da sind Sie dann aber nicht auf dem neuesten Stand der Urnenverbringung. Vor drei Jahren, 2021, wurde Ihre Urne nach New York überführt und Ihr Grabstein hat eine neue Inschrift, die auch von Ihnen stammt: Leave for her a red young rose, / Go your way, and save your pity; / She is happy, for she knows / That her dust is very pretty.
Dorothy Parker: Well, home at last. Menschen sollten entweder jung oder tot sein.
Döner oder Currywurst?
Für meinen ehemaligen Studienkollegen und Gourmet-Freund Professor Horst Dreier zum 70. Geburtstag am 7. September 2024
Heute Abend im Hannele. Ein gräßliches Machwerk, sozialdemokratisch-realistisch, dabei von krankhafter, sentimentaler Mystik, überhaupt scheußlich. Wir gingen nachher zu Borchardt, um uns durch Champagner und Kaviar wieder in eine menschliche Stimmung zu versetzen. (Chlodwig Carl Viktor Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst: Denkwürdigkeiten, Stuttgart 1906, Bd. 2, 507)
A: So, da wären wir also im ›Adlon‹. Es war aber auch höchste Zeit, daß wir nach so langer Abwesenheit wieder einmal in diesem schönen Grand Hotel eingecheckt haben. Man gönnt sich ja sonst nichts. Schöne Terrasse, was?
B: Wie wahr. Eigentlich ist es ja das ›Kempinski‹, nicht wahr, und heißt heute etwas umständlich ›Hotel Adlon Kempinski‹.
A: Ach, die Geschichte dieses feinen Grand Hotels interessiert mich gar nicht so sehr, aber dagewesen muß man schon gewesen sein. Adlon verpflichtet, haha.
B: Da will ich nicht widersprechen. Aber was bestellen wir denn nun aus dem ›Lorenz Adlon Esszimmer‹, wie das angegliederte Hotelrestaurant heißt. Übrigens schreibt sich das Eßzimmer mit Doppel-S, das haben wir dieser Rechtschreibreform zu verdanken. Na, vielen Dank, da könnte einem schon vor der Bestellung der Appetit verdorben werden.
A: Dann schauen wir doch einmal auf die Menü-Karte. Aha, da haben wir die Fünfgänge- und die Sechsgänge-Menüs. Nein, das ist mir heute zuviel des Guten. Ich will mich nachher ja noch in Berlin etwas umsehen und nicht nach dem Mittagsmahl schlapp im Salonsessel der Lounge herumhängen. Also, da hätten wir: Taschenkrebs, Pâté en croûte, Bretonischer Hummer, Wachtel – ach Gott, Wachtel, wie gut, daß meine bessere Hälfte nicht anwesend ist, da würde ich was zu hören bekommen… Weiter: Japanisches Kagoshima Wagyu. Was mag sich dahinter verbergen? Ah ja, Entenleber und australischer Wintertrüffel. Wer’s mag. Ich sage Ihnen, ich war mal eingeladen zu einer Trüffel-Rallye, da haben wir Trüffel gefressen, bis sie uns aus den Ohren gekommen sind. Das legen wir mal gleich beiseite. Mmhh… Omelette Surprise mit Ossietra Kaviar. Gott ja, Kaviar, nun sehen Sie mal weiter unten auf der Karte, da haben wir weitere Sorten: Transmontanus Kaviar, Baeri Kaviar, Kristall Kaviar, Prestige Ossietra Kaviar, Golden Ossietra Kaviar. Dazu Blinis, Ei und Sauerrahm, wie gehabt. Wissen Sie, erinnern Sie sich noch an die achtziger Jahre? Da gab es in den USA, ich mußte damals häufig über den Großen Teich fliegen, eine Spezialität, hähä, die hieß ›Beggars Purse‹. Das war ein Crêpe, gefüllt mit Kaviar, Crème Fraiche, Schnittlauch und einem hartgekochten Ei. Das war die Lieblingsspeise der damaligen Yuppies. Lang, lang ist’s her. Das würde sich heute auch keiner mehr trauen, diese Köstlichkeit ›Geldbörse der Bettler‹ zu nennen. Wir haben uns seitdem ja alle ein soziales Gewissen zugelegt.
B: Mir fällt gerade ein, da wir doch hier draußen bei schönstem Sommerwetter, und das Anfang September, hier auf der Terrasse des ›Adlon‹ sitzen: Wieso bestellen wir uns nicht einfach ein Fladenbrot mit gegarten Kalbsrücken-Filetstreifen, eingelegtem Rot- und Weißkraut, Tomatenscheiben, einer Trüffelcreme und frisch gehobelten Trüffelspänen? Das ist der ›Adlon-Döner‹! Er soll auf der Terrasse und in der Lobby Lounge mittlerweile zum beliebtesten Gericht avanciert sein.
A: Prächtig, wunderbar! Das kommt der ›Beggars Purse‹ nahe und belastet zudem Magen und Geldtasche nicht so sehr. 37 Euro für einen ›Adlon-Döner‹, das ist ja fast geschenkt. Und es ist eine Delikatesse.
B: Wenn man bedenkt, daß der Durchschnittspreis eines normalen Döners in Berlins Imbißbuden 7, 30 € beträgt, ist das nicht zuviel, denn man ißt ja das Ambiente mit.
A: Völlig richtig. Obwohl, wenn ich es mir jetzt richtig überlege, man könnte an der Delikatessenschraube noch etwas drehen. Die haben hier auch eine Currywurst mit Pommes Frites, für nur 26 Euro pro Nase. Dazu könnten wir einen eisgekühlten Rosé trinken, damit auch die Dekadenz zu ihrem Recht kommt.
B. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Wir könnten beides bestellen, und jeder darf von dem Döner und der Currywurst einmal abbeißen.
A: Mein Herr, ich darf doch bitten. Wenn Sie hier Ihrer Neigung zum Proletkult nachgeben wollen, dann bitte ohne mich. Alles hat seine Grenzen.
B: Entschuldigen Sie, Sie haben ja recht, nur müssen wir uns eben bald entscheiden.
A: Wenn ich es mir recht überlege, dann werde ich keins von beidem bestellen. Statt dessen werde ich wieder einmal meinem alten Freund, dem Herrn Lobster einen Platz auf meinem Speiseteller einräumen. Es geht doch nichts über einen gut zubereiteten Bretonischen Hummer. Herr Ober!
The Attention Whore
Sobald mir mein Verstand sagte, es sei Zeit, Schluß zu machen, trat die Begehrlichkeit auf den Plan und flüsterte mir ins Ohr: »Sei nicht so töricht, bleib bei deinem Handwerk!« (Daniel Defoe: Moll Flanders, 1722)
Prof. Friedrich Lensing (steht mit einem Gartenschlauch am Zaun und ruft seiner ebenfalls mit einem Gartenschlauch hantierenden Nachbarin, Frau Pannemeyer, zu): Guten Tag, Frau Nachbarin, na, Sie hatten ja den gleichen Gedanken wie ich. Das ist aber auch dieses Jahr eine Sommerhitze, das hatten wir schon lange nicht mehr.
Frau Pannemeyer: Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Nun schauen Sie sich meinen Zwetschgenbaum an, der hängt so voll, man sieht die Blätter gar nicht mehr! Das muß alles abgeerntet werden, das wird noch eine Heidenarbeit. Und damit ist die Chose ja nicht vorbei, dann geht es erst richtig los. Aussortieren, waschen, aufschneiden, entkernen, Hefeteig vorbereiten, Butter, Zucker und Zimt zusammenrühren, den ausgerollten Teig mit den Zwetschgenspalten in Reih und Glied belegen, mit der Buttersoße einpinseln, und dann hinein damit in den Ofen. Meine Familie wartet schon auf den Kuchen, aber glauben Sie, die helfen mir? Nicht die Bohne! Futtern wollen sie den warmen Zwetschgenkuchen, aber keinen Handschlag dafür tun. So sieht es aus!
Prof. Friedrich Lensing: Na, das tut mir aber leid, daß alle Arbeit auf Ihren Schultern liegt. Andererseits, man kann diese schönen Früchte auch nicht am Baum verfaulen lassen. Ich würde Ihnen ja gern beim Abpflücken helfen, aber nun gucken Sie mich an: Soll ein älterer Herr mit einem krummen Rücken noch auf Bäume klettern? Wohl eher nicht.
Frau Pannemeyer: Ist schon gut, Herr Professor, ich weiß doch, daß Sie die besten Absichten haben, aber das würde ich nicht wollen, daß Sie in den Zwetschgenbaum steigen. Diesen Anblick könnte ich nicht ertragen. A propos ›Anblick‹. Haben Sie das gesehen? Diese Person, die eine Partei gegründet hat und ihren eigenen Namen als Namen der Partei gewählt hat? Diese Partei schimpft sich: ›Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit‹. Na, also wissen Sie, das ist doch die Höhe! Nicht einmal dieser Hitler hat seine Partei nach sich selbst benannt. Und da kommt diese Person daher und will Wählerstimmen einfangen mit ihrem Namen als Lockvogel! Unglaublich! Meine Tochter Biggi, Sie wissen, die Ärztin ist am Krankenhaus in Celle, die hat mir neulich gesagt: Jaja, die weiß wie man es macht heutzutage: Ich! Ich! Ich! Dazu zieht diese Person bei jedem Auftritt ein neues teures Kostüm an und tut so, als sei das Politik. Im Parteiprogramm kommt das Wort ›Sozialismus‹ nicht mehr vor. Diese Wagenknecht war doch immer eine lupenreine Kommunistin. Und da kommt diese Person daher und antwortet, wie mir Biggi erzählt hat, als sie 1996 die schönste ihrer vielen Blusen zur Verlosung für eine Abonnement-Werbekampagne der Tageszeitung ›Junge Welt‹ gespendet hatte, auf die Frage eines Journalisten, wie viele Blusen sie spenden würde, wenn es die DDR wieder gäbe, sie geantwortet hat: »Natürlich alle, die ich habe!«
Prof. Friedrich Lensing: Das erinnert mich an Schopenhauer. Der hat eine Abhandlung geschrieben mit dem Titel ›Von dem, was Einer vorstellt‹. Darin setzt er auseinander, daß es im Menschenleben wenig darauf ankomme, was man ist, viel aber auf die Meinung der anderen, für welche man ›etwas bedeutet‹. Diese Dame spielt mit unseren Illusionen. Sie weiß, daß die Menschen zunächst immer auf das äußere Erscheinungsbild schauen. Und da sie nicht ganz unattraktiv ist, kleidet sie sich schick, tritt als große elegante Dame auf und meint, das reiche schon aus, um die Sympathie ihrer Wähler zu gewinnen. Ein Programm würde da nur im Wege sein. Sie ist das Programm, und deshalb scheint es mir auch nur konsequent zu sein, daß sie sich selbst in den Mittelpunkt der Partei stellt und ihren Namen als Markenzeichen für diese Partei gewählt hat.
Frau Pannemeyer: Meine Biggi sagt aber auch, das sei nicht demokratisch, alle Führungspersonen müssen sich innerhalb der Partei immer wieder zur Wahl stellen, aber wenn eine Partei, also diese ›Sahra-Partei‹, auf eine Person zugeschnitten ist, dann kann das nicht den Grundsätzen der innerparteilichen Demokratie gemäß sein. Obwohl, wie mir Biggi auch gesagt hat, diese Eine-Frau-Partei soll nach den Verlautbarungen dieser Partei sich umbenennen, sobald sie sich etabliert hat. Wann und wie diese Umbenennung erfolgen soll, wird in den vorliegenden Äußerungen dieser Partei nirgendwo gesagt. Wissen Sie, was ich glaube? Das ist dann doch der bis auf die Spitze getriebene Personenkult, den man damals in der DDR und der Sowjetunion betrieben hat. Ich erinnere mich noch an diese Fernsehübertragungen im DDR-Fernsehen, zum 1. Mai, wo man auf den Straßen von Ost-Berlin die vielen Menschen gesehen hat, die große Plakate vor sich hertrugen mit Fotos von Ulbricht und Honecker. Ekelhaft war das, diese häßlichen alten Männer, denen da ungeniert in aller Öffentlichkeit gehuldigt wurde!
Prof. Friedrich Lensing: Was weiß denn der Eine vom Anderen? Daß du blonde oder schwarze Haare hast, daß du einen Bart trägst oder nicht, daß du groß oder klein bist. Nach solchen Merkmalen, wie sie unmittelbar in die stumpfen und dumpfen Sinne fallen, bauen sich die Menschen ihr Weltbild. Nur die Bedürfnisse, Vorurteile, Wünsche, Sehnsüchte verraten, welches Weltbild man sich zurechtgemacht hat. Diese Dame, die sich selbst zur Wahl stellt, ist für die Wähler nur die Illusionsfassade, an denen sich diese Sehnsüchte emporranken. Um die Phantasie der Massen in Gang zu setzen, ist es notwendig, daß man die Gelegenheit bekommt, sich aus diesen Personen ›etwas zu machen‹. Napoleon nennt das ›Prestige‹.
Frau Pannemeyer: Ja, da haben Sie schon recht. Was mich aber ganz besonders empört bei dieser Person, das ist, daß sie sich an einen aufs Altenteil verschobenen Politiker rangeschmissen hat. Der Altersunterschied beträgt sechsundzwanzig Jahre. Das ist doch keine Liebe, da können Sie mir nicht mit kommen. Das ist doch eiskalte Berechnung von dieser Person. Nein, es ist abscheulich, wozu die Menschen fähig sind, sich dermaßen zu prostituieren, nur um Macht zu bekommen. Dieser alte Mann dient der Dame doch nur dazu, seine politischen Erfahrungen anzuzapfen und für ihre Karriere auszunutzen. Denn darum geht es dieser Person doch einzig und allein. ›Vernunft und Gerechtigkeit‹! Das steht gleich hinter diesem Kürzel ›BSW‹. Vernunft und Gerechtigkeit, was für ein Quatsch! Früher hat man solche leeren Redensarten mit der Formel gekontert: ›Friede, Freude, Eierkuchen‹. Ekelhaft!
Prof. Friedrich Lensing: Grämen Sie sich nicht, liebe Frau Pannemeyer, es hilft ja nichts. Die Welt will betrogen sein. Es wird immer wieder solche Personen geben, die nach dem Motto Schopenhauers handeln, wonach es nur darauf ankommt, was einer in den Augen der Gesellschaft ›vorstellt‹, und viele werden immer wieder darauf hereinfallen. Aber wie es im Schlußsatz von Voltaires ›Candide oder Der Optimismus‹ aus dem Jahre 1759 heißt: »Aber wir müssen unsern Garten bestellen.« Und ich glaube, Ihr Zwetschgenbäumchen hat jetzt genug Wasser bekommen. Legen Sie ruhig den Gartenschlauch beiseite und gehen Sie ins Haus und kochen Sie sich eine Tasse Tee zur Aufmunterung und Beruhigung. Und morgen nachmittag, wenn Ihr Zwetschgenkuchen auf dem Tisch stehen wird, werde ich Sie besuchen und dann wollen wir gemeinsam diesen schönen Gartensommer feiern.
99 Jahre
A: Haben Sie das gelesen? Eine Neunundneunzigjährige wurde jetzt von einem Gericht zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt!
B: Lassen Sie mich raten: Frau am Steuer? Wer in so einem hohen Alter sich noch hinters Lenkrad setzt, ist doch nicht mehr zurechnungsfähig. Man sollte amtlicherseits allen Führerscheinbesitzern den Führerschein mit fünfundsiebzig wegnehmen. Was sage ich: Mit siebzig muß Schluß sein. Diese Tatterer glauben, sie könnten ewig mit ihrem Auto herumkurven, und das vermutlich auch nur, weil sie ja jetzt die Zeit haben, da sie aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind.
A: Nein, nein, da denken Sie in die falsche Richtung, obgleich ich Ihnen von der Sache her völlig zustimme. Hier handelt es sich um ein ganz anderes Gerichtsverfahren. Die neunundneunzigjährige Dame war früher Sekretärin und Stenotypistin und ist wegen dieser Tätigkeit jetzt zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden.
B: Aha! Die Verbrechen der Vergangenheit haben sie eingeholt, reichlich spät, wie ich finde. Was hat man ihr denn vorgeworfen? Unterschlagung, nehme ich an, die Dame konnte mit ihrem Sekretärinnengehalt nicht auskommen und wollte gern auf großem Fuß leben.
A: Nicht so ganz. Ich muß wohl hinzufügen, daß sie ihre Tätigkeit an einem ganz besonderen Arbeitsplatz ausgeführt hat. Sie war Sekretärin des Lagerkommandanten im KZ Stutthof.
B: Was? Was sagen Sie da? KZ! Du liebe Güte, das ist natürlich eine ganz andere Vergangenheit, die sie da eingeholt hat. Aber was hat sie denn damals verbrochen außer der üblichen Erledigung der Korrespondenz?
A: Das Gericht hat in seinem Urteil dazu ausgeführt, sie habe »durch ihre Einordnung in den Lagerbetrieb als zuverlässige und gehorsame Untergebene« gehandelt und damit dem Lagerkommandanten und seinen Adjutanten »physisch und psychisch bei den Massenmorden geholfen«.
B: Sind denn alle anderen Angehörigen dieses Konzentrationslagers auch vor Gericht gestellt worden, in früheren Jahren?
A: Darüber weiß ich nichts, aber man darf annehmen: wohl eher nicht. Die bundesdeutsche Justiz hat sich im übrigen viel Zeit gelassen, als es um die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen nach 1945 ging.
B: Die alte Leier. Das hatte man doch schon nach 1918, als die Verbrechen des Offizierskorps auch nicht verfolgt wurden und man die hohen Militärs, aber auch die Untergebenen weiterbeschäftigte, so als sei das Kaiserreich niemals zusammengebrochen gewesen.
A: In der Tat. Der Bundesgerichtshof, der ein Urteil des Landgerichts Itzehoe jetzt bestätigt hat, sagt zu der Verurteilung der Sekretärin, sie sei durch ihre Tätigkeit »als einzige Stenotypistin für den durchweg bürokratisch organisierten Lagerbetrieb von zentraler Bedeutung« gewesen. Sie sei zwar keine »Haupttäterin«, aber dennoch treffe sie Schuld.
B: Moment mal! Nicht, daß ich diese Dame jetzt verteidigen will, ganz und gar nicht, aber hier stimmt doch etwas nicht. Eine Tippse, wenn ich mir mal eben diesen saloppen Ausdruck erlauben darf, ist doch ein ausführendes Organ, die mechanisch das ausführen muß, was man ihr sagt. Wenn ich meiner Sekretärin ein paar Geschäftsbriefe diktiere, dann schreibt sie fleißig mit, aber sie unterläßt es wohlweislich, dem Diktat auch nur ein Wort hinzuzufügen. Sie soll protokollieren, was ich ihr sage, das ist alles, und dafür wird sie auch bezahlt.
A: Der Bundesgerichtshof wie auch das Landgericht meinen aber, diese Tätigkeit sei »Beihilfe zum Mord«.
B: Ja, natürlich ist das formal gesehen Beihilfe, aber als Sekretärin stand sie damals doch nur vor der Entscheidung: Will ich meinen Beruf weiter ausüben oder kündige ich und bleibe dann vielleicht lange arbeitslos? Sie hätte sicher, bevor sie sich in diesem Lager beworben hat, überlegen können, ob das der richtige, moralisch vertretbare Arbeitsplatz für sie ist. Doch der Arbeitsmarkt ist kein Schauplatz für Moral, es geht dabei nur darum, ob man eine Arbeit angeboten bekommt oder nicht, und wenn das Angebot vielleicht schmal ist, man aber auf eine bezahlte Stelle zum Überleben angewiesen ist, zögert man nicht lange und greift zu.
A: Aus heutiger Sicher hätte sie die Stelle als Sekretärin eben nicht annehmen dürfen, aber sie konnte zugleich auch nicht vorhersehen, wie sich das politische Regime, dem sie diente, entwickeln würde.
B: Mich beschäftigt dabei eigentlich mehr die Frage, wieso man so lange gewartet hat, ein Verfahren gegen diese Sekretärin in Gang zu setzen. Sie ist ja auch kein Einzelfall. Mir fallen eine ganze Reihe von Angeklagten ein, die alt und gebrechlich vor Gericht erscheinen mußten, manchmal im Rollstuhl, und die gleich nach 1945, als sie noch jung und leistungsfähig waren, hätten angeklagt werden müssen. 1945 war diese Sekretärin 25 Jahre alt. Heute ist sie 99 Jahre alt und wird wegen Verbrechen, die Jahrzehnte zurückliegen, angeklagt.
A: Hier kommt die Pointe dieser Geschichte: Die zweijährige Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
B: Was für ein Triumph der Justiz und der Gerechtigkeit! Dann wollen wir hoffen, daß sich die neunundneunzigjährige Sekretärin in ihrem weiteren Leben keiner anderen Straftaten schuldig macht, denn sonst müßte sie am Ende doch noch ins Gefängnis.
Orca!!!
So we sailed on to the sun
Til we found a sea of green
And we lived beneath the waves
In our yellow submarine
(The Beatles: Yellow Submarine, 1969)
Prof. Friedrich Lensing (steht am Gartenzaun und sieht seiner Nachbarin, Frau Pannemeyer, dabei zu, wie sie ganz emsig und selbstvergessen Blumen pflanzt): Schöner Nachmittag, Frau Nachbarin! Sie sind ja ganz fleißig, und was für hübsche Blumen Sie ausgesucht haben! Ich habe meine Naturtrilogie in drei Teile separiert: Tiere, Blumen und Elemente. Das Buch ›Meine Tiere‹ (Berlin 1926) gibt die Psychologie der Verhäuslichung; das zweite ›Blumen‹ (1928) untersucht die Natur- und Kultureinflüsse auf die Pflanzenwelt. Das dritte ›Dämonen‹ (1929) enthüllt die Symbolik elementaren Naturlebens. Zuweilen tragen die bleichen, reinen Vorfrühlingsblumen, die Schneeglöckchen und die Buschwindröschen einen ganz feinen Schimmer von Rot, so wie schamhaftes Erröten in einem Kinderantlitz. Die zahllos flimmernden farbigen Lichte des Nordlichts deutet der Mythos als die Farben und Formen von Blumen, Blättern und Schmetterlingen. Das sind die Keime der Erdkinder, die unruhig im Schoße der geknebelten Göttin auf Befreiung harren. Die Träume der irdischen Sehnsucht brennen als Farben zu Lilien, Rosen und Sommerblumen am nördlichen Abendhimmel, ein Zuruf an das alles Leben erneuernde Licht.
Frau Pannemeyer: Ach, lieber Herr Professor, Sie haben eine Art, die passenden Worte zu finden, und ganz egal, worüber Sie reden, es wird immer ein Gedicht daraus!
Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank, Frau Pannemeyer, zu gütig. Es ist doch aber wahr, was ich sage, nicht nur ein schönes Bild. Doch eigentlich wollte ich mich über ein ganz anderes Thema mit Ihnen unterhalten, doch Ihre schönen Blumen haben mich für einen Moment ganz davon abgelenkt. (Holt tief Luft.) Haben Sie das gelesen? Die Heimatzeitung hat es ganz groß herausgebracht unter der brüllenden Schlagzeile: ›Killerwale versenken große Jacht vor Marokko‹. Da schlägt mein Herz höher, das kann ich Ihnen sagen, Frau Pannemeyer. Wie oft mußte ich lesen, daß die Manatees, die im Deutschen diesen abstoßenden Namen ›Rundschwanzseekühe‹ erhalten haben, von den herumkurvenden Motorbooten der reichen, müßiggängerischen Klasse umgebracht werden. Und nun stehen die Orcas, wie die Killerwale auch genannt werden, Orcinus orca, also Großer Schwertwal, auf gegen die verbrecherischen Machenschaften der Menschen auf den Ozeanen! Der Orca gehört zu den sogenannten ›Spitzenprädatoren‹, das bedeutet: er hat keine Freßfeinde, manchmal aber Nahrungskonkurrenten. Der Mensch sitzt als Spitzenprädator am Gipfel der Nahrungskette, aber in die Meeressökosysteme ist er erst vor kurzer Zeit eingedrungen.
Frau Pannemeyer: Ja, den Artikel habe ich auch gelesen, diese Unterwasserviecher haben ganz gezielt das Ruderblatt des Schiffes angegriffen.
Prof. Friedrich Lensing: Ja! Gewußt wie! Was für herrlich intelligente Tiere! Es soll sich um eine einzige Population von 37 Walen handeln, die zwischen dem Norden der Iberischen Halbinsel und der Straße von Gibraltar im Süden lebt. In dieser Gegend wird, trotz Verbots, beim Fischen Sprengstoff eingesetzt, was natürlich einen Heidenlärm macht.
Frau Pannemeyer: Und Sie meinen, weil die Fischer mit ihrem Dynamit solchen Krach Unterwasser machen, haben die Killerwale beschlossen, dagegen etwas zu unternehmen?
Prof. Friedrich Lensing: Nun ja, das Wort ›beschlossen‹ klingt mir etwa zu menschlich, aber es gibt ja wohl unter den Tieren auch gruppendynamische Prozesse, die dazu führen, daß man dazu übergeht, etwas zu unternehmen und dies zielgerichtet zu tun.
Frau Pannemeyer: Unsere Biggi, unsere Älteste, die ja in Celle als Ärztin arbeitet, hat mir gesagt, Schwertwale könnten durch Boote verletzt worden sein und sich an diese negativen Ereignisse erinnern.
Prof. Friedrich Lensing: Das halte ich für durchaus möglich, wieso sollen nur Elefanten, denen man bekanntlich ein ›Elefantengedächtnis‹ zuschreibt, über solch ein Erinnerungsvermögen verfügen. Nun aber kommt etwas ganz Interessantes! Es gibt Forscher, die meinen, daß es kein Zufall sei, daß die ersten Angriffe gegen Ende des ersten Corona-Jahres aufgetreten sind. Durch Lockdowns und Reisebeschränkungen war der Schiffsverkehr damals stark eingeschränkt. »Die Orcas lernten da zum ersten Mal einen stillen Ozean kennen. Wie angenehm Ruhe ist, hatten sie vorher noch nie erlebt.« Das sagt Karsten Brensing, ein Meeresbiologe und Tierverhaltensforscher. Als dann der Schiffsverkehr wieder zunahm, hätten sie vielleicht verstanden, daß Boote die Ursache für den ständigen Lärm seien.
Frau Pannemeyer: Also ich weiß nicht, haben Sie mir nicht immer wieder beizubringen versucht, daß die Tiere nicht so bewußt handeln und vor allem habe ich doch meine Zweifel, ob die Wale in der Lage sind, die Verbindungen herzustellen zwischen dem Lärm und den Booten.
Prof. Friedrich Lensing: Aber diese Gruppe von Orcas ist doch direkt auf die Ruderblätter zu geschwommen und hat sie attackiert! Da ist doch die Verbindung. Und ich habe gelesen, daß die Orcas sich daran gewöhnt hatten, den Fischern die in langen Schleppleinen gefangenen Thunfische wegzuschnappen, worauf die Fischer auf die Orcas geschossen haben.
Frau Pannemeyer: Ach, und Sie meinen, die Killerwale haben daraufhin einen Rachefeldzug gegen die Fischer begonnen?
Prof. Friedrich Lensing: Unter Wasser kann man die Schifferboote und die Yachten nicht unterscheiden, beide haben eine Länge von etwa 15 Metern.
Frau Pannemeyer: Ja, schon, gewiß. In dem Artikel wird aber auch jemand erwähnt, der meint, es sei einfach so, daß die Orcas die Ruder attackieren, weil sie es können. Der Forscher sagt sogar: »Es ist, als ob die Tiere ihre Geschicklichkeit trainieren.«
Prof. Friedrich Lensing: Trainieren! Ein Wal trainiert nicht, er ist auch kein Mitglied und wird niemals ein Mitglied sein in einem Gymnastik-Studio. Das sind doch alles menschliche Kategorien. Die darf man doch nicht auf diese Tiere übertragen, auch wenn natürlich der Mensch ein Teil der Tierwelt ist. Nein, ich erlebe die Tat dieser Orcas als sehr befreiend, es ist, als ob sie meinem ›Anti-Lärm-Verein‹ unterirdisch beigetreten sind und uns Menschen damit zeigen wollen, wie man sich wehrt und wie man einfach praktisch etwas in die Wege leitet, so wie ich das in meiner ›Philosophie als Tat‹ propagiert habe.
Frau Pannemeyer: Ja, schon, freilich. Aber lassen Sie sich nicht doch etwas zu sehr mitreißen, nur weil das nun passiert ist und das Ganze vielleicht alles auf einem Zufall beruht?
Prof. Friedrich Lensing: Sie haben irgendwie schon recht. Es ist für mich einfach ein freudiges Ereignis, wenn ich höre, daß es Tiere gibt, die sich nicht alles gefallen lassen und zum Gegenangriff übergehen. Vor vielen Jahre sah ich an mir ein Kälbchen vorübergetrieben, um im Schlachtraum der Metzgerei geschlachtet zu werden. Von einer plötzlichen Hellsicht ergriffen, blieb das Tier vor der Schwelle stehen, stemmte sich mit ganzer Kraft gegen seine beiden Treiber, die mit Knitteln es voranzutreiben versuchten und war durch keine Gewalt zu bewegen, über die Schwelle weiter in den blutdunstigen Raum zu gehen. Das Kalb senkte den Kopf, stieß einen kurzen klagenden Schrei aus und ging dann ohne Zwang und Nötigung freiwillig über die Schwelle. In diesem Augenblick hatte ich die Lösung vieler Fragen, die mich damals quälten und wußte, was Freiheit, Schicksal, Frömmigkeit, Religion ist, wußte ich, was Wille, Bewußtsein, Geist, waches Wissen ist.
Frau Pannemeyer: Lieber Herr Professor, Sie denken zu viel und Ihr Gefühlsleben braucht dringend eine Auffrischung. Was meinen Sie, wollen Sie nicht heute abend in meine Küche kommen und wir kochen gemeinsam einen rein pflanzlichen Eintopf, mit Gemüse, das sämtlich aus meinem Gärtchen kommt?
Deutschlands Weg zur Bombe
Wilfried Schrettinger, Reporter einer lokalen Fernsehstation: Ja, hallo alle zusammen. Heute haben wir einen ganz speziellen Gast in unserem Studio, den Schweizer Waffenhändler Kuno Raeber. Gruezi, Herr Raeber!
Kuno Raeber: Ja, vielen Dank für Ihren freundlichen Empfang.
Wilfried Schrettinger: Herr Raeber, Sie sind heute zu uns ins Studio gekommen, um uns über eine aufregende neue Geschichte zu berichten.
Kuno Raeber: Ja, das kann man so sagen, nicht wahr, es handelt sich um, ja, wie soll ich das Ihren Zuschauern so schonend wie möglich nahebringen …
Wilfried Schrettinger: Nur zu, unsere Zuschauer sind wettergeprüft. Wir hier im Sender haben uns noch nie vor kontroversen Themen gedrückt, ganz im Gegenteil, das Renommee unseres Senders, und das wird Ihnen der Sendeleiter gern bestätigen, besteht gerade darin, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und auch die Augen sind bei uns in guten Händen, die Augen kommen bei uns zu ihrem Recht. Wir sind ja Repräsentanten der ›Glotze‹, wenn ich das mal so sagen darf, haha.
Kuno Raeber: Na gut, wie Sie meinen. Ich bin lange mit mir ins Gericht gegangen, weil… mhh… Es ist halt doch ein heikles Thema.
Wilfried Schrettinger: Aber Herr Raeber, Sie als international anerkannter Waffenhändler sind doch wohl in der mentalen Verfassung, auch tabubelastete Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, oder?
Kuno Raeber: Freilich, es ist nur so … Also gut, reden wir nicht mehr drum herum. Dann stelle ich Ihnen und Ihrem Publikum die Frage: Wäre Deutschland in der Lage, Kernwaffen in ausreichender Zahl zu entwickeln, um einen potentiellen Angreifer abzuschrecken?
Wilfried Schrettinger: Hui, Herr Raeber, ich war ja auf alles gefaßt, aber das dann doch nicht.
Kuno Raeber: Es ist ja alles noch sehr hypothetisch, nicht wahr. Eine rein akademische Diskussion, aber doch mit ganz praktischem Hintergrund. Dabei will ich jetzt die rechtlichen Rahmenbedingungen außen vor lassen, nicht wahr? Das ist eine ganz andere Diskussion. Mich als technisch interessiertem Händler fasziniert ausschließlich der technologisch-chemische Aspekt, nicht wahr? Zunächst einmal ist es schon lange kein Geheimnis mehr, wie man theoretisch eine Atombombe baut, wohl aber die Details der technischen Umsetzung. Und da wird es dann schon hochinteressant. Länder wie Pakistan und Nordkorea haben in jüngster Zeit längst bewiesen, daß es möglich ist, Nuklearwaffen zu entwickeln. Dazu muß man nicht dem Club der großen und reichen Staaten angehören. Ob die Bevölkerung gerade solcher Länder wie Pakistan und Nordkorea genug zu knabbern hat, müssen wir auch erst einmal aus dem Fokus der Betrachtung ausschließen, denn würden wir solche sozialen Erwägungen anstellen, kämen wir gar nicht weiter. Das ist ein Faß ohne Boden, nicht wahr?
Wilfried Schrettinger: Ja, Herr Raeber, aber Sie wissen schon, daß in der Bundesrepublik seit einem Jahr kein einziges Atomkraftwerk mehr am Netz hängt. Wo soll denn dann die Produktion von Atombomben vonstatten gehen?
Kuno Raeber: Gute Frage! Zunächst einmal bräuchte man für den Bau einer Kernwaffe, wie ich die Atombombe lieber nenne, ausreichende Mengen an spaltbarem Material. Da kommen vor allem die beiden Isotope Uran–235 und Plutonium-239 infrage. Für Uran-235 liegt die kritische Masse, ab der die Kettenreaktion nicht mehr abreißt, zwischen 30 und 50 Kilogramm, für Plutonium-239 bei etwa zehn Kilogramm. Das scheint nicht viel zu sein.
Wilfried Schrettinger: Plutonium-239 trifft man in der Natur überhaupt nicht an, das müßte künstlich erzeugt werden, etwa in einem Kernreaktor, aber die sind momentan alle vom Netz gehängt.
Kuno Raeber: Meine Hochachtung, Sie haben ja Ihre journalistischen Hausaufgaben gemacht, ich bin schwer beeindruckt, und ja, das stimmt, leider. Während für die Brennstäbe in einem Atomkraftwerk der Anteil von spaltbarem Uran wenige Prozent beträgt, sind für eine Uranbombe Anreicherungsgrade von 90 und mehr Prozent erforderlich. Die Abtrennung von Uran-235 aus Natururan erfolgt üblicherweise in Gaszentrifugen. Zunächst wird Uran in ein Gas verwandelt und dann in schnelle Rotation versetzt. Wie in einer Salatschleuder drückt die Fliehkraft das schwerere Uran-238 an die Wand, Uran-235 bleibt in der Mitte der Zentrifuge zurück, wo es abgetrennt werden kann.
Wilfried Schrettinger: Das geht mir jetzt doch etwas zu sehr ins Detail. Ist das im übrigen überhaupt erlaubt, solche Einzelheiten auszuplaudern. Ich will mich nicht hinterher mit unserer Rechtsabteilung anlegen müssen, Sie verstehen? Wir müssen auch an den Zuschauer denken, der in der Regel ja wohl nicht mitschreibt, um dann heimlich nach der Sendung in seinem Badezimmer damit zu beginnen, Uran für den privaten Atombombenbedarf anzureichern.
Kuno Raeber: Da müssen Sie keine Bedenken haben, das ist kein militärisches Geheimnis, und außerdem verfügt der private Haushalt kaum über die dafür notwendigen Ressourcen. Die sind in diesem Fall exorbitant. Für den Bau einer Uranbombe bräuchte man möglichst viele Zentrifugen, die man hintereinanderschaltet. Waffenfähiges Plutonium-239 wird üblicherweise in Kernreaktoren erzeugt. Es entsteht nach dem Einfang eines Neutrons aus einem Uran-238-Kern. Allerdings wird mit der Zeit auch nicht spaltbares Plutonium-240 gebildet, das für Plutoniumbomben nicht geeignet ist. Es lassen sich relativ schnell Kilogrammmengen waffenfähigen Plutoniums herstellen, weshalb es die großen Atommächte als Material für ihre Kernwaffen bevorzugen. Für Deutschland bliebe als Quelle für Plutonium-239 nur der Weg über die abgebrannten Brennelemente in den Zwischenlagern.
Wilfried Schrettinger: Noch einmal, lieber Herr Raeber, gehen Sie nicht zu sehr ins technische Detail, wir wollen doch nicht, daß unsere Zuschauer abschalten oder, schlimmer noch, den Sender wechseln, gell?
Kuno Raeber: Wie ich bereits eingangs gesagt habe, müssen wir die rechtlichen und insbesondere völkerrechtlichen Voraussetzungen ganz ausblenden. Deshalb konzentriere ich mich ganz auf die technischen Möglichkeiten zur Herstellung einer deutschen Atombombe. Für Uranbomben bietet sich die Kanonenanordnung an. Zum Zünden benötigt man zwei getrennte unterkritische Massen an Uran-235, die, wenn man sie mit herkömmlichem Sprengstoff aufeinanderschießt, eine kritische Masse bilden. Das ist sozusagen die Light Version der Atombombe, weswegen Länder wie Pakistan und Nordkorea vor allem Uranbomben in ihrem Waffenarsenal haben. Für die Plutoniumbombe ist die Kanonenanordnung ungeeignet. Hier greift man auf die Implosionsanordnung zurück. Eine unterkritische Masse wird mit einem Mantel aus hochexplosivem Zündstoff umgeben. Bei dessen Explosion entsteht eine Schockwelle, die die Dichte des Spaltmaterials so weit erhöht, dass die Masse des Plutoniums kritisch wird.
Wilfried Schrettinger: Hochinteressant, hochinteressant! Gleich für welchen Bombentyp man sich auch entscheiden würde, man bräuchte ein geeignetes Testgelände für die ersten Prototypen. Das wird in der Bundesrepublik kaum zu finden sein. Israel hat seine Bombe allerdings ohne bestätigte Tests gebaut. Und will man nukleare Sprengköpfe im Ernstfall an ihren Bestimmungsort transportieren, benötigt man geeignete Trägersysteme. Zwar verfügt die Bundeswehr über ausreichend Kampf-Flugzeuge, die aufgrund der nuklearen Teilhabe mit nuklearen Waffensystemen der USA ausgerüstet werden können, aber sie hat derzeit weder Langstreckenbomber noch Raketen für mittlere und längere Reichweiten.
Kuno Raeber: Da liegt der Hund begraben. Da müssen eben erst einmal weitere technische und politische Voraussetzungen geschaffen werden. Gerade im Bereich Langstreckenbomber könnte ich übrigens der deutschen Bundesregierung ein sehr gutes Angebot machen. Ich will nicht zuviel verraten, aber da stehen auf einem weitläufigen Gelände in einer der vielen Wüsten dieser Erde sehr attraktive Langstreckenbomber, die auf dem allerneuesten Stand der Technik und auch sofort einsatzbereit sind. Sogar geschulte Piloten wären in diesem Deal mit enthalten, ganz ausgezeichnetes Personal, dafür kann ich mit meinem Namen bürgen.
Wilfried Schrettinger: Ja, vielen Dank, Herr Raeber, für diese hochinteressanten Ausführungen. Es ist ja alles noch Zukunftsmusik, aber wir hier im Studio und unsere Zuschauer an ihren Fernsehschirmen sind doch jetzt in die Lage versetzt worden, sich ganz konkret auszumalen, wie so eine Atombombe entsteht und welche Barrieren es noch zu überwinden gilt. Wir blicken in eine strahlende Zukunft. Und damit auf Wiederschaun, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, bis zum nächsten Mal.
(Manfred Lindinger: Deutschlands Weg zur Bombe. Wäre es technisch möglich, hierzulande Kernwaffen zu bauen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 101, 30. April 2024, Seite 8)