Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Neue Gespräche im Elysium XVII

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Gisela Schlüter meets Niklas Luhmann

 Luhmann war wahrscheinlich einer der größten Humoristen seiner Zunft, wenn nicht der Wissenschaft überhaupt. Aber niemand hat das gemerkt, weil sein Witz haarscharf war und nur von denen verstanden werden konnte, die in der Lage waren, sich selbst zu verstehen. Und sein Witz traf auf eine Zunft, die sich nicht vorstellen konnte, über irgendetwas in der Gesellschaft einen Witz zu machen. In diesem Punkt jedoch steht Luhmann in der Tradition der französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhundert, die ihren Rabelais kannten und selbstverständlich davon ausgingen, daß das große Gelächter eine nicht zu unterschätzende erkenntnisstiftende Kraft hat. (Dirk Baecker: Nachruf auf Niklas Luhmann. In: Berliner Zeitung, Nr. 264, 12. November 1998, 11)

Gisela Schlüter: Obwohl ich nur ungern jemand zu Wort kommen lasse, mache ich bei Ihnen eine Ausnahme, lieber, verehrter Herr Professor Luhmann! Wir sind uns zu Lebzeiten nicht über den Weg gelaufen, obzwar unsere Lebensläufe sich doch fast parallel entwickelt haben. Sie sind Jahrgang 1927, ich bin Jahrgang 1914, Sie sind 1998 gestorben, ich 1995. Es wäre also schon möglich gewesen, sich irgendwo in einem Café begegnet zu sein, aber unsere Interessengebiete sind dann doch zu unterschiedlich gewesen. Ich war Schauspielerin und Kabarettistin, Sie sind ganz in dem Fach Soziologie aufgegangen und haben schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit erlangt, die man in diesem Fach nicht unbedingt erwarten würde. Ich habe zwar auch Bücher veröffentlicht, aber ich bin keine Schriftstellerin, sondern eine Sprachstellerin. Sie müssen sich beim Lesen meine Stimme vorstellen, dann haben Sie das literarische Produkt, das mir vorschwebte. Ach, wissen Sie, ich war doch mal beim Arzt, und was glauben Sie, was der mir für eine Diagnose gestellt hat? »Hemmungsverfall im Zungenmuskel«. Na, dem habe ich es aber gegeben, der ist für eine halbe Stunde nicht mehr zu Wort gekommen. Sie glauben gar nicht, wie oft mir ›Redeschwall‹ vorgeworfen wurde, also sowas, Leute gibt’s, die gibt es eigentlich gar nicht. Da fragt mich doch neulich jemand: »Reden Sie eigentlich privat auch so viel?« Ich habe dieser Person dann Bescheid gegeben: »Nein, ich rede gar nicht viel, ich rede nur dauernd, und nun lassen Sie mich mal ausreden!«

Niklas Luhmann: Ich kenne Sie gar nicht. Wer sind Sie?

Gisela Schlüter: Das macht doch gar nichts. Sie müssen mich nicht kennen, aber ich kenne Sie. Seit ich hier auf ewig festsitze, habe ich mein Lesepensum stark erweitert, und da bin ich dann auf Ihre Bücher gestoßen. Es erschlägt einen erst einmal allein schon wegen der Menge, Sie haben ja einen gewaltigen Ausstoß hingelegt, das muß man schon sagen. Mein lieber Scholli, sagenhaft, worüber Sie alles geschrieben haben. Da bleibt kein Auge trocken. Jetzt kommt’s: ich lese Sie nicht wegen dieser unglaublich schwierigen Konstruktionen, dieser vielen Begriffe, mit denen Sie wie ein Artist jonglieren und dem Leser das Leben schwer machen. Nein, das ist wie Schwarzbrot ohne Butter, also ungenießbar. Aber dann habe ich entdeckt, daß Sie immer wieder in Ihre fast unverständlichen Sätze plötzlich etwas Alltagshumor hineinwerfen. Und das ist umwerfend! Ein Brüller nach dem anderen! Fangen wir doch gleich hiermit an: Die Wilden sehen die Welt durch ihre Sinnlichkeit und erfahren sie deshalb als Vielfalt des Verschiedenen. Die Barbaren sind auf Vernunft abonniert. Sie sind diejenigen, die der Einheit der Vernunft einen unbedingten Vorrang geben vor der Vielfalt und Individualität der Erscheinungen. Barbaren sind die, die die Eisen im Feuer haben. Sie pflegen sozusagen eine Monokultur der Vernunft. Es mag politisch suggestiv sein, diese Begriffsdisposition fortzusetzen; aber es empfiehlt sich nicht, weil man heute dann nicht mehr an Robespierre denken würde, sondern an Habermas. Robespierre hatte eine Guillotine zur Hand. Ein Brüller! Ein Brüller! Nur, kurze Zwischenfrage: Wer ist dieser Habermas?

Niklas Luhmann: Ach, der wird hier über kurz oder lang erwartet und wird mich dann auf einen Kaffee einladen und mich zu Tode langweilen mit seiner Diskurstheorie, diesem Ladenhüter, den er sein ganzes Leben lang aufpoliert hat. Man redet, ohne Informationen auszutauschen, ohne Kontroversen zu haben, einfach nur, weil das eine angenehme Art ist, die eigene Ungefährlichkeit und die eigenen guten Absichten expressiv zum Ausdruck zu bringen. Man schwatzt. Der Endzustand des Habermas’schen Universums wäre eigentlich Geschwätz. Mmhh, eigentlich paßt das gut zu einem Kaffeehaus. Na, man wird sehen.

Gisela Schlüter: Geschwätz? Interessant, dann werde ich mir diesen Habermas mal vormerken, ich bin nämlich, müssen Sie wissen, eine Quasselstrippe. Das ist mein Markenzeichen. So kannten mich die Leute, was ich privat war, muß das Publikum nicht interessieren. Doch an Ihnen ist ein Kabarettist verloren gegangen.

Niklas Luhmann: Ja, ich weiß nicht… Guter Geist ist trocken, das ist immer meine Lebensmaxime gewesen.

Gisela Schlüter: Hier! Hier habe ich ein weiteres Beispiel für Ihren trockenen Humor: So wurden in früheren Zeiten für hervorragende Gelehrte an Universitäten Professuren geschaffen, während heute eher umgekehrt für Versager, die man nicht entlassen kann, Stellen geschaffen werden müssen, auf denen sie keinen Schaden anrichten können und wo man Auskühlungszeiten für Versager einzuplanen hat. Professor Luhmann, you have a way of cutting through the baloney that knocks me out cold. Oh, Entschuldigung, nun bin ich doch glatt ins Englische hinübergerutscht. Es ist aber auch zu lustig, daß man unwillkürlich an den trockenen englischen Humor denken muß. Sollen wir mal eine Pause einlegen? Strengt Sie unsere Unterhaltung zu sehr an? Pausen sind wichtig für Zuschauer und Akteure. Der Akteur füllt seine Pausen mit beredter Mimik, der Zuschauer seine mit Sekt und oder warmen Würstchen. Fragt sich jetzt nur, wie ich als Sprachstellerin die Pausen, die dringend zu Ihrer Erholung notwendig sind, ausfülle. Du meine Güte, ich hoffe, ich habe Ihnen jetzt nicht zu viel vorgequatscht!

Niklas Luhmann: Nein, durchaus nicht …

Gisela Schlüter: Dann ist es ja gut, Sie glauben gar nicht, was man mir schon alles nachgesagt hat. Wir haben viel gemeinsam. Meine alte Gesangslehrerin ließ mich einmal die Mozart-Arie ›Bald schon naht sich die Stunde, wo ich dich, oh Geliebter, bald ganz besitzen werde‹ singen. Das tat ich dann und sie sagte zu mir: »Ich kann mir nicht helfen, Fräulein Schlüter, das klingt bei ihnen wie ›Komm Du mir nach Hause!‹« Oder nehmen Sie den Schauspieler und Intendanten Erich Ponto, dem ich sinnigerweise ›Iphigenie‹ vorsprach. Er lachte Tränen und riet mir, mich aufs komische Fach zu verlegen. Sehen Sie, und das hätte ich Ihnen auch geraten, wenn Sie bei mir in die Schauspielschule gegangen wären. Sie sind ein großer Komiker.

Niklas Luhmann: Vielen Dank, aber als man mir vor der Drucklegung meiner soziologischen Abhandlung ›Zweckbegriff und Systemrationalität‹ sagte, daß dem Lektor die witzigen Beispiele am besten gefallen hätten, habe ich ihn erschrocken gefragt:  Wo stehen sie? Das muß sofort beseitigt werden!

Gisela Schlüter: Dann war es Ihnen also vollkommen ernst, als Sie in einem Ihrer Bücher den Satz Ohne Thesenanschlag keine Reformation, ohne Preisschildchen kein reibungsloser Verkauf in einer Fußnote folgendermaßen erläuterten: Bei einem Versuch, mit einer Ladeninhaberin längere Verhandlungen über den Preis einer Tafel Schokolade zu führen, habe ich die Erfahrung gemacht, daß sie anstelle von Argumenten immer wieder auf das Preisschildchen verwies, auf dem der Preis deutlich sichtbar aufgeschrieben war. 

Niklas Luhmann: Aber natürlich, was ist daran denn komisch? Zum Thema Schokolade könnte ich Ihnen aber ein Geheimnis verraten: Schokolade enthält alle gesundheitsnotwendigen Nahrungs-Komponenten und läßt sich ohne Schwierigkeiten in den täglichen Ablauf des Lesens und Schreibens integrieren. Eigentlich esse ich nur noch Schokolade, man kann dann so gut weiterblättern.

Gisela Schlüter: »Ich will keine Schokolade / Ich will lieber einen Mann!« Kennen Sie diesen Schlager ihrer Jahrgangsgenossin Trude Herr? Oje, ich komme vom Thema ab. Also zurück zu Ihrem Verkaufsgespräch mit der Ladeninhaberin. Sie haben völlig recht, das Selbstverständliche muß verfremdet werden und jede Selbstverständlichkeit ist eigentlich gar keine. Huch, jetzt fange ich ja schon an, wie Sie zu reden. Sie verpacken Ihre Sachen aber auch ganz fein, und erst einmal kommt es ganz dicke: Einerseits muß ein Sinn des Ereignisses identifiziert werden, damit man die Wiederholung als Wiederholung erkennen kann. Andererseits geschieht dies in jeweils anderen Situationen, so daß ein Hinzulerneffekt eintritt: Und dann setzen Sie die überraschende Schlußpointe: Man kann nicht nur im Schlafzimmer, sondern, seitdem es Fernsehen gibt, auch im Wohnzimmer einschlafen. 

Niklas Luhmann: Vielleicht habe ich diesen Lapidarstil eingeführt, um nicht nur die Theoriemasse aufzulockern, sondern auch dem Leser vorzuführen, wie Theorie ein wichtiger, ja wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens sein kann. Das Wort Theorie habe ich niemals mit ironischer Brechung verwendet. Theorie kann ein ganzes Leben ausfüllen. In ein Buch gebracht, bedeutet es, daß die Theorieanlage eher einem Labyrinth denn einer Schnellstraße zum frohen Ende gleicht. Ihre Funktion ist es, Vergleiche zu ermöglichen. Vielleicht aus diesem Grund finden Sie in meinen Texten diese amüsanten Vergleiche aus der Lebenswelt.

Gisela Schlüter: Ganz genau, das stimmt. Sie haben es erfaßt. Und es ist auffallend, wie Sie aus dem Miteinander der Menschen gern Beispiele aus dem ehelichen Alltag herausgreifen. Es genügt ein leichtes Verziehen der Miene oder eine Veränderung der Lage von Gegenständen: Man schiebt die nicht ganz gar gekochte Kartoffel an den Rand des Tellers – und die Hausfrau versteht! In nur zwei Sätzen stellen Sie dar, wie man auch ohne Sprache auskommt und dennoch vom Anderen verstanden wird. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt, um mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Kommunikation jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt, leugnen, eine Mitteilung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt er nonverbale Kommunikation. Oder: Man tritt ins Haus ein, dreht den Hausschlüssel um, die Frau ist in der Küche. man möchte natürlich jetzt erst einmal zum Schreibtisch gehen und sehen, was die Post gebracht hat, aber wenn man das tut, weiß man genau, daß Sie darin eine Vernachlässigung sieht, also geht man in die Küche. Sie aber weiß, daß man deswegen in die Küche sieht, weil Sie andernfalls annehmen würde, Sie würde vernachlässigt werden. Und das wiederum führt in die typische Familientherapiesituation einer nicht ausgesprochenen Paradoxie: Ich tue das was Du willst, mit dem Bewusstsein, daß Du siehst, daß ich das deshalb tue. An diesem Beispiel sieht man auch, wie Sie die soziologische Beobachtung als therapeutisches Mittel, ja sogar als Präventionsinstrument zur Rettung einer angeknacksten Ehe einsetzen. Als Kabarettistin habe ich natürlich viele Ehe-Sketche spielen müssen, das gehört quasi zum Pflichtprogramm, weil der eheliche Alltag für die allermeisten Leute das größte Erfahrungsfeld darstellt. Sie lachen, wenn sie sich auf der Bühne wiedererkennen.

Niklas Luhmann: Ich glaube, daß man die moderne Liebe erst vom 17. Jahrhundert aus beurteilen kann, wo es plötzlich Exzeß gibt, völliges Sichhingeben an den anderen, völliges Einverstandensein mit allem, was auch immer er oder sie tut, inklusive unmoralischer Angelegenheiten. Die passionierte, exzessive Liebe ist nur bis zu ihrer Erfüllung geplant und muß nachher ausgekühlt werden. Danach gibt es tausend gute Gründe, nicht zu heiraten, und tausend bessere Gründe, eine bestimmte Person nicht zu heiraten. Aber es gilt mit Napoleon der Satz: On s’engage, puis on voit. Intelligent ist ein Verhalten, das auch in den Trümmern der Bedingungen für Rationalität, auch im Mülleimer noch Ordnung zu finden vermag.

Gisela Schlüter: So machen Sie aus dem Satz von Friedrich Schiller: Drum prüfe, wer sich ewig bindet! ein soziologisches Experiment. Wer sich darauf einläßt, könnte vielleicht sogar etwas von dem Humor mitbekommen, den Sie dezent offerieren und so die Entscheidung über gewisse Lebenssituationen erleichtern helfen.

Niklas Luhmann: Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück.

Gisela Schlüter: Ja, wunderbar! Von solchen Konflikten leben doch das Theater und das Kabarett.

Niklas Luhmann: Man spannt den Regenschirm auf und läßt es abtropfen. Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, daß man durch Regen naß wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen.

Gisela Schlüter: Diese schönen Banalitäten des Alltags, die einem manchmal das Leben zur Hölle machen oder es wenigstens so erscheinen lassen. Hier habe ich noch eine Bemerkung mir aufgeschrieben: In dem Maße, als das Heiraten und im weiteren: das Sicheinlassen auf Intimbeziehungen sozial freigegeben wird, taucht das Scheitern in diesen Beziehungen als Risiko auf, und das Sicheinlassen bzw. Sichlösen muß sozial erleichtert werden. Man hält Blumen für die Hochzeit und Kleenex für die Scheidung bereit, aber letztlich kann jeder in die Lage kommen, sich sagen zu müssen, daß das nicht gut war, was er selber gewollt hatte. Ja, die Dinge des Lebens sind nicht immer leicht in dieser Welt. Das Leben ist ungerecht. Mehr von ihm zu erwarten, wäre naiv.

Niklas Luhmann: Man will Tee zubereiten. Das Wasser kocht noch nicht. Man muß also warten. Die Differenzen Tee/andere Getränke, Kochen/Nichtkochen, Wartenmüssen/Trinkenkönnen strukturieren die Situation, ohne daß es nötig oder auch nur hilfreich wäre, die Einheit der jeweils benutzten Differenz zu thematisieren.

Gisela Schlüter: Gott, wie Sie die größten Banalitäten zu großen Problemen der Soziologie aufblasen können, das muß man Ihnen lassen, das gelingt nicht jedem.

Niklas Luhmann: Ich hatte immer das Bedürfnis, in jedes meiner Bücher mindestens einen Unsinn hineinzubringen. Ich will damit sagen: Nehmt mich bitte nicht zu ernst oder versteht mich bitte nicht zu schnell. Jedoch auch ›Unsinn‹ kann nur im Medium Sinn, nur als Form von Sinn gedacht und kommuniziert werden. 

Gisela Schlüter: Wie raffiniert! Das zwingt zum langsamen Lesen und dem skeptischen Beäugen jedes Satzes, ob sich in ihm nicht ein Osterei versteckt, ein kleiner Scherz, den man entziffern muß. Auch ich falle ja in die Kategorie des Unsinns, oder eigentlich des Blödsinns, des höheren Blödsinns, nie war er so wertvoll wie heute. Kalauer, Klamotte und Klamauk sind mein Metier. Sie haben ja auch die humoristische Kommunikation durchweg von oben bis unten bespielt, von der ein gebildetes Publikum voraussetzenden Verballhornung von Klassikerzitaten bis hin zu dem Kalauer, den man dann meist bringt, um sich zugleich von ihm wegen seines flachen Niveaus zu distanzieren. Beispiel: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern!« 

Niklas Luhmann: Auch eine familientherapeutische Praxis der ›Verschreibung‹ erfaßt dieses Problem, wenn sie etwa angesichts von unüberwindlichen Schwierigkeiten der ehelichen Verständigung und angesichts allzu großer Rücksichtnahme und Ausweglosigkeit der ›doppelten Kontingenz‹ verordnet: immer freitags, ob man Lust hat oder nicht.

Gisela Schlüter: Immer freitags? Sie sprechen doch von Sex, oder?

Niklas Luhmann: Unsicherheit läßt sich, im Unterschied zu Sicherheit, auf Dauer stellen. Man sieht, daß man nicht sieht, was man nicht sieht, und diese Beobachtung ist für das Bewußtsein viel reizvoller als die platte Ansicht der Dinge. Man denke nur an pornographische Filme, wo man nichts zu sehen bekommt, was man nicht zu sehen bekommt.

Gisela Schlüter: Ich glaube, Sie wollen mich wohl verladen, mmhh?

Niklas Luhmann: Ganz und gar nicht, das entspricht gar nicht meiner Art. Es gibt auch Situationen, wo man meint, das sei erfunden, ist es aber nicht. So gibt es die Möglichkeit des falschen Alarms mit katastrophalen, irreversiblen Folgen. Es wird zwar kaum vorkommen, daß die Bevölkerung der Stadt Hannover nach Ostfriesland evakuiert wird, obwohl die Russen gar nicht einmarschieren. Entsprechende Pläne gab es in den 50er Jahren.

Gisela Schlüter: Die typische Überreaktion, die man nicht nur aus der Politik kennt, sondern auch im privaten Bereich. Da liegt eine Paradoxie verborgen.

Niklas Luhmann: Die Paradoxie ist eine sehr vernachlässigte und unterbewertete Denkkategorie. Wenn man Gäste hat und ihnen Wein einschenkt, wird man nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Gläser seien unerkennbare Dinge an sich und möglicherweise nur als subjektive Synthese vorhanden. Vielmehr gilt: Wenn schon Gäste und wenn schon Wein, dann auch Gläser.

Gisela Schlüter: Man schaltet den Fernseher ein, um abzuschalten. Wir bewegen uns auf einer Ebene. Haben Sie eigentlich mal eine meine Fernsehsendungen gesehen, die ›Zwischenmahlzeit‹ war ja die bekannteste von allen.

Niklas Luhmann: Ich habe nie ein Fernsehgerät besessen.

Gisela Schlüter: Waas? Das gibt’s doch gar nicht. Sie haben ›Die Realität der Massenmedien‹ geschrieben und hatten keinen Fernseher zuhause? Wie haben Sie sich denn da überhaupt ein Urteil bilden können?

Niklas Luhmann: Außer im Hotel, vor allem im Ausland, um in die Sprache, um in den Sprachduktus reinzukommen. Und weil in den Momenten, wo ich Zeit habe, nie irgendetwas kommt, was mich interessiert. Was nachteilig ist, ist, daß es alles sequentiell läuft. Wenn man also irgendwo in eine Sequenz einsteigt und irgendwann wieder abschaltet, während man bei Zeitungen ja sich raussuchen kann: Ich lese jetzt nur die Börsennachrichten, und ich lese Sport auf keinen Fall, aber vielleicht Firmennachrichten aus der Wirtschaft oder ich lese Politiknachrichten, aber nicht das, was in den Parteien vor sich geht. Man kann dann also Schwerpunkte wählen und auch den Zeitpunkt bestimmen, in dem man etwas liest. Das ist eine sehr persönliche Teilnahme an Kommunikation entgegen allem, was man von Massenmedien hört. Man wählt sehr persönlich aus, den Zeitpunkt, den Ausschnitt und so weiter, und das ist nicht vorgegeben durch die Drucktechnik. Aber es ändert nichts daran, daß man, was immer man auswählt, wieder in die Konstruktion einer Welt hineingesogen wird. Bei Unterhaltung im Fernsehen geht es um die Erzeugung und Auflösung von Ungewißheit. Ohne Massenmedien wäre Kultur als Kultur allerdings nicht erkennbar, aber die Massenmedien legen Wert auf Verständlichkeit…

Gisela Schlüter: Womit wir wieder bei mir wären. Ich war hundert Prozent verständlich und die Leute haben sich kaputtgelacht über meine Figur, denn natürlich habe ich nicht mich selbst gespielt, das waren Texte, die jemand anderes, in diesem Fall mein lieber Lebensgefährte Hans Hubberten, geschrieben hat. Als ganz junges Ding, das war ich Mitte Zwanzig, habe ich auch Texte von dem später so berühmt gewordenen Kritiker Friedrich Luft gespielt, in einer Reihe von Kurzfilmen mit dem Titel ›Liese und Miese‹. Das war in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkriegs, da hat das deutsche Propagandaministerium diese Filmchen produzieren lassen, um der deutschen Bevölkerung die Kriegsangst zu nehmen. Ich war die linientreue Liese und meine Kollegin Brigitte Mira spielte die Miese, also das Negativbild, diejenige, die unbekümmert drauflos redete, ›meckerte‹, wie man damals sagte und auch Lebensmittel hamsterte, die Dinge also, die man aus der Sicht des damaligen Regimes als verachtenswert ansah. Aber was glauben Sie! Nach nur zehn Folgen wurde die Herstellung der Kurzfilme, die in allen Kinos des Landes im Vorprogramm gezeigt wurden, eingestellt! Die Zuschauer hatten, das ergaben Befragungen, die Figur der Miesen in ihr Herz geschlossen und waren auf ihrer Seite, nicht auf der Seite der das Regime verteidigenden Liese, die leider ich dargestellt habe.

Niklas Luhmann: In den Anfangsjahren macht man Erfahrungen, die man im späteren Leben manchmal revidieren möchte, aber das geht natürlich nicht. Realität ist nicht konsenspflichtig.

Gisela Schlüter: Sie können aber auch bis an die Grenze des Zynischen gehen, wenn Sie an einer Stelle schreiben: Wer vom Eiffelturm herunterspringt, kann aber den Sturz nicht wirklich genießen, weil er weiß, wie es ausgehen wird.

Niklas Luhmann: Wer das Kommende ohne Zeichen des Entsetzens in Aussicht stellt, wird als Zyniker abgelehnt. Mich interessiert als Soziologe daran, wie man damit eigentlich das Abenteuer, auf das man sich einläßt, vorweg ausschließt, denn in praktisch allen Fällen geht derartiges Handeln in vorhersehbarer Art und Weise aus. Das macht den Selbstmord eigentlich uninteressant. Der Tod ist kein Ziel. Das Bewußtsein kann nicht an ein Ende gelangen, es hört einfach auf. Alles Leben überhaupt steht in jedem Moment vor der Alternative: Aufhören oder Weitermachen.

Gisela Schlüter: Ich habe dazu ein weiteres Zitat aus Ihrem ersten Hauptwerk, ›Soziale Systeme‹ (1984): Der Gag heiligt die Mittel – und auch das kann man noch sagen, wenn einem das Recht zur Ironie bestritten wird. Witz kann solidarisierend wirken, und zwar dadurch, daß er heimliche Verständnisvoraussetzungen, also Bewußtsein in Anspruch nimmt, ohne daraus soziale Strukturen zu bilden. Eben deshalb ist dafür die Form des Einzelereignisses unerläßlich: Ein Witz muß neu sein und unwiederholbar. Er muß überraschen, darf aber nicht belehren. Als Kabarettistin kann ich da nur sagen: So ist es.

Niklas Luhmann: Das freut mich, da kommen wir also überein. Jede Kommunikation setzt sich selbst der Rückfrage, der Bezweifelung, der Annahme oder Ablehnung aus und antizipiert das. Jede Kommunikation! Man schwatzt, und wer beharrlich schweigt, gilt als gefährlich, weil er sich weigert, seine Absichten zu verraten. Wenn man nicht mehr spricht, kann man immer noch schweigen. Wenn man nicht mehr denkt, kann man immer noch dösen. Und ohne diese Sicherheit hätte wohl niemand den Mut, sich einem Wort, einem Satz, einem Gedanken zu überlassen. Aber es gibt kein letztes Wort. Wenn nichts zu sagen ist, muß man eben etwas erfinden. Wenn etwas nicht mehr geht, geht etwas anderes. Es gibt natürlich Möglichkeiten, Leute zum Schweigen zu bringen. Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen, einschließlich Menschen, in der finstersten Innerlichkeit ihres Bewußtseins irgendetwas gemeinsam haben können. Leben ist eine robuste Erfindung. Die Kommunikation ist wie das Leben eine sehr robuste, hochgradig formelastische Erfindung der Evolution. Man kann eine Kommunikation über sich selber nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an! Man hat zu antworten und man darf sich nicht einmal anmerken lassen, mit welcher Vorsicht man auswählt, was man sagt. Wer bereit ist, sich dieser Regel zu fügen, ist bereit zu heiraten. 

Gisela Schlüter: Soll das ein Heiratsantrag sein? Wir befinden uns im Elysium, ich bin mir nicht sicher, ob sowas hier überhaupt gestattet wird. Außerdem: Nein danke, mein Herr, ihr Antrag, wenn es denn einer gewesen sein sollte, ist hiermit abgelehnt.

Niklas Luhmann: Es geht letztlich um Mannsbilder und Weibsbilder. Dann wird sich ein empirisch orientierter Soziologe aber noch leicht wundern müssen, daß die Klassifikation in so hohem Maße faktisch zutrifft, das heißt mit biologischen Merkmalen übereinstimmt, so als ob die Gesellschaft doch erst einmal nachsähe, bevor sie jemanden als Mann oder als Frau klassifiziert. Im Schwyzerdütsch werden Frauen, wenn ihr Name im vertrauten Umgang benutzt wird, und das geht, was soziale Beziehungen anlangt, weit über Intimverhältnisse hinaus, grammatisch mit sächlichem Geschlecht bezeichnet: s’Gritli, s’Hildi. Es ist aber nicht bekannt, daß die Schweizer deshalb bei der Zeugung von Nachwuchs besondere Schwierigkeiten gehabt hätten. Sicher, und auch gegen Nachforschungen durch Soziologen gefeit, ist ja, daß nur wirkliche Frauen Kinder gebären können, auch wenn dies irgendeine Art von Intervention voraussetzt.

Gisela Schlüter: Was sind Sie eigentlich für ein Sternzeichen? Es gibt Leute, die können über jedes Thema reden. Die Zwillinge brauchen nicht einmal ein Thema. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich bin selbst einer. Der Zwilling ist sprech- und sprachkundig, witzig, wendig, vorlaut, neugierig und vielseitig bis zur Zersplitterung. Ein Zwilling genießt es, in der Menge zu baden. Das Fernsehen war meine öffentliche Badeanstalt. Sie sind am 8. Dezember geboren! Schütze! Das heißt: Hoppla, jetzt komm’ ich. Der Schütze ist meist neugierig, klatschig. Curd Jürgens war das positive Beispiel eines großzügigen Schützen mit geistigem Niveau, mit Humor und Selbstironie. Das paßt auch auf Sie, lieber Herr Professor Luhmann! Mir fällt jetzt doch auf, daß Sie die Umständlichkeit als stilistisches Mittel einsetzen, so wie mein hochverehrter Kollege Werner Finck mit seinen immer wieder verzögerten Sätzen den Inhalt seiner Aussage ganz langsam, andeutend hervorgebracht hat. Übrigens hat mich Finck, als ich mit ihm gemeinsam einen Sketch aufgeführt hatte, eine »Präzisionsbestie« genannt, weil ich im Gegensatz zu Finck, der gern improvisierte, darauf bestand, meine Stichworte präzise geliefert zu bekommen. Ach ja, lang, lang ist’s her. Wie schade, gern hätte ich mit Ihnen auf einer Kleinkunstbühne einige Sketche vorgetragen, das wäre eine lustige Sache geworden.

Niklas Luhmann: Der springende Punkt dabei ist: Das haben wir gerade eben doch getan, verehrte Frau Kollegin. Wo bleibt der Applaus?

Herr Wendriner geht in eine Ausstellung

(Mit einer Verbeugung vor Kurt Tucholsky)

Kinder, nun gebt doch endlich mal Ruhe, wir sind hier der Kultur wegen. Eure Mutter wollte das so. (Herr Wendriner und seine unartigen Kinder betreten die Ausstellung ›Kleider. Geschichten. Der textile Nachlaß von Arno und Alice Schmidt im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg) Aahh, nun seht euch das mal an. (Zeigt auf die von Arno Schmidt selbstgefertigten Holzsandalen) Das ist noch handwerkliches Können, das sieht man heute auch nicht mehr oft. Fabelhaft, nicht ohne. Entspricht nicht irgendeiner Mode, aber gehen konnte man in diesen Brettersandalen schon. Ehre dem deutschen Handwerk. Sehr schön. Ich muß schon sagen, wer hätte das gedacht, daß dieser Arno Schmidt so arm gewesen ist. Und dabei doch so ein großer Künstler, obwohl das ja häufig ein und dasselbe gewesen ist, groß und arm. Jedenfalls bei den meisten Künstlern. Es gibt natürlich auch die ganz großen Verdiener, die können sich einen Porsche leisten und noch viel mehr. Eure Mutter hat mir erzählt, daß es einen italienischen Künstler gibt, der schimpft sich Piero Manzoni, der hat doch tatsächlich in Konserven abgefüllte ›Künstlerkacke‹ als Kunst ausgegeben, und der Kunstmarkt hat gesagt: Jawoll, das ist Kunst. Und was glaubt ihr, was man für eine mit dreißig Gramm Scheiße befüllte Dose auf einer Versteigerung bekommen hat? 110. 000 Euro! Ja, den Seinen gibts der Herr im Schlaf. Was würde die Nachbarschaft sagen, wenn euer Papa so was mit seinen Fäkalien anfangen würde, vielleicht mit einem Stand auf dem Bauernmarkt. Da käme in nullkommanichts die Polizei. Und mit Recht. Aber genug davon, nun laßt uns mal diese Ausstellungstücke genießen. Nun sehen Sie sich das hier an, haben Sie das gesehn, Herr Nachbar, dieser tiefblaue Wolldeckenmantel, den Arno seiner Alice gekauft hat. Beeindruckend in seiner Leuchtkraft und intensiven Schlichtheit. Wundern Sie sich nicht, Herr Nachbar, über solche Ausdrücke, das habe ich alles bei meiner Frau ausgeborgt, die kennt sich aus und kann sich gewählt ausdrücken. Und vielen Dank, Herr Nachbar, daß Sie mitgekommen sind, denn ohne eine zweite Aufsichtsperson könnte ich diese Rasselbande, die sich meine Kinder nennen, nicht im Zaum halten. (Ruft einem der Kinder zu) Leg’ das sofort wieder zurück, du bist wohl blödsinnig geworden, man faßt hier doch keine Ausstellungsstücke an! Oh, oh, kommt mal hier herüber, hier habense die ganze Wand als offenen Kleiderschrank aufgebaut. Nicht ohne, da gibts nichts. Mäntel, Hosen, Sakkos, Jacken, und hier unten, guckt mal, Dutzende von Schuhen, sowas habe ich zuletzt im Holocaust-Museum gesehen, als ich mit eurer Mutter drüben war, die Amerikaner kennen da ja nichts, die haben die Schuhe von ehemaligen KZ-Bewohnern auf einen Haufen getan, als kleine Erinnerung an vergangene Zeiten. Es hätte natürlich noch besser und übersichtlicher ausgesehen, wenn man sie wie hier schön ordentlich in Reih und Glied aufgestellt hätte. Da stand wohl irgendeine politische Absicht dahinter, weiß man’s? Mein Gott, das ist nun auch schon wieder fast hundert Jahre her, daß man die Juden umgebracht hat. Wie die Zeit vergeht.  Aber diese vielen Gedenkstätten, die man in Deutschland jetzt überall besuchen kann, und alle auf allerhöchstem technischem Niveau, mit allen Schikanen, beste Elektronik, Touchscreen und solchene Sachen, also man muß schon sagen: Respekt! Es geht doch nichts über eine tadellose Ordnung, nicht? Wie man alle Opfer des Naziregimes säuberlich registriert und mit nachlesbaren Lebensläufen elektronisch aufgereiht hat, das hat schon was. Das macht den Deutschen auch keiner nach, da müssense nur mal nach Italien gucken, da gibt es noch Sachen aus der faschistischen Zeit, da gehen Ihnen die Augen über, daß es die Sau graust. Man bekommt am Bahnhofskiosk sogar Rotweinflaschen mit Mussolini- und Hitlerfotos drauf. Das wird alles ganz legal verkauft, das würde sich hier doch keiner mehr trauen, aber die Italiener haben eben ein ganz entspanntes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit, das ist für sie alles Teil ihrer Geschichte und darum auch bewahrenswert. Oh, oh, hier, Kinder, nun schaut euch das an! Hemden, zum Teil noch originalverpackt! Die könnte man heute noch anziehen. Das würde auf dem Kunstmarkt sicher einen schönen Preis erzielen, gerade weil sie originalverpackt sind. Für den einzelnen Fan eine Nummer besser wäre allerdings dann das von Arno wenigstens einmal getragene Hemd, da käme man dem Meister noch näher. Man würde ihn praktisch hautnah erleben, erspüren, nicht? Für mich wäre das aber nichts, aber es gibt ja sone und solche Menschen. Nun schau mal einer an, sogar die Nachtnegligées der Madame Schmidt habense hier, pikant, aber ein bißchen große Kleidergröße, also mein Geschmack ist das nicht, aber Arno mochte es wohl eher füllig. Oh, oh, nun seht euch das an, Kinder, das ist was für euch. Eine Videowand, die alle zirka tausend Ausstellungsstücke per Zufallsgenerator zeigt. Nun kommt doch mal her, da könnt ihr euch noch genauer informieren, was die beiden Schmidts ihr Leben lang so anhatten. Natürlich, wenn ich im Laufe meines Lebens alle meine Sachen aufgehoben hätte, das hätte ein Theater mit eurer Mutter gegeben, nicht auszudenken wäre das gewesen, was die mir gekommen wäre von wegen alles aufheben. Sie sagt dann immer: Das trägt man heute nicht mehr, das ist völlig heruntergerissen oder: Diese Puddingflecken, mit denen du dich bekleckert hast, bekomme ich nie wieder raus, das Hemd gehört in den Müll, so kannst du dich nirgendwo mehr sehen lassen. Und so bin ich dann immer treu und brav zum Container getrappelt und habe die Textilien in die Klappe getan. Ja, von eurem Vater wird es keine Textil-Ausstellung nicht geben, aber ich bin ja auch nicht berühmt und deshalb ist es auch kein Schade, daß das Zeug weg ist. Was weg ist, wächst nicht nach, hat meine Mutter immer gesagt. Oh, still, Kinder, ich sehe gerade, daß der Vorsitzende der Arno-Schmidt-Stiftung ans Rednerpult tritt. Der will eine Rede halten. »Bei der Inventarisierung des Kleiderbestandes haben wir festgestellt, wie überraschend komplett und gut erhalten dieser Teil des Nachlaßes erhalten war.« (Herr Wendringer spricht im Flüsterton zu seinen neben ihm stehenden Kindern) Habt ihr das gehört? Ist das nicht ein feiner Zug von dem Herrn Vorstandsvorsitzenden, daß er aus den hinterlassenen Textilien eine Ausstellung zu Ehren des Schriftstellers Arno Schmidt gemacht hat? Textilien statt Text. Er hätte das alte Glump ja auch an einen fanatischen Schmidt-Anhänger für viel Geld verscherbeln können. Na ja, er hat selber Geld genug, da kann man auf eine weitere Einnahmequelle auch einmal nobel verzichten, nicht? So, das war sehr schön, nun haben wir aber genug gesehen, dann laßt uns mal gehen. Ob ich an den Vorstandsvorsitzenden herantreten sollte, um ihm eine Anregung für eine weitere Ausstellung zu geben? Denn Arno Schmidt hat sich ja auch ernähren müssen, da dürften doch noch einige Dosen Büchsenfleisch im Nachlaß zu finden sein. Und was ist mit dem Alkohol? Der war doch bestimmt kein Kind von Traurigkeit, eine auch nur halbgeleerte Flasche Kümmel macht sich doch prächtig in einer Ausstellung zum Thema ›Essen und Trinken bei Arno Schmidt‹. Na, ich laß es lieber, da können die von der Stiftung auch selber drauf kommen. Der absolute Knaller wäre aber, wenn man eine Ausstellung hinbekäme, die Arno Schmidt selbst zeigt, verstehnse, Herr Nachbar, also die Person, die echte Person, einbalsamiert praktisch, das wäre schon… könnense sich denken, was das für einen Skandal gäbe, obwohl es ja vor Jahren diese Leichenschau von diesem Kunstprofessor gegeben hat, da sind die Leute scharenweise hingeströmt, die konnten gar nicht genug kriegen von diesen wirklich sehr gut präparierten Leichen, die sahen wie lebensecht aus, warn sie aber nicht, alle schon tot, aber eben recht gut erhalten. Naja, man kann nicht alles haben. Und glaubense mir, Herr Nachbar, es ist letztendlich wie inner Ehe, nachher guckt man garnich mehr hin, was?

Neue Gespräche im Elysium XVI

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Fritz J. Raddatz meets Fritz J. Raddatz

 Sein Geist war in einer beständigen Gärung; er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihm etwas Außerordentliches begegnen. Nichts würde ihn befremdet haben, am wenigsten sein eigener Untergang. (Friedrich Schlegel: Lucinde, 1799)

(Fritz J. Raddatz sitzt vor einem großen Stand-Spiegel, schaut hinein und beginnt, sich mit seinem Gesprächspartner zu unterhalten) 

Fritz J. Raddatz: Beginn meiner neuen TV-Serie ›Dialog‹. Kultur im Fernsehen geht gar nicht, es ist das Medium für die Message, für Nachrichten. Viele der TV-Shows sind eben Shows und haben ja mit Literatur nix zu tun. Zurück von einer TV-Quassel-Tour, die sich ›Philosophisches Quartett‹ nennt, aber mit Philosophie (was wohl im TV auch nicht ginge) nichts zu tun hat. Warum ich an derlei teilnehme? »It’s the money, honey.« sagte Marlene, als man sie fragte, warum sie… 

Fritz J. Raddatz: Zeitweise kam es mir vor, als sprächen zwei Spiegel miteinander. Entdecke mehr und mehr eine unangenehme Eigenschaft bei mir: Wie aus lauter kleinen Kaleidoskop-Spiegelchen setze ich mir aus Lese-Bildern mein eigenes Portrait zusammen. Jeder spricht nur noch mit seinem Spiegel. Das ist der letzte Partner geworden. Wie gegenüberliegende Spiegel, deren Optik respektive Perspektive sich ins Unendliche bricht. Bin – war – ich zwei Menschen? Ich bin nur ein »Spiegel meiner Zeit«. Endlich weiß ich, was ein Tagebuch ist, nämlich niedergeschriebener Monolog. Das Tagebuch widerspricht, nein: widerlegt sich selbst. Ursprünglich als nächtlich-einsame Beicht- und Klagekladde angelegt, monologisch und ohne Publikum, schiele ich nun nach Publikation und gehe nun mit diesen Splittern meines Lebens hausieren. Sinnlos, Tagebuch übers Tagebuch zu führen; zumal’s mehr und mehr ein Nachtbuch wird – also Spiegel einsamer Schwärze. Ein Tagebuch ist keine Talkshow. 

Fritz J. Raddatz:  Schon mein Kindermädchen brach in Tränen aus über mein ›Geplapper‹. Wenn die Leute wüßten, wie mir eigentlich zumute ist. Jener Moment, der mein ganzes Leben bestimmt und zerstört hat, nämlich als mein Vater mich verführt hat und ich mit seiner Frau ficken mußte. 

Fritz J. Raddatz: Fühle mich am Ende meines Lebens angekommen. Unaufhaltsam auf den Tod zu. Wie einsam und un-gebadet wird man bloß mal verrecken? Ach, wenn man bloß den Moment noch erwischt, das alles ›reinlich‹ und mit korrekter Kraft ›selber zu erledigen‹. Ich habe ja keine Angst vor dem Tode, nur vorm Sterben. Als ich im FAZ-Magazin-Fragebogen seinerzeit – immerhin – ›bekannt gab‹, ich werde mich eines Tages umbringen, hieß es nur und ganz allgemein: »Das war der witzigste Fragebogen seit langem.« Habe fest vor, demnächst nach Zürich zu fliegen und mich nach den dortigen Möglichkeiten (der Sterbehilfe) zu erkundigen. Da ich demnächst 1 Woche allein auf Teneriffa sein werde, genügte es ja, unbeobachtet weit hinauszuschwimmen. Da lüge ich mir dann vor »Aber so fände man ja die Leiche nicht« – als wäre das dann noch wichtig! Ein Raddatz im Altersheim? Wie nur schafft man den Abgang vorher, rechtzeitig? Hängt man erst mal an den Schläuchen, geht’s ja nicht mehr. Ich weiß gar nicht, ob ich das ›Alter‹ erreichen will: dieses Regredieren in die Kindheit. Das Glied allmählich zurückschrumpfend in die Bedeutungslosigkeit der Vorpubertät. Dieses Schlaffwerden geht doch weit hinaus über die Heinrich-Heine-Frivolität, der beklagte, daß der Körperteil, der früher fast immer steif war, nun schlaff, und der (der Rücken), der früher immer elastisch, nun immer steif sei. Gestern habe ich mir meine ›Seniorenkarte‹ für die Bahn gekauft. Gott sei dank sagte die nette Verkäuferin: »Für wen ist die? Doch nicht für Sie? Sie müssen nämlich 60 sein.« Als ich an der Garderobe des ›Vier Jahreszeiten‹ nach meinem Mantel fragen wollte, kam mir die Garderobenfrau zuvor und kramte ihn unter den Hunderten hervor: »Solche Herren wie Sie gibt es nicht so oft, die merkt man sich.«

Fritz J. Raddatz: Die Bepflanzung meines Grabes in Keitum wird nun endlich erledigt [1982, da war ich 51 Jahre alt; 2015 habe ich mit 83 Jahren mir in Zürich das Leben nehmen lassen]. Das Grab, by the way, ist sehr ›schön‹ – zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man wohl nicht verlangen… Die Absurdität des ›schönen Grabs‹. Habe mir eine weiße Rose von meinem Grab gebrochen. Also Krebs. Gestern kam der endgültige Befund. Abschied von der Welt? Trotz tagelangen Grübelns weiß ich noch nicht, wie und wo. Inzwischen habe ich 50% ›jenes‹ Medikaments – und graule mich prompt, mir die fehlenden 50% zu verschaffen. Nun stellt sich heraus: ich habe keinen Krebs! Da hatte ich nun fast täglich die Pläne des Suizids, wann, wo, wie hin und her erwogen, weil ich einen wachsenden Krebs nicht hätte weiter wuchern lassen und nach wie vor jeden jeglichen Eingriff verweigert hätte. Und nun ›April, April‹. 78. Geburtstag. Nachmittags an meinem Grab. Konnte es nicht mehr frivol und mit ›Hat noch Zeit‹ ansehen. Ertappe mich, wie ich bei Strandspaziergängen, wenn die Sonne von hinten scheint, den eigenen Schatten aufschlürfe, beim Betrachten desselben nur denke: »Wann gibt’s den Schatten nicht mehr?« »Wann bin ich nur noch ein Schatten?«

Fritz J. Raddatz: Resultat meines Lebens ist ein Stapel Bücher (von dem niemand, auch ich nicht weiß, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden). Geburtstag. Ich werde den Abend mit einer herrlichen Flasche Krug und 1/2 Pfund des besten Caviar traurig ›feiern‹. Wie lange noch…? Sehr alt werde ich auch doch nicht. Altwerden ist nur mit sehr viel Selbstironie zu ertragen. In meinem Leben war nichts Freudiges – war vielleicht viel Genießerisches.

Fritz J. Raddatz: Seit meinem 15. Lebensjahr hatte ich eine vollkommen ausgelastete, täglich ausgeübte Sexualität. Die 20 Frauen, mit denen ich geschlafen habe, besagen doch numerisch nichts gegenüber den doch gewiß 1000 Männern (One-Night-Stands und One-Hour-Stands mitgezählt), mit denen ich Sex hatte? Eigentlich bin ich schon tot, leergeliebt, ohne Freudigkeit. Das letztlich Unheimliche der Sexualität, vermutlich wird sie immer unerklärlicher, je mehr man sich im Alter aus dem Bannkreis dieser Lust entfernt. Wozu lebe ich eigentlich noch? Testament gemacht. Komischer Vorgang. Beerdigung bis ins Detail, welche Musik, festgelegt. »Es ist getan«: der nächste große Schritt aufs Ende zu. Nun habe ich alles bis zur Lächerlichkeit ›vorbereitet‹, Grab gekauft, Testament gemacht, und bin innerlich trotzdem nicht vorbereitet, weiß nicht, wie mich vorbereiten auf den Abschied von der Welt, an der ich mehr hänge, also am Leben, als ich wahrhaben will und mir bisher selber zugab.  Angst, zu lange zu leben (weil eventuell das Geld nicht reicht), als auch Angst, zu bald zu sterben (weil’s mir doch eigentlich gutgeht).

Fritz J. Raddatz: Ich lebe in Suiten, fresse Austern, saufe Champagner, kaufe bei Yves Saint Laurent und bin ›berühmt‹. Bin ich glücklicher? 60. Geburtstag. Ich muß mich schon fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich Bedeutung, nicht enorm überschätze. Was bleibt, ist offenbar der geistreiche Mann, der schnelle und zu schnellen Fehlern neigende Journalist, der gebildete Anreger. Die Hurenhaftigkeit dieses Berufs. Die Albernheit der Journalisten. Sie sind stolz (in anderen Zeitungen) zitiert zu werden. Sie sind wie Schauspieler, die der Kollegin, deren Rolle nur ein »Ihr Tee, Madame« hergab, hinterher in der Garderobe sagen »Irmchen, du warst großartig!«

Fritz J. Raddatz: Diese Autoren, ihre Narzißhaftigkeit und Eitelkeit ist zu schlimm. Sie sind ja alle absonderlich, die Herren Schreiberlinge, eitel. Unsere armen hungernden Dichter sind ja immer entweder auf einer ihrer Datschen oder zu Vorträgen in Amerika. »Ach, Herr Raddatz, ich leide so unter dem Ruhm. Sie wissen ja nicht, wie das ist.« Sie erzählen einem von ihrem Liebeleid und auch ›anderes‹; wenn ich nun Geschichten vom Knabenstrich erzählte? Wie immer sind unsere lieben Intellektuellen mehr an sich interessiert als am ›Weltgeschehen‹.

Fritz J. Raddatz: So hat mich ein Satz in einem Fassbinder-Nachruf besonders geschockt: Er habe nie in seinem Leben auch nur einen Tag Urlaub gemacht. Was für mich ja nun auch zutrifft – ob nun Sylt, auf Sardinien oder in Fuerteventura: Ich habe doch stets ein Buch vor der Nase oder kritzle an etwas.

Fritz J. Raddatz: Ich bin zu bunt und zu ›outwayish‹. Ich versinke wie eine Beckett-Figur im Sand. Was ist nur an meinem Leben, daß alles so spektakulär, so angriffig ist? Da ich ja wahrscheinlich nicht ›richtig‹ begabt war und bin, habe ich wohl diese Leere aufgefüllt, durch Energie, durch Schnelligkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Schlagfertigkeit. Wir versinken alle miteinander im Beckett-Sand. Und es wird von mir bleiben: Nichts.

Fritz J. Raddatz: Tiefpunkt der Woche: Hans Mayer. Der Egoismus des Mannes hat nun endgültig krankhafte Züge angenommen. Hob schon im Hotel den Hörer ab mit dem Satz: »Ich sehe mich gerade im Fernsehen.« Ich glaube kein Wort von ihm, nichts, was er schreibt, nichts, was er sagt. Verlogen ist auch jede Zeile in seinen Memoiren. Er lügt sich seine eigene Biographie zurecht (tun wir das alle?). Kaum war Adorno tot, gab’s den Essay ›Adorno und ich‹. Wie ein Schüler, der mit Eins versetzt wird, berichtete er stolzgeschwellt: »Es tun sich große Dinge in Sachen Hans Mayer – aber ich kann sie noch nicht erzählen.« Die Sucht, anerkannt zu werden, führt den Mann zu seltsamen Bahnen. »Hauptsache gedruckt«. Es muß schöner sein als ein Koitus. »Ich bin ein Klassiker« – das muß man auch von sich sagen können; jedenfalls sagte es Hans Mayer eben in einem einstündigen Bedeutungs-Duschen-Telefonat. Was für ein seltsamer Mensch dieser Hans Mayer! Hans Mayer, der bei seinem Zahnarzt Hans Meier beleidigt aus dem Zahnarztstuhl, Gebiß in der Hand, aufspringt und die Praxis verläßt, weil die Assistentin ihn mit »Guten Tag, Herr Mayer« begrüßt. Niemand war schon in der DDR, dann später in der BRD so geldgierig wie Hans Mayer. Meine Stasi-Akte. Mitschnitt eines Telefonats mit Hans Mayer: »Ein Professor Meier, unbekannt.« Müßte man ihm zusenden. Besuch – letzter? – beim 90jährigen Hans Mayer; nach langjähriger ›Pause‹. Er ist seine eigene Anekdote, die so geht: Hans Mayer hat Besuch. Er redet 2 Stunden ohne Unterlaß, wo er alles Vorträge gehalten hat. Nach langem betäubten Schweigen wird der Besucher gefragt: »Und nun zu Ihnen – haben Sie mein neuestes Buch gelesen?« Dann: »Mein Grab wird sehr schön«. Er hat es sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gesichert. »Da gehöre ich schließlich hin, ich werde neben Brecht und Eisler und Arnold Zweig und Hermlin liegen, das wird sehr schön.«

Fritz J. Raddatz: Da ja nichts in meinem Leben ohne ›Pointen‹ ist… Und nichts in meinem Leben geht ohne Pointe.

Fritz J. Raddatz: Die Bepflanzung meines Grabes in Keitum wird nun endlich erledigt. Das Grab, by the way, ist sehr ›schön‹ – zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man wohl nicht verlangen… 70. Geburtstag. Grabstein gekauft. Gestern das Zielband namens »Näher mein Tod zu dir« erreicht: 75 geworden. Mit 30 dachte ich: »Na ja, mach’s mal bis 45« – wohl ein reichlich albernes Tucholsky-Plagiat. Gibt es überhaupt noch Glück mit 75 Jahren? So sah mein heutiger Einkaufszettel aus: 1. Sarg kaufen 2. Wein bestellen 3. Brot besorgen. Manchmal ertappe ich mich halt doch bei dem Gedanken: »Eigentlich schade, daß es bald vorbei ist.«

Fritz J. Raddatz: Ich hatte doch ernsthaft über viele Jahre hinweg geglaubt, man könne mit Schriftstellern befreundet sein. Während in Wahrheit doch die Berührungsfläche etwa der von zwei Quecksilberkügelchen entspricht: Jeder rollt den Sisyphusstein seines kleinen Rühmchens vor sich her. Die Monologisierung unserer Gesellschaft oder Die Ferne der Intellektuellen untereinander. Wenn ich doch lernte, daß niemand an niemanden interessiert ist. Literaten sind grotesk, egal bei welcher Leichenfeier: Sie lesen vor. »Darf ich Ihnen meinen Namen buchstabieren?« – »Aber ich habe ein Essay über Sie geschrieben.« Günter Grass stellt demnächst sein neues Buch vor – eingeleitet von Marcel Reich-Ranicki. Sein Todfeind, der Mann, den er angeblich tief verachtet – »Dem gebe ich nie wieder die Hand« –, der ihn von ›Blechtrommel‹ bis ›Unkenrufe‹ auf das verächtlichste angegriffen hat, über dessen letzten geradezu berserkerhaften Verriß er bei mir am Telefon tatsächlich weinte: Dem übergibt er zur Taufe sein neues Kind. Wieder einer weniger. Ich will Grass vorerst und wohl für lange nicht sehen. Verkommenheit des Kulturbetriebs. Gestern abend Grass zum Essen. Fortsetzungsroman ›Verkommenheit des Kulturbetriebs‹. Nobelpreis für Grass. Grass-Lesung. Ovationen, das Publikum stand auf! Als käme ein Heilsbringer. Weiheschrift für Reich-Ranicki. Günter Grass mit einer ›Seid umarmt!‹-Anschmiererei, derselbe Grass, der mir schwor, »dem Manne gebe ich nie mehr die Hand«. Immer weiß einer über den anderen, nein: über alle anderen möglichst Negatives zu sagen – aber privatim. Und öffentlich wird duftende Narde verteilt. Sie dinieren, korrespondieren und loben einander. Die Selbstenthüllung von Freund Grass in seinem neuen Buch, er sei freiwillig bei der SS gewesen. Warum ›enthüllt‹ er das erst jetzt? Berechnung, weil SS-Mann Grass natürlich nie den Nobelpreis erhalten hätte? Die perfekt inszenierte Reklamemaschine, die er mit diesem Geständnis verbindet und anwirft. Er war kürzlich bei mir zum Abendessen, brachte ein Vorabexemplar des Buches mit freundlicher Widmung mit – – – und sagte kein einziges Wort in Sachen Waffen-SS. Grass nennt mich in seinem Tagebuch einen »Scharfrichter« (was, genau genommen, ein Mörder ist). Das Tischtuch ist zerschnitten.

Fritz J. Raddatz: Sonntags-nach-Frühstück-Spaziergang, den Leinpfad entlang. Dort sitzt auf einer Bank eine einsame alte Frau in schäbiger Jacke und Pullover, mit einem Stock am Boden stochernd, erloschenes Gesicht; genau gegenüber von Augsteins Führerbunker-Villa. Es war Rudolf Augstein. Fast hätte ich ne Mark hingelegt. Die letzten zehn Jahre seines Lebens war er ein lallender Trunkenbold. Gestern schockiert vor dem Grab von Rudolf Augstein in Keitum, unweit dem meinen: Es ist kein Grab, sondern eine schlecht geharkte Sandstelle, als hätte man eine Katze verscharrt. Vor dem Stein mit seinem Namen eine verpißte Primel. Kein Strauch, keine auch nur winzigste Hecke. Die Grabstelle geht nahtlos über zum nächsten Grab. Ich habe etwas derart Liebloses, ein solches Wegwerfen eines Verstorbenen noch nie in meinem Leben gesehen. Da sind nun alle diese Söhne, Halbsöhne, Töchter, Halbtöchter, Witwen, geschiedenen Damen, die in ihren von ihm bezahlten Villen wohnen. Und keiner von all denen fühlt sich bemüßigt, dem Vater, dem ehemaligen Mann eine auch nur ordentliche, ihm gemäße Ruhestätte zu schaffen.

Fritz J. Raddatz: Was mache ich falsch? Es kann ja nicht nur die Schuld der anderen sein – irgendwas muß auch an mir liegen. Aber was bloß? Ich würde ja versuchen, es zu ändern – aber ich weiß einfach nicht, was es ist. Erwarte ich immer ›mehr‹, also zu viel von den Menschen? Schade, daß ich nie mein Stück ›Die Journalisten‹ geschrieben habe – sie wollen die ganze Welt belehren und sind doch (meist) ganz kleine Leute. Schreibende Stricher. Die verliehene Macht – die kommt immer vom Inhaber; also vom Geld. Wie schade, daß ich so gar keine scenische Begabung habe, daß ich das geradezu sich aufdrängende Stück ›Die Journalisten‹ (besser als Gustav Freytag) nicht schreiben kann. Neben mir Joachim Fest, der ja gebildet und verklatscht ist, also eine angenehme Mischung.

Fritz J. Raddatz: Dabei komme ich mir auch lächerlich vor in dieser Thomas-Mann-Nachäfferei, es ist frivol und unangemessen, ich Winzig-Talent in den zu großen Schuhen der Allüren dieses Genies. Leicht lächerlich, daß ich in meinem Alter gelegentlich noch ›geschlechtliche‹ Träume habe, wie Thomas Mann das wohl nannte. Thomas-Mann-Traum: Er flirtete mit mir (und mehr, was ich indiskret fände, hier niederzulegen; man beschreibt nicht, nicht einmal als Traum-Mutmaßung, die Schwanzmaße von Thomas Mann). Erwische mich aber bei grotesken Parallelen, z. B. dem An- und Nachstarren schöner Knaben- oder Männerkörper, kräftig-muskulös oder elfenhaft schmal, behaart oder blond nur mit Flaum am Körper. Komme mir impotent und voyeuristisch vor, mache mich vorzeitig zum Greis. Es knistert nirgendwo – wo doch früher an jeder Ecke und … zigmal am Tag es sich ereignete. Meine Kraft läßt in einem erschreckenden Maße nach, meine Sexualität – noch lange nicht her, wo ein Tag ›ohne‹ mich ganz nervös machte – auch. Mehr Genuß als aus irgendeinem Coitus zog ich aus der Lektüre der Thomas-Mann-Tagebücher. Die übliche morgendliche Erektion ist in dem Moment weg, in dem ich wach werde – d. h. zu denken anfange. Neulich im Bad ein ca. 14jähriger mit heftiger Erektion sich nicht nur provozierend neben mich unter die Dusche stellend, sondern mich dreimal in die Umkleidekabine verfolgend, jedesmal kokett das Hös’chen ausziehend und stolz-bewußt den sehr schönen jungen Schwanz zeigend. Ein Glück, daß ich kein Päderast bin. Aber ich werde wohl immer sonderbarer. Ich gehe ein bißchen spazieren und ertappe mich, wie ich tatsächlich wie ein alter schwuler Professor aus nem billigen Film einem muskulösen Bauarbeiter offenen Mundes nachstarre. Nicht, daß man mit so was wirklich ins Bett wollte – es ist eben nur das ganz Andere. Mein erster Ausflug in die schwulen Dünen erfolggekrönt, Verlockung, Lockung durch einen palmschönen Knaben. Aber ich laufe davor weg. Thomas-Mann-Tagebücher beendet, die dann doch aus dem Manicure-Pedicure-Pudel-unleidlich-Niederungen in abgründige Tiefen tauchen: eine rührend-intensive Verliebtheit in einen Hotelkellner. Die Einsicht, daß er seine (fast) ungelebte Erotik/Sexualität immer in sein Werk ›investiert‹ habe, dabei skurril, daß er einen nächtlich-steifen Schwanz als »Ermächtigung« bezeichnet und die Ejakulation als »Auslösung«. Welcher moderne Autor würde mich so faszinieren? Ich strahle, obwohl ein 80jähriger Greis, im Moment irgendeine sexuelle ›Strahlung‹ aus. Wieso beschäftigt mich das, als wäre ich Thomas Mann und lechzte nach dem kleinen Kellner im Hotel, um dann in Gedanken an den zu onanieren, was er ja detailliert in seinen Tagebüchern beschreibt?

Fritz J. Raddatz:  Ich mag meinen Porsche nicht mehr, zu hart, zu laut, zu robust. Überlege allen Ernstes, einen Mercedes zu kaufen. Sitze in tiefer Depression. Die eigene Bizarrerie erstickt mich: Ich umgebe mich, um mich zu ›trösten‹, mit immer mehr Luxus – – – aber der tröstet mich nicht. Eigentlich ist mein Leben unfreudig. Nun habe ich das neue Super-Auto, einen Jaguar, und es ist auch so wunderbar, daß ich mich frage, warum ich eigentlich dieses Wasserski-Laufen mit dem Porsche die Jahre gemacht habe, statt so ein bequemes, komfortables Ding anzuschaffen; und irgendwie genieße ich’s ja auch – leise, weich, elegant, Mahagoni und Leder: Aber ich genieße es auch wieder nicht. Ich habe summa cum laude in Hypochondrie promoviert. Vergnügt ist halt nicht meine Lebenstemperatur.

Fritz J. Raddatz: Stolz, weil ich alles in meinem Leben aus eigener Kraft geleistet habe; keine reiche Heirat, kein Erbe, keine Eltern, keine ›Beziehungen‹.

Fritz J. Raddatz: Ich will das Tagebuch von jetzt an anders führen: nur stating facts, kein raisonnement, keine Kommentare (keine Weinerlichkeit). Am besten wäre ein Tagebuch (aber wozu überhaupt ein Tagebuch?), das ausschließlich notiert. Alle möglichen Wirrnisse finde ich nun in 10 Jahre alten Tagebüchern: Ich habe mich nicht geändert, nicht ›gebessert‹, bin nicht klüger, sondern allenfalls wirrer geworden. Die Tagebücher der Jahre 1969–1970 habe ich verbrannt, weil ›zu intim‹ wegen der erotischen Finsternisse.

Fritz J. Raddatz: Kunst wird in Hamburg so begriffen: Eine der fein geföhnten Damen fragt mich: »Und was machen Sie beruflich?« Ich: »Ich bin Schriftsteller.« »Huch, wie interessant. Ach, ist es nicht herrlich, so kreativ zu sein, ich liiiiiiebe kreative Menschen.« Mich interessiert ›mein Publikum‹ nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten.

Fritz J. Raddatz: Kunst stülpt mich ganz tief um, auch deswegen siedelt so früh und so oft Tod in meinen Gedanken, in meinem Gefühl. Ich wiederhole so oft Platens Vers »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen / ist dem Tode schon anheimgegeben…« Eine geradezu panische Schönheits-Sucht. Je älter, faltiger, weißhaariger und häßlicher ich werde, desto unstillbarer das Verlangen nach schönen Blumen um mich, schönen Möbeln, Objekten, Bildern – eine riesige Ersatzhandlung. Ringsum Blumen und Blüten und ich wie die Hummel in der Hortensie mit dem Champagner-Glas in der Hand: und dennoch miesepetrig. Ich bin eine Absurdität. Eben habe ich mehr als 20 Minuten damit verbracht, Bananenblüten in die neue riesige Jugendstil-Vase zu arrangieren. Während ich selber, Dorian-Gray-haft, immer ›künstlicher werde‹ – morgens brauche ich inzwischen eine volle Stunde, wenn nicht mehr, mit allen Magentees, Salben, Augentropfen, Hauttinkuren, Fußpilzgels etc. Kann mir nur einen schrecklichen Dorian-Gray-Spiegel vorhalten: Immer und immer mehr werde ich zu einer grotesken, lächerlichen Figur, einem Mann wie eine Attrappe: vor Blumen, Kerzen und auserlesenem Mobiliar alleine zum Abendessen sitzend bei Mozart oder Hanns-Eisler-Platten, bei Weinen oder Champagner aus ichweißnichtwievielen Gläsern – – – und zugleich ein zurechtgeschminktes Gespenst.

Fritz J. Raddatz: Ich ging in Nizza an die Plage, da, wo der Paillon-Fluß ins Meer strömt und warf meinen schönen Strohhut hinein. Er trudelte fröhlich auf den Wellen, drehte sich wie zu einer Abschiedsmusik und ging dann langsam unter.

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982–2001, Reinbek bei Hamburg 2010; Tagebücher 2002–2012, Reinbek bei Hamburg 2014

Neue Gespräche im Elysium XV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Andy Warhol meets Thomas Mann

Wer nicht faßt, daß das Leben eine Wiederholung ist und daß darin des Lebens Schönheit besteht, der hat sich selbst gerichtet. Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem. (Søren Kierkegaard: Die Wiederholung, 1843)

Andy Warhol: Hi, mein Name ist Andy Warhol. Wir sind uns im Leben niemals begegnet, da Sie 1875 geboren und 1955 gestorben, ich 1928 geboren und 1987 gestorben bin. Sehr geehrter Herr Mann, ich würde Sie gern für meine Zeitschrift ›Interview‹ interviewen. Ich habe Ihnen zur Ansicht einige Exemplare meines Magazins mitgebracht. (Reicht Thomas Mann drei Hefte von ›Interview‹, auf deren Titelseite lauter junge, gutaussehende Männer abgebildet sind). 

Thomas Mann (mit kennerischer Miene): Mmhh, ja, die sehen aber gut aus. Dieser hier (zeigt auf einen Jüngling vom Tadzio-Typus) gefällt mir ausnehmend gut. Welche hübschen Augen und Zähne! Der ist etwas fürs Herz. Noch einmal also dies, noch einmal die Liebe, das Ergriffensein von einem Menschen, das tiefe Trachten nach ihm — seit 25 Jahren war es nicht da und sollte mir noch einmal geschehen. Muß etwa 25 Jahre alt sein, kein Knabe, sondern ein junger Mann.

Andy Warhol: Wow! Das freut mich aber, daß Ihnen meine Zeitschrift gefällt. (Holt aus seinem mitgebrachten Rucksack eine Polaroid-Kamera heraus) Darf ich ein Foto von Ihnen machen? Sie müssen wissen, ich habe zu Lebzeiten viele Prominente aus der ganzen Welt fotografiert und anhand der Polaroids dann daraus Porträts gemacht, die alle den gleichen Preis kosteten. In Ihrem Fall und weil wir uns ja im Elysium befinden, würde ich Ihnen nichts berechnen.

Thomas Mann:  Schießen Sie los! (Setzt sich in Pose) Starke Sexualität zur Zeit. Volle Potenz!

Andy Warhol: Okay, ich nehme mal an, das Interview hat schon begonnen, mein Tonbandgerät läuft auch schon. Mein Tonbandgerät ist meine Frau. Ein Problem ist immer nur ein gutes Tonband, und sobald sich ein Problem in ein gutes Tonband verwandelt, ist es kein Problem mehr.

Thomas Mann: Kann keine Diskussion vertragen. Habe zuviel Diskussion in mir selbst.

Andy Warhol: Gee, Ich will nicht mit Ihnen diskutieren, ich will Sie interviewen. Sie kennen schon den Unterschied? Ich muß aber auch nicht unbedingt Fragen stellen, falls Sie auch das stören sollte. Fangen Sie doch einfach an zu erzählen.

Thomas Mann: Als ich mit meiner Frau Katia auf einer Reise in der Schweiz war, bemerkte ich die dortzulande unglaublich verbreitete Homosexualität. Dann sah ich im Hotel einen jungen Kellner, sah sein Gesicht, das es mir sofort angetan hat, einmal flüchtig bei der Herabkunft im Lift. Weltruhm ist mir nichtig genug, aber wie gar kein Gewicht hat er mehr gegen ein Lächeln von diesem Jüngling, den Blick seiner Augen, die Weichheit seiner Stimme! Man leidet noch mit 75 Jahren an der Liebe. Noch einmal, noch einmal! Die Eroberung, die er an mir gemacht, muß seinem Selbstvertrauen zuträglich sein, vielleicht zu sehr. Der Gedanke einer ›letzten Liebe‹ erfüllt mich bis heute dauernd, ruft alle Unter- und Hintergründe meines Lebens wach. Im Halbschlaf träumte ich daß ich von Franzl, dem Letztgeliebten, als von dem Repräsentanten der ganzen angebeteten Gattung mit einem Kuß Abschied nähme. Mein Gott, wie anziehend sind junge Leute, ihre Gesichter, wenn sie auch nur annähernd hübsch sind, ihre Arme und Beine! Wie der damals auf dem Tennisplatz. Auf dem Tennisplatz wieder eine erfreuliche Gestalt in Rot mit bloßen Beinen und hübschen Bewegungen. Empfand, wie notwendig sinnliche Beteiligung und Freude für die Produktion sind. Auf meine Jahre wirkt Jugend unbeschreiblich rührend, bedingt auch neiderweckend. Mein wahnhafter und doch leidenschaftlich behaupteter Enthusiasmus für den unvergleichlichen, von nichts in der Welt übertroffenen Reiz männlicher Jugend, die von jeher mein Glück und Elend, nicht auszusagen, enthusiastisch und stumm. Krankhafter Enthusiasmus für den ›göttlichen Jüngling‹. Der Kult des männlichen Körpers in der italienischen Kunst entzückt mich. Selbstverständlich fielen meine Augen auf einen Adonis in der Badehose; vollkommen schön, sogar die Gesichtszüge. Aber zweifellos ist mein Enthusiasmus für das Jung-Männliche in letzter Zeit, vielleicht aus Torschluß-Gefühl, stürmisch gewachsen, mein Auge ungeheuer wach und schmerzlich-begierig für alle dergleichen Schönheit, die Nicht-Empfänglichkeit dafür mir bis zur Verachtung unbegreiflich. Gestern hübscher junger Photograph, dem ich gern in die Augen sah. Sah auf einem Lastwagen einen blonden, blühenden Jüngling mit nacktem Oberkörper, was einen großen Zauber für mich hat. Daß die Bewunderungswürdigkeit des ›göttlichen Jünglings‹ alles Weibliche weit übertrifft und eine Sehnsucht erregt, vergleichlich mit nichts in der Welt, ist mir Axiom. Las eine englische Broschüre, wissenschaftlich-psychoanalytisch über Homosexualität, die das Ergebnis der Inzestangst in Beziehung auf die Mutter sein soll. Die gelehrte Unwissenheit selbst.  Armin Martens, meine erste Liebe, und eine zartere, selig-schmerzlichere war mir nie mehr beschieden. Nur zu begreiflich, daß er mit meiner Schwärmerei nichts anzufangen wußte. Ich habe ihm im ›Tonio Kröger‹ ein Denkmal gesetzt. Klaus, der Geliebte von einst, wird mich besuchen. Unruhe nachts durch Rektalbeschwerden.

Andy Warhol: Sex ist auf dem Bildschirm und auf dem Papier erregender als unter der Bettdecke. Für mich ist Sex einfach zu viel Arbeit. Jeder hat auch eine andere Vorstellung von Liebe. Ich kannte ein Mädchen, das gesagt hat: »Wenn er nicht in meinem Mund gekommen ist, dann habe ich gewußt, daß er mich liebt.« Ich kenne eine Frau, die jeden Nachmittag jemanden anruft und sagt: »Ich zahle dir hundert Dollar, wenn du mit mir bumst.« Haben Sie von den Damen gehört, die junge Männer ins Theater mitnehmen und ihnen einen runterholen, damit sie sich das alles aufs Gesicht machen können? Sie massieren das Ejakulat wie Gesichtscrème ein. Irgendwie macht das glatter und läßt sie an dem Abend jünger aussehen. Wäre es nicht toll, einen Film nur mit gutaussehenden Jungen zu drehen — der Metzger, der Bäcker – nur Models. Einmal hat mich ein gutaussehender Kellner zum Dinner eingeladen, doch ich bekam kalte Füße. Es ist schwierig, Mädchen auszuführen, weil man sie aufreißen muß. Da ist es schon leichter, mit Jungs zu gehen, die dich aufgerissen haben. Die alten Schachteln wollen immer noch mit Männern ins Bett. Alle steinreich, mit dicken Klunkern, richtig vulgär und lustig. Geschieden und auf Abenteuer aus. Jede könnte deine Mutter sein. Auf der Party tanzen die ganzen alten Männer mit ihren neuen jungen Frauen die sie für alte eingetauscht hatten. Hier traf ich die schönsten und berühmtesten Models. Und alle sehen aus wie Barbie-Puppen: Keine Hüften und große Titten, und die Titten schwirren nur so durch den Raum. Bianca Jagger und Dr. Giller hatten beim ›Erotik-Bäcker‹ zwei große Marzipankuchen gekauft: der eine geformt als Schwanz, der einen Arsch fickt, der andere nur als Schwanz. Bianca trug den Kuchen herein und posierte für die Fotografen mit Schwanz und Eiern. Sie lief mit heraushängenden Titten rum. Sie ist nun mal eine Nutte. Beim Essen zog Bianca ihren Slip aus und reichte ihn mir. Sie sah untenrum ein bißchen dick aus, ihr Hintern ist ziemlich fett geworden. Sie hat wirklich einen breiten Arsch, sagte aber, sie sei dünn. Und man sah ihr auch ihr Alter an. Ich weiß nicht, wie alt sie ist, aber genau so alt sieht sie aus. Sie und Tom Sullivan vögelten praktisch im Stehen vor allen Leuten. Sly Stallone machte sich an Bianca ran, und allem Anschein nach sind sie in den Keller zum Bumsen gegangen. Bob Colacello sah, wie Bianca Poppers nahm, und sagte zu Diana Vreeland: »Hier geht’s täglich mehr zu wie im alten Rom.« Diana antwortete: »Ja, hoffentlich – das ist es doch, was wir wollen!« Alle versuchten Jerry Hall ins Bett zu kriegen. Sie weihte mich in ihre Philosophie ein, wie man einen Mann hält: »Selbst wenn du nur zwei Sekunden Zeit hast, laß alles stehen und liegen und blase ihm einen. Dann will er Sex mit keiner anderen mehr.« Jerry Hall trug eine Schürze. Wenn man den Reißverschluß aufmachte, kam ein großer Schwanz zum Vorschein. Ich machte lustige Fotos, wie sie mit einem Schwanz in der Hand den Truthahn zubereitete. Jerry erklärte, wie man Schwänze lutscht und Mösen leckt. Und dann erzählte sie Witze. Es war lustig. Marisol Escobar hatte eine wunderschöne Geburtstagstorte gebacken – schöne Marzipanfiguren, die miteinander bumsten. Roy Halston fragte Liza Minelli, ob er ihr das Paradies zeigen solle, und als sie ja sagte und fragte, wo das denn sei, sagte er, in seinem Zimmer. Also gingen sie hin und bumsten. Der Oberkellner zeigte uns endlich sein wahres Gesicht. Er war in hohem Grade schwul. Brooke Shields war auch da. Sie ist die hübscheste lebendige Puppe, die ich je gesehen habe. Machte Fotos von betrunkenen Frauen, die auf Parkbänken schliefen, und das Leben kam mir schrecklich vor. Aus nächster Nähe betrachtet, sehen alle Menschen fürchterlich aus. So animalisch.

Thomas Mann: Nähe des Wunsches zu sterben, weil ich die Sehnsucht nach dem ›göttlichen Knaben‹ nicht länger ertrage. Las André Gides Journal, verstimmt gegen ihn durch sein allzu direkt sexuell aggressives Verhalten gegen die Jugend, ohne Achtung, Ehrerbietung vor ihr, ohne sich seines Alters zu schämen, unseelisch, eigentlich lieblos. Ich – und einem geliebten Jungen irgend etwas zumuten! Undenkbar! Seine Verehrung durch Niederträchtigkeiten zu stören! Ein halbwegs hübscher junger Kellner im Speisesaal, nach dem ich zufällig ausgeblickt, reagierte sofort mit bereitwilligem Schauen. Sah aber, daß weiter nichts zu hoffen. 17jähriger Gärtnerjunge mit schönen Beinen, im Garten beschäftigt. Nickte ihm zu. Das letzte Vergessen und Verschmerzen von allem ist der Tod. Oft Gedanken an mein Hinweggehen. Zum Haarschneiden nach Westwood. Gefühle über Wollust und Tod. Trank zu gewöhnlicher Zeit meinen Kaffee. Zum Haarschneiden und Rasieren nach Westwood im offenen Wagen. Kräuterkäse zum Frühstück. Zu Hause Chokolade. Nach Westwood zum Haarschnitt (erfrischend). Nach Westwood gestern zum Haarschneiden. Mittags nach Westwood zum dringlich gewordenen Haarschneiden.

Andy Warhol: Okay, sehen Sie auch das Muster? Zum Haarschneiden nach Westwood. Sie sagen das in ihren Tagebüchern immer wieder. Das ist eine Serie, mein Kunstprinzip. Das Leben ist wirklich eine ständige Wiederholung.

Thomas Mann: Zum Haarschneiden und Rasieren nach Westwood im offenen Wagen. Nach Westwood zum Haarschneiden. Mittags nach Westwood zum Haarschneiden.

Andy Warhol: Meine Coca Cola-Bilder habe ich aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Die Flaschen wurden teils in Vorderansicht, teils in Seitenansicht gezeigt.  Der Durchschnittswert Ihrer Sätze zum Haareschneiden ergibt dann: Zum Haarschneiden nach Westwood. Man muß Banalitäten oft genug wiederholen, dann verlieren sie alle Banalität und werden Merksprüche. In meinem Tagebuch wiederholt sich ein Satz immer wieder: »Wir gingen ins ›Studio 54‹.« Der russische Schriftsteller Nabokov hat Ihnen vorgeworfen, daß Ihre Figuren klischeehaft gebaut seien. Ideen als Personen. »Sie wollen eine rührende Figur? Vier Zutaten reichen: Frau, alt, klein, arm. Da haben Sie sie. Sie wollen einen stolzen Aristokraten? Bitte sehr – Monokel, Gamaschen, Schnurrbart, Hund.«

Thomas Mann: Der Neid unter Schriftstellern ist grenzenlos und unauslotbar. Man würde heute anders schreiben, wenn Nietzsche und ich nicht gelebt hätten. Eine überlebensgroße Büste wird von mir hergestellt. Nachdenken über die Aufstellung meiner Büste in Stein auf einem städtischen Platz in Deutschland. Dauer in Sonne, Regen und Schnee. Eigentümlich beruhigend über den Tod und die Existenz festigend. Ich sollte aufhören, dieses nutzlose, leere Tagebuch zu führen, aus Scham vor meiner gegenwärtigen elenden Existenz. Trank im Eßzimmer Orangensaft und rasierte mich dann. Sehr gute Gänseleber vor der Suppe. Halsentzündung. Gurgeln mit Natron. Die Verdauung sehr schwierig. Hartnäckige Konstipation. Fast unkorrigible Verstopfung. Schwere Konstipation und Gemütsleiden. Gestern stark abgeführt ohne böse Folgen. Glück des Zuhause, des Gerettet- und vor der Welt Geborgenseins, die draußen schreien mag. Abgeführt und gebadet und im Eßzimmer das Gewohnte. Trage Hemd und Hose. Nachmittags rasiert. Schlechtes Befinden. Brand des Zeppelin; sehr eindrucksvoll. Die Verdauung sehr schwierig. Die Öl-Creme, die den Verdauungstrakt schmeidigt, das Beste, das mir in diesem Punkt je empfohlen. Öl und Laxativ bekommt mir schlecht, aber ohne sie verhärtet der Stuhl sich in gefährlicher, verwundender Weise. Gemeindeschwester Anna mit Einlauf. Nachher, wie zu erwarten, Juckreizung der Aftergegend.

Andy Warhol: Was ist schon das Leben? Man wird krank und stirbt. Das ist alles. Also muß man sich beschäftigen.

Thomas Mann: Spezial-Audienz bei Papst Pius XX. Die weiße Gestalt des Papstes vor mich tretend. Bewegte Kniebeugung und Dank für die Gnade. Hielt lange meine Hand. Durch die Audienz im Stehen erinnert an Napoleon mit Goethe in Erfurt. 

Andy Warhol: Ging in die Kirche. Ich bleibe immer nur fünf oder zehn Minuten. Während ich kniete und Gott um Geld anflehte, kam eine Stadtstreicherin herein und wollte welches von mir. Ich gab ihr 5 Cent. Roy Halston zeigte mir meine Geburtstagstorte. Sie war mit Geld bedeckt. Halston wollte das Geld verbrennen, aber ich war dagegen. Ich schlug vor, die Torte so anzuschneiden, daß jeder mit seinem Stück Kuchen einen Geldschein bekam. 

Thomas Mann: Gehobener Laune durch die bevorstehenden reichen Einkünfte. Es kommt jetzt viel Geld von allen Seiten, und große Summen stehen aus fürs nächste. Wir sind sehr reich und müssen hohe Steuern zahlen.  Wie nahe steht der Tod! Ängstigendes Gefühl einer solennen Auflösung. Gefühl der Auflösung, der Ratlosigkeit, des Abstiegs und Ruins erschüttert mehr und mehr meinen Nervenzustand, – nicht des Todes, leider, da meine Physis aushält. Oft Sehnsucht fort aus dieser verrückten, geifernden Welt. Dies seltsame Leben. Bald ist es aus und wird nie wieder gelebt werden. Mein Leben ist ausgelebt.  Angenehm war es nicht. War nicht das ganze Leben peinlich? Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz. Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dieses Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Verdauungssorgen und Plagen. Nach dem Kaffee mit dem elektrischen Apparat den Bart entfernt. Nach Santa Monica zur Fußpflege. Zufrieden mit der zeitsparenden Akquisition des elektrischen Shavers. Zum Haarschneiden nach Westwood. Fahre fort mit dem elektrischen Rasieren. In der ›New York Sunday Times‹ ein Geburtstagsartikel, wie man es anfängt 75 Jahre alt zu werden. Sollte antworten: indem man nicht lebt wie ich. Mangelhafter Nervenzustand. Bedrückt, melancholisch, angewidert. Der Körper hält sich bei, wie mir scheint, schwindenden, Geisteskräften, jung für 76 Jahre. Bin ich wirklich am Ende? Und doch meine ich nach der Schweiz zu gehen, nicht um dort zu leben, sondern um dort zu sterben. Oft aufsteigende Angst, daß ich nicht mehr schreiben kann, während der Körper verhältnismäßig jugendlich aushält. So ist es, wenn man sich überlebt. Was ich jetzt führe, ist ein Nachleben, das vergebens nach produktiver Stütze ringt. Mein einziges Behagen ist Rauchen und Kaffee trinken, was beides schädlich. Das Verlangen nach Alleinsein zielt schließlich auf die Ruhe im Grabe. Nach Santa Monica zur lange vernachlässigten Fußpflege. Lange Nägel überaus lästig und für die Haut gefährlich.

Andy Warhol: Die Maniküre kostete $ 46,80. Der kubanischen Lady gab ich $ 10.00 Trinkgeld, weil sie mir alles über sich erzählte. Aber meine Nägel hat sie versaut. Die Bauarbeiter auf der Straße pfiffen mir nach. Ich sah mich im Schaufenster eines Ladens. Ich glaube, ich falle auf wie ein bunter Hund.

Thomas Mann: Seit Wochen vollständiges und ungewohntes Versagen der geschlechtlichen Potenz. Nähr- und Stärkungsmittel gehen am Geschlechtlichen aus. Drastischste (und betrüblichste? Der Teufel hol’s!) Äußerung des seit der Europareise spürbaren Altersschubs. Da ich es ablehne, ohne Voll-Erektion zu masturbieren, scheint das Ende meines physischen sexuellen Lebens gekommen. Schmerzliche sexuelle Anfechtung, die zu erdulden, da die Potenz endgültig hinter mir zu liegen scheint. Wer da meint, das meine den ›Frieden‹ ist sehr im Irrtum. Zur Nacht, nach einigem Schlaf, masturbiert und zweites Sekonal genommen.

Andy Warhol: Pierre erzählte uns, daß man heute bereits Silikon in Schwänze spritzt, damit sie dauernd steif bleiben. Jemand gab mir das Sexvideo von Leo Ford. Ich ließ es laufen, als ich zu Bett ging. Er massierte sein schlaffes Würstchen, und das dauerte lange, und da war noch ein anderer Typ, der dasselbe mit seinem schlaffen Würstchen machte. Ich schlief ein, und als ich wieder aufwachte, waren sie immer noch dabei. Als ein anderer Typ bei mir war und er aufstand und an mir vorbeiging, hatte er einen Riesenständer, der wie ein Baseballschläger in seiner Hose steckte. Ich glaube, das heißt jung sein. Ich vergesse solche Dinge. Ich ging in sein Zimmer und fotografierte, wie er mit einem Steifen aus dem Bett stieg. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis war da, die Märchenprinzessin. Gloria wollte, daß ich ihr einen Schwanz auf ein Exemplar meiner Zeitschrift ›Interview‹ zeichne. Die Geburtstagtorte der Thurn-und-Taxis-Party war eine von diesen altmodischen ›Schwanz‹-Torten aus den siebziger Jahren, eine Torte mit Hunderten von Schwänzen, und jeder bekam einen Schwanz für sich. Gloria war auf der Pirsch für ihren schwulen Ehemann. Madonna kam und sie sah fabelhaft aus. Sie zeichnete Schwänze auf Futuras Hosen. Mrs. Astor sagte, sie wünsche sich einen Schwanz, dann könnte sie gleichzeitig Hände schütteln, den Cocktail halten und Lippenstift auftragen. Ein Typ sprach mich an und meinte, er habe den größten Schwanz von ganz L. A. Ich bot ihm an, das Glied zu signieren. Marisa Berenson war so erregt, daß sie sich hinüberbeugte, um den Schwanz zu sehen. Dabei fing ihr Haar an einer brennenden Kerze Feuer – die Strafe folgte also auf dem Fuße.  Wie lange kann man an einem Schwanz lutschen? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe vieles im Leben verpaßt – ich habe nie Straßenbekanntschaften gemacht oder so was. Ich habe das Gefühl, das Leben ist an mir vorübergegangen.

Thomas Mann: Nächtliche Heimsuchung. Das Erlöschen der ›Potenz‹ – Voreilige Bemerkung. Die Sexualität – unglaublich. Heftiges Geschlechtsleben in letzter Zeit. Nachts Erregung und Auslösung. Zuweilen ist meine Brunst noch von der Hengste Brunst, und das mit 78 Jahren. Ich ordnete mein Bett. Keilkissen für mein Bett: wichtige Verbesserung. Hormon-Injektionen. Nachts sexueller Anfall, den Injektionen zuzuschreiben. Im erregten Halbschlaf  Vollerektion und sonderbar hoffnungsvolles Liebesgefühl. Morgens starke Erektion. Lächerlich, die Genugtuung. Nachts Überfall bei starkem Vermögen und heftiger Lust. Was soll man machen? Lebhaft vorhaltende Männlichkeit erwies sich bei Nacht. Nachts heftigste Wollust. Morgens Voll-Erektion, was schon lange nicht mehr vorkam. Schreibe eine gewisse Belebung meines Lebensgefühls ›meiner Jahreszeit‹, dem Frühling, zu, die nun beginnt. Gerötetes Geschwür an Eichel und Vorhaut. Zum Haarschneiden nach Westwood.

Andy Warhol: Wenn man aufhört, etwas zu wollen, bekommt man es. Stuart Pivar ist ganz vernarrt in junge Körper. Seiner Ansicht nach sind es die Hormone, die einen jung halten. Er ist scharf auf Siebzehnjährige, aber er bekommt sie nicht. Und dann war da noch Debra Winger. Sie war großartig. Sie sprach mit mir über ihren Dickdarm und daß sie voller Scheiße steckt.

Thomas Mann: Gestern Nacht, nach tagelanger Lähmung durch die Infektion, heftige Darm-Entleerung. Hautentzündung der Rectum-Gegend, behandelt. Furchtbare Verhärtung des Stuhles. Nachts geplagt von Rektal-Leiden und verstimmten Magen. Rektal-Beschwerden. Die Rektal-Angelegenheit ziemlich bedenklich. Das Rektal-Leiden störend. Recht schlimmer Zustand des Rektal-Leidens. Meine Sorge sind hämorrhoidale Beschwerden. Hämorrhoidal-Knoten, entzündlich und sehr belästigend. Durchfall vom Öl und Rektal-Jucken.  Wundheit der Rektalgegend. Erregter Darm. Angegriffen von Abführmittel. Heute keine Abführmittel.  Meine Darmverhältnisse sehr ungehörig. Vegetabilisches Laxativ genommen mit übertriebener Wirkung.  Abgeführt und gebadet. Wo ich bin, ist die deutsche Kultur. Nun ja, ganz genau so habe ich das nicht gesagt, mein Bruder Heinrich hat dieses Statement in seiner Autobiographie so kolportiert. Ich gab einer amerikanischen Zeitschrift nach meiner Emigration in die USA ein Interview und sagte: »Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me.« Es spricht für mich, daß ich mich mit der Größe so gern beschäftige.

Andy Warhol: Wir gingen in die Parfümerieabteilung von ›Bloomingdale’s‹ und eine alte Dame neben mir sagte: »Ich stehe neben ihm. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich stehe tatsächlich neben ihm.« Als wir gingen, sagte mein Begleiter. für heute hätte ich mein Quantum Ruhm weg.

Thomas Mann: Katia berichtet von dem Fund einer Menge obszöner Zeichnungen in meines verstorbenen Bruders Heinrich Manns Schreibtisch. Die Nurse wußte davon, daß er jeden Tag gezeichnet, dicke nackte Weiber. Das Sexuelle in seiner Problematik bei uns Geschwistern, Lula, Carla, Heinrich und mir. Vergafft sein in allerlei Jugend. Meine praktische Unfähigkeit, verstärkt durch Verwöhnung, beschämt mich. Völlige Präokkupation durch Leidenschaften, Liebeskummer, die nur durch Dichtung leidlich zu erlösen. Diese ist es aber schließlich, die uns alle ernährt. Werde wohl im Laufe des Tages leidend sein. Ordnete selbst meine Toiletten-Gegenstände und wechselte das Hemd. Weh und schwer. Erinnerungen glimmen an erschaute und geliebte Jugend. O Dio! O Dio! O Dio! Wundes Herz. Das will mir nicht mehr aus dem Sinn, Augen, Hermesbeine, la forza d’un bel viso. Zuviel gelitten, zuviel gegafft und mich entzückt. Mich zuviel von der Welt am Narrenseil führen lassen. Wäre alles besser nicht gewesen? Warum schreibe ich dies alles? Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten? Oder wünsche, daß die Welt mich kenne? Alle Tagebücher in irgend einem sich empfehlenden Augenblick zu verbrennen. Gebadet, rasiert und fertig angezogen.

Andy Warhol: Ich leimte mich zusammen.

Thomas Mann: Gebadet, rasiert und fertig angezogen.

Andy Warhol: Ich leimte mich zusammen.

Thomas Mann: Alles hat angefangen und wird aufhören, es wird wie vorher raum- und zeitloses Nichts sein. Das Leben auf Erden eine Episode, so wie vielleicht alles Sein ein Zwischenfall zwischen Nichts und Nichts.

Andy Warhol: Das Nichts ergreift von dem Planeten Besitz. Ich glaube, wenn ich in den Spiegel schaue, werde ich NICHTS sehen. Ein Kritiker hat mich mal das »personifizierte Nichts« genannt. Dann habe ich festgestellt, daß Existenz selbst NICHTS ist, und da ging es  mir gleich besser. Wie kommt es, daß ich zu den berühmtesten Persönlichkeiten der Welt gehöre? Sehen Sie mich doch nur mal an. NICHTS ist perfekt. Eigentlich ist NICHTS das Gegenteil von NICHTS. Der Trick ist eben, an NICHTS zu denken. NICHTS ist aufregend. NICHTS ist sexy. Es gibt nur einen Fall, in dem ich ETWAS sein will, und zwar dann, wenn ich zu einer Party keine Einladung bekommen habe, aber unbedingt dabeisein will. Steve Rubell, der Besitzer von ›Studio 54‹ holte einmal eine Mülltonne aus der Garage – vollgestopft mit 2000 Eindollarscheinen – und leerte sie über mir aus, das war wirklich das beste Geburtstagsgeschenk. Das amerikanische Geld ist wirklich gut gemacht. Es gefällt mir besser als jedes andere Geld. Am liebsten habe ich mein Geld irgendwo lose dabei.

Thomas Mann: Geld ist die letzte Sorge. Niedergang und Verfall einer Voll-Erektion. Zum Haarschneiden nach Westwood. Voll-Erektion! Voll-Erektion!

Andy Warhol: Eine Freundin stellte mir einmal die richtige Frage: »Was hast du am liebsten?« So fing ich an, Geld zu malen. Dollarnoten und Dollarzeichen: $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ !  »Was hast du am liebsten?« $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ !

Thomas Mann: Voll-Erektion! Voll-Erektion! Voll-Erektion!

Andy Warhol und Thomas Mann: Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!

Thomas Mann: Tagebücher 1949–1950, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1991; Tagebücher 1951–1952, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1993; Tagebücher 1953–1955, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1995
Andy Warhol: The Andy Warhol Diaries (ed.) P. Hackett, New York 1989; dt. Das Tagebuch, (Hg.) P. Hackett, München 1989

Dichter Abgang

In der Woche vor dem christlichen Osterfest, wo an drei Abenden hintereinander wieder die heidnischen Osterfeuer emporflammen werden und der dabei in die Gegend geschleuderte Feinstaub der Luftverpestung durch die Sylvester-Feuerwerke mengenmäßig gleich kommt, sieht man in den Kaufhäusern vielerlei in bunte Folien eingekleidete Osterhasen und Ostereier. Schokolade ist der Hauptbestandteil dieser fröhlichen Frühlingswaren, aber für den besonderen Geschmack gibt es auch Figuren und Formen, die aus Marzipan bestehen.

In einer Ausgabe der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ (FAZ v. 27. März 2024, Nr. 74, S. 9) hat ein Lyriker, den Wikipedia »zu den anerkannten Dichtern des wiedervereinigten Deutschlands« hinzugerechnet hat, ein vorösterliches Gedicht veröffentlichen lassen. Es heißt ›Deutsche Hörer‹ und besteht aus zwei Teilen. Der zweite Teil geht so:

Lübecker Marzipan wünschte
mein Vater sich immer
zu Weihnachten, er mochte
den herben Mandelgeschmack
in Gedanken an Thomas Mann
den er gern las am liebsten laut
vorlas im kleinen Kreis der Familie

Gewiß, die Erwähnung von Weihnachten kurz vor Ostern ist vielleicht ungewöhnlich, aber es fällt einem Lyriker nicht immer zur passenden Zeit das in die Zeit passende Gedicht ein. Diese Zeilen aber regen dazu an, sich selbst einmal als Dichter zu versuchen, und das geht ganz einfach:

Cutty Sark Whisky wünschte
mein Vater sich immer
zu Weihnachten, er mochte
den herben Malzgeschmack
in Gedanken an Charles Bukowski
den er gern las am liebsten laut
vorlas im kleinen Kreis der Familie

Let’s all get stoned!

I’m waiting for my man
Twenty-six dollars in my hand
Up to Lexington, 125
Feel sick and dirty, more dead than alive
I’m waiting for my man
[…]
Baby don’t you holler, darlin‘ don’t you bawl and shout
I’m feeling good, you know I’m gonna work it on out
I’m feeling good, I’m feeling oh so fine
Until tomorrow, but that’s just some other time
I’m waiting for my man
(The Velvet Underground: I’m Waiting for the Man, 1967)

A: Hi, wie geht’s denn immer so? (dreht sich einen Joint). 

B: Was machen Sie denn da? Ist das etwa eine Haschisch-Zigarette?

A: Klaro! Ab April geht es los, da ist in der Bundesrepublik Cannabis legal.

B: Und Sie bereiten sich jetzt schon auf das große Ereignis vor?

A: Wie Sie sehen, ich bin vorbereitet, mein bisheriger Dealer kommt aus dem Untergrund heraus und richtet im ganzen Land Verkaufsstellen ein. Das wird ein Bombengeschäft.

B: Und Sie sind daran prozentual beteiligt, wie? Das versetzt Sie noch vor dem Konsum einer Haschischzigarette in einen Geldrausch?

A: In gewisser Weise, ja, aber es ist dann ja alles legal und wir können mit gutem Gewissen das Zeug an unsere sicher stetig wachsende Kundschaft verkaufen. Was meinen Sie, wie dankbar manche dieser Konsumenten sein werden. Endlich ist die Zeit vorbei, wo man befürchten mußte, verhaftet und bestraft zu werden für ein so harmloses Stück Alltagsvergnügen.

B: Ich verstehe. Mir liegt es ganz fern, jemanden deswegen zu verurteilen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Nur frage ich mich, ob mit der staatlichen Sanktion des Cannabiskonsums nicht auch der Reiz des Verbotenen und damit das eigentliche Erlebnis des Rauchens dahin ist. Könnte es nicht sogar sein, daß gerade das im Verborgenen konsumierte Rauchgut der Anstoß war, damit überhaupt anzufangen?

A: Ach so, ja, das kann schon sein. Im Dunkeln ist gut munkeln. Schade eigentlich, das fällt jetzt natürlich weg und der legalisierte Rausch wird dem Alkoholrausch gleichgesetzt. Man kommt von der Flasche weg, wenn man weiß, daß es nichts Verbotenes ist. Was verboten ist, macht uns grade scharf.

B: Meine Rede. Sehen Sie, so sehr sich homosexuelle Paare gewiß gefreut haben, daß man sie seit dem 10. Juni 1994 nicht mehr gemäß dem Paragraphen 175 strafrechtlich verfolgte und sie in manchen Ländern heute sogar heiraten dürfen, so wird vielleicht doch mancher nach der erfolgten Befreiung bemerkt haben, daß etwas fehlte: der Reiz des Verbotenen. Man wurde eingemeindet und war nun Teil der bürgerlichen Ehegemeinschaft, zusammen mit Millionen von heterosexuellen Paaren, die den Bund fürs Leben geschlossen hatten, in der Annahme, nun beginne das wahre Glück und nicht enden wollendes Wohlbefinden.

A: Und dann stellt sich nach einigen Jahren des Eheglücks, spätestens nach dem verflixten siebten Jahr, das alltägliche Unglück ein, das Zusammenleben wird zur Hölle oder wenigstens zu einer rituellen Wiederholung immergleicher Vorgänge. Da bleibt dann nur noch der rasch verglimmende Seitensprung, um noch einmal in den Genuß der verbotenen Früchte zu kommen.

B: So ist es. Und nun wird mit der Freigabe des Cannabiskonsums der gleiche Effekt einsetzen. Ich für meine Person weiß jetzt schon, daß für mich der Griff zur Haschischzigarette damit ausgeschlossen ist.

A: Das klingt aber sehr übertrieben und ideologisch. Sie scheinen ein prinzipieller Neinsager zu sein, alles, was plötzlich erlaubt ist, lehnen Sie also ab?

B: Nicht unbedingt, aber im Prinzip schon.

A: Hören Sie sich manchmal zu, wenn Sie etwas sagen? Das ist doch ein Grund zum Feiern, wenn ab April 2024 endlich jeder, der die Altersgrenze überschritten hat, zu diesem ja eigentlich auch harmlosen Kraut greifen kann. Denken Sie auch an die positive Wirkung, die kranke Menschen vom Rauchen einer Haschischzigarette haben werden.

B: Jaja, ich weiß schon. Wenn nichts mehr an argumentativer Kraft funktioniert, schieben die Menschen immer die therapeutischen Effekte in den Vordergrund.

A: (zündet die fertig gedrehte Tüte an und nimmt den ersten Zug) Aahh! Far out, man!

B: Was sagen Sie?

A: Wenn etwas cool war, sagte man in den sechziger Jahren in San Francisco in den ersten Marihuana-Kommunen: Far out! Auf deutsch: Das ist toll!

B: Dann lasse ich Sie jetzt mal allein mit ihrem staatlich genehmigten Trip ins Nirwana. Peace, man!

Jedem Bürger sein Bunker!

Also, wenn’s heuer noch zum Atomkrieg kommen sollte, dann bin ich gefeit. Weil in drei Wochen is er fertig, mei Bunker. Mir ham a Sauna drin, Gesellschaftsspiele, Brettspiele, is ja klar, weil in dieser langen Phase der Enthaltsamkeit, da muaßma ja was für die Psyche tun, sonst werst ja trübsinnig. Dann ham ma so Musikkassetten, Stereo, an Heino ham ma, d’ Vicky Leandros, für festliche Stunden, an Weihnachten sagn mir amal, an Mozart oder an Beethoven, für die Kinder dann an Frank Zappa. Ganz wichtig, die Lebensmittel. Mir ham vier Parzellen? randvoll gestaffelt mit Grundnahrungsmitteln, Mehl, Trockenei, Milchpulver, gell, weil in meiner Familie sans alles leidenschaftliche Mehlspeisenesser. Bevor da überhaupt eine Sirene pfeift, bin ich schon unten. Des heißt, ich und meine Familie. Und zwar ausschließlich, es sei denn, es is jemand ganz stark blutsverwandt. Also, wenn da irgenda Bsuch kamad, na da müaßma sich grad verabschieden, gell? (Gerhard Polt: Die Bunkerführung)

(Der schweizerische Waffenhändler Kuno Raeber sitzt auf dem Oberdeck seines atomgetriebenen U-Boots im Hafen von Monte Carlo und spricht in ein Smart-Phone. Vor ihm steht ein sehr trockener Martini.)

Kuno Raeber: Ah, komm’, geh’ weiter, ganz so wird’s ja nicht werden, aber Vorsorge ist immer besser als Nachsorge. (Nimmt eine Zeitung und liest vor): »CDU fordert mehr Bunker für Zivilschutz. Bundesweit sind nur noch 600 Anlagen mit Platz für 500.000 Menschen vorhanden.« Hast du es mitbekommen, was ich gerade vorgelesen habe? Ha? Selbstverständlich ist das crazy, keine Frage, aber wir sind vorbereitet und zwar auf alle Eventualitäten. Da sagt doch so dieser Hansel von dieser Partei, der sagt also: »Wir müssen angesichts der aktuellen Bedrohungslage den Zivilschutz wieder hochfahren, um die Menschen im schlimmsten Fall bestmöglich zu versorgen.« Ah, geh! In der Bundesrepublik Deutschland gibt es laut amtlicher Statistik 83,2 Millionen Einwohner, da sind Bunker, die Platz für eine halbe Million Menschen bieten, doch vor den Arsch. Rechne mal mit! Wie viele Personen in der Bundesrepublik gehören denn allein zur Elitegruppe, die fürs Überleben des Staates wichtig ist? Siehst du, schwierig. Sicher, der Bundesbankpräsident gehört dazu und natürlich der Kanzler, aber sollen alle Minister des Bundes und der Länder dazugerechnet werden? Da habe ich meine Bedenken, vor allem, weil ich die meisten dieser Leute im persönlichen Gespräch erlebt habe. Du liebe Güte, was sind da für Gestalten darunter, die würde kein mittelständischer Betrieb auch nur als Anlernling annehmen. Aber wer die Ochsentour in der Partei geschafft hat, der ist eben drin. Wie schon die alten Römer gesagt haben: Wer reinkommt, ist drin. Und die kriegt man dann auch nicht so leicht wieder weg, das ist praktisch wie der Hausschwamm, wobei man den gegen viel Geld ja sanieren kann, hähä. Insofern wäre so ein russischer Marschflugkörper… nein, nein, natürlich meine ich das nicht, aber man hat doch so seine Gedanken, nicht wahr? Wie auch immer, bei einer Präsenzstärke von 500.000 Bunkerplätzen ist ein enormer Aufholbedarf gegeben, und das haben jetzt diese Parteipolitiker auch offen zugegeben. Das kann man auch nicht aufholen und selbst wenn alle Bauunternehmen rund um die Uhr anfangen würden, solche Zivilbunkeranlagen zu bauen. Aber diese Begründungen! Man faßt sich an den Kopf. »Putin droht Europa.« Ja, entschuldige mal, aber wann hat denn der Russe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jemals nicht gedroht, das hörte doch mit dem Einstellen der Kampfhandlungen nicht auf, das ging doch immer weiter, mal in Form des Kalten Kriegs, und gelegentlich, wie jetzt in der Ukraine, auch etwas heißer. Da mag der Papst es als seine Aufgabe ansehen, den Kombattanten zu empfehlen, in Verhandlungen einzutreten und dem schwächeren Part des Kriegs die weiße Fahne empfehlen, weil: der Ober sticht den Unter, nicht wahr? Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, daß wir noch immer die gleiche Konstellation haben, auch wenn es deutsche Politiker gibt, die von ›Zeitenwende‹ faseln. Ja, was soll denn das? Die Zeiten wenden sich doch dauernd, das hört nicht auf, und das bringt auch nichts, wenn man ein hochtrabendes Wort ins Feld führt. (Greift nach dem Martini-Glas und nippt daran.) Nun aber kommt’s. Ich habe eine ganze Anzahl von Baufirmen an der Hand, die Gewehr bei Fuß stehen, die lauern schon im Hintergrund mit der Betonmischmaschine. Es kann jederzeit losgehen, und dann geht es rund, das kann ich dir flüstern. Das wird ein Bombengeschäft und ein Selbstläufer. Natürlich nur, solange es weiter deutsche Politiker gibt, die in der Öffentlichkeit für uns kostenlos Reklame machen, indem sie die Lebensnotwendigkeit von Bunkerbauten betonen und uns mit Angst und Hysterie die besten Grundlagen für unser Geschäftsmodell bereiten. Da werden die Aufträge nur so fließen, ich werde ein paar neue Schreibkräfte einstellen müssen, um das zu erwartende Auftragsvolumen organisatorisch bewältigen zu können. Ich habe auch schon Architekten mit der Entwicklung von formschönen und komfortablen Bunkern beauftragt, das Ganze ist eine langfristige Sache, denn ist man erst einmal im Bunker, will man ja doch wohl nicht gleich wieder auftauchen und nachhause gehen, oder? Es muß daher eine gewisse Bunkergemütlichkeit erzeugt werden, allein schon innenarchitektonisch. Es darf unter keinen Umständen wie in der Wolfsschanze in Polen oder im Führerbunker in Berlin 1944/45 sein. Da wäre die Depression ja schon vorprogrammiert. Der Zweite Weltkrieg wäre vermutlich auch anders ausgegangen, wenn man schon solche innovativen ästhetischen Konzepte beim Bunkerbau angewendet hätte, die uns heute zur Verfügung stehen. Daß dieser Hitler sich die Kugel gegeben hat, ist eindeutig auf die deprimierenden Wohnverhältnisse im Führerbunker zurückzuführen gewesen, auch wenn der Russe schon vor den Toren der Reichshauptstadt gestanden ist und es doch schon etwas mulmig wurde. Unter solchen Umständen wäre wohl jeder bereit, sich aus dem Leben zu verabschieden. Also nein, der Bunker muß als Bunker auch von dem alten Image befreit werden, das besagt: Achtung, hier ist das Leben zwar geschützt, aber praktisch lebensmäßig ans Ende angelangt, weil es doch große Ähnlichkeit mit einem Zwinger hat, und wer nicht viel investigatives Kapital an der Hand hat, der wird sich gleich mit einem Kaninchenstall begnügen müssen. Das geht natürlich nicht. Ich überlege, ob man nicht ein Preisausschreiben veranstalten sollte für einen attraktiven neuen Namen. Das Einfamilienhaus hat durch die wesentlich kostengünstigeren Einzimmerhäuser oder die aus dem 3-D-Drucker kommenden Wohngelegenheiten auch an Überzeugungskraft verloren. Das muß ganz fetzig daherkommen, am besten auch mit Probewohnen im Bunker und nach einer gewissen Zeit lassen wir die dort lebenden Bunkerinsassen dann wieder heraus und die geben dann Statements ab, wie angenehm es sich im Bunker wohnen läßt und man eigentlich gar nicht mehr von da fort will. Das wäre das Ultimative. Wir müssen auch von dieser vielzitierten ›Bunkermentalität‹ wegkommen, das bringt doch nichts. Frei und frank hinein in den Bunker! — das muß unsere Devise sein. Das Leben beginnt eigentlich erst im Bunker. Denn während rings herum langsam das Leben abstirbt, weil man es nicht rechtzeitig in den Bunker geschafft hat, leben die Bunkerbewohner in Glück und Zufriedenheit. Deshalb würde ich diesen deutschen Politikern auch raten, von dieser Weltuntergangsstimmung abzukommen und das Gerede von der ›Zeitenwende‹ fallen zu lassen. Es sollte als große Lebenschance gesehen werden, als ›Neues Wohnen in aufregenden Zeiten‹ muß es propagiert, Neidgefühle müssen geweckt werden, das wird die Produktionsquote tüchtig ankurbeln helfen. Jedem Bürger seinen Bunker! Was? Was sagst du? Mein Bunker?! Ach, nein, ich brauche doch keinen Bunker. Das wirst du noch nicht wissen, aber ich habe mir neulich ein ausrangiertes, aber volltüchtiges U-Boot angeschafft, ja, aus einer Staatsinsolvenz. Das Boot ist tiptop in Ordnung und ich habe mir einen Flüchtling aus der Ukraine an Land gezogen, der die Jahre zuvor als U-Boot-Kommandant in Kiew stationiert war. Der hat nach dem russischen Überfall gleich in den Westen gemacht, mitsamt der ganzen Familie. Und die ist jetzt bei mir beschäftigt. Seine Frau, eine ganz reizende Person, bedient meine lukullischen Bedürfnisse in der im U-Boot installierten High-Tech-Kitchen. Da ist alles drin, was man in Notzeiten so braucht und auf das man gern zurückgreift. Ich bin nun mal ein Gourmet und man möchte auch in Kriegszeiten nicht unter einen einmal erreichten zivilisatorischen Standard fallen, nicht wahr? Deshalb habe ich auch einen kleinen Weinkeller in das U-Boot einbauen lassen, die Regale sind total kippsicher, da kann es noch so stürmische See geben, die Flaschen halten jeden Stoß aus, es sei denn, aber das wollen wir uns erst gar nicht vorstellen, es sei denn, mpf, ja, es sei denn, das U-Boot wird von einem Torpedo getroffen. Also nein, davon kann ich gar nicht ausgehen, nicht wahr, und davon wollen wir auch nicht ausgehen. Nein, ich habe an Bord selbst keine Torpedos, und das, obwohl ich doch nun schon seit so vielen Jahren im internationalen Waffenhandel zum Wohle aller Nationen dieser Erde tätig bin. Aber in diesem Punkt sind die Regierungen, ob nun demokratisch oder diktatorisch gewählt, doch sehr heikel. (Senkt die Stimme, als ob man, wenn man flüstert, nicht das hört, was jemand am Telefon spricht, wenn das Telefon verwanzt ist) Aber weißt du, ganz im Vertrauen, ich habe Torpedos an Bord. Der Andriy, also mein Kommandant, hat natürlich weiterhin Beziehungen zu seinem Heimatland, und aus Dankbarkeit für die Aufnahme seiner Familie hat er mir diese Torpedos tatsächlich besorgt und selbst installiert. »Andriy«, habe ich zu ihm gesagt, »du würdest wohl selbst als Torpedo dich abschießen lassen, wenn uns ein russisches U-Boot angreifen würde.« Da hättest du dem sein Gesicht sehen sollen. Total ernst hat er geschaut und diese Augen, diese glühenden patriotischen Augen! »Ja«, hat er gesagt, »das würde ich tun, für mein Vaterland, die Ukraine!« Da sieht man wieder einmal, wieviel moralische Substanz noch da ist, vor allem, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Ich hab’ ihm dann einen Champagner eingeschenkt und ihm versichert, daß dieser Fall niemals eintreten wird und ich mir nur einen Scherz erlaubt habe. Und das nicht nur, weil ich ohne U-Boot-Kommandant ja aufgeschmissen wäre. Man hat doch auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die man eingestellt hat. Die Tochter, 14 Jahre alt, die Zlata, ist schon sehr fix und ordentlich bei den Reinigungsarbeiten, die in so einem U-Boot anfallen, da kann ich mich wirklich nicht beklagen, besonders bei diesem Stundenlohn, den ich für sie festgelegt habe. Das Schöne an diesen Leuten ist, daß die noch wissen, was Arbeiten bedeutet und daß die auch nicht im geringsten klagen, keinen Muckser tun die. Also, ich bin schon sehr zufrieden, und wenn er mal eintritt, der Ernstfall, und die russischen Atombomben und Marschflugkörper auf Deutschland herniederfallen, da bin ich gefeit, denn dann tauche ich mitsamt meinem ukrainischen Personal in die Tiefen der Weltmeere ab. Da kann es noch so viele Bomben herunterregnen und die Länder und Städte verwüsten. Ich werde dann in den Tiefen des Meeres beruhigt und stolz sein, etwas für das Überleben der Menschheit in Gestalt meiner Bunkeranlagen getan zu haben, und irgendwann werden die dort wohnenden Menschen ja auch wieder auftauchen und sich dazu entschließen, auf den noch erhaltenen Teilen des zerstörten Planeten die menschliche Zivilisation von neuem wieder aufzubauen.  Ja, war mal wieder nett, mit dir geplaudert zu haben, dann bis bald wieder einmal.

Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille. Freilich, sie ist trügerisch. Plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu Ende. Vorläufig aber ist sie noch da. Stundenlang kann ich durch meine Gänge schleichen. Alle hundert Meter habe ich die Gänge zu kleinen runden Plätzen erweitert, dort kann ich mich bequem zusammenrollen, mich an mir wärmen und ruhen. Dort schlafe ich den süßen Schlaf des Friedens, des beruhigten Verlangens, des erreichten Zieles des Hausbesitzes. Die häufige Beschäftigung mit Verteidigungsvorbereitungen bringt es mit sich, daß meine Ansichten hinsichtlich der Ausnutzung des Baus für solche Zwecke sich ändern oder entwickeln, in kleinem Rahmen allerdings. Und wenn ein großer Angriff kommen sollte, welcher Grundriß des Eingangs könnte mich retten? Der Eingang kann täuschen, ablenken, den Angreifer quälen, das tut auch dieser zur Not. Aber einem wirklich großen Angriff muß ich gleich mit allen Mitteln des Gesamtbaues und mit allen Kräften des Körpers und der Seele zu begegnen suchen – das ist ja selbstverständlich. Schon dieses, jemanden freiwillig in meinen Bau zu lassen, wäre mir äußerst peinlich. Ich habe ihn für mich, nicht für Besucher gebaut, ich glaube, ich würde ihn nicht einlassen; selbst um den Preis, daß er es mir ermöglicht in den Bau zu kommen, würde ich ihn nicht einlassen. (Franz Kafka: Der Bau, 1924)

»Strafbarkeitslücke«

You talkin’ to me? Then who the hell else are you talkin’ to? You talkin’ to me? (Robert de Niro in ›Taxi Driver‹, 1976)

Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen! (Kaiser Wilhelm II., Rede vor den deutschen Truppen am 27. Juli 1900 in Bremerhaven, die zur blutigen Niederschlagung des sogenannten ›Boxeraufstandes‹ nach China gesandt wurden)

Es ist daher nur der Widerschein deines Auges, der dir die Natur als das Werk eines Auges erscheinen läßt […]. Die Natur ist nur ein Schauspiel, ein Augenfest; du glaubst daher, was dein Auge entzückt, bewege und regiere auch die Natur […]. Die Natur von einem weisen Schöpfer ableiten heißt mit dem Blicke Kinder zeugen. (Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841)

A: Haben Sie schon gehört? Die niedersächsische Justizministerin will eine »Strafbarkeitslücke« schließen.

B: Ach, wie interessant. Und welche Lücke soll das sein?

A: »Verbalentgleisungen«.

B: Na so was, eine Politikerin will die Reden ihrer eigenen Zunft unter Strafe stellen. Das nenne ich aber mutig und entschlossen. Mir gingen Reden der Politiker generell schon immer sehr auf die Nerven, besser wäre es wirklich, man würde ihnen den Mund verbieten.

A: Nein, nein, sie meint nicht die Reden ihrer Kollegen, sie meint »sexuelle Grenzverletzungen«.

B: Uiih, dann soll also gegen sexuelle Seitensprünge der Politiker vorgegangen werden. Sehr vernünftig, für das viele Geld, das sie vom Staat bekommen, verlangt der Wahlbürger auch angemessene Leistung in ihren Ämtern und nicht sexuelle Eskapaden.

A: Schon wieder falsch gedacht. Die »Strafbarkeitslücke«, die geschlossen werden soll, betrifft »Anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen oder Gestikulieren in der Öffentlichkeit«.

B: Also, ich finde, wenn man sich als Politiker zur Wahl stellt, muß man wie in der Küche, wo gekocht wird, auch die Hitze aushalten können. Wenn auf einer Wahlversammlung es zu Zwischenrufen kommt und der oben hinter den Mikrofonen stehende Politiker mit unfreundlichen Worten bedacht wird, so gehört das doch zum politischen Alltagsgeschäft dazu. Die Reden der Politiker selbst sind doch auch mit Verunglimpfungen des politischen Gegners gespickt, das ist doch geradezu das Salz in der Suppe. Ohne solche Verbalinjurien wären die öffentlichen Reden der Politiker doch langweilige und niemand interessierende Salbadereien. Da kann man dann auch gleich einen Gottesdienst in der Kirche besuchen, wenn man nur himmlische Rhetorik hören will.

A: Sie haben es immer noch nicht verstanden, aber es ist meine Schuld, weil ich Sie von Anfang an in die Irre geführt habe. Das Stichwort heißt »Catcalling«.

B: Kat…was? Noch nie davon gehört.

A: Catcalling, mit einem Doppel-C! In Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden ist es bereits unter Strafe gestellt. Es gab sogar schon ein kriminologisches Forschungsprojekt, das sich mit diesem Phänomen beschäftigt hat. So hat man eine Online-Befragung mit insgesamt 3.908 Personen durchgeführt, die durchschnittlich 30 Jahre alt waren, zu 90% Frauen. Sie berichteten, daß »ihr Aussehen bewertet und daß sie angestarrt« worden seien. Mehr als die Hälfte sei »sexistischen Sprüchen und anzüglichen Bemerkungen ausgesetzt gewesen«. Knapp zwei Drittel erhielten »sexuell aufgeladene Nachrichten«. Meist fänden diese Belästigungen »abends auf öffentlichen Plätzen, bei der Fahrt im Bus oder in der U-Bahn und in Clubs, Bars und Kneipen« statt. Verübt werden die Belästigungen »fast ausschließlich von Männern zwischen zwanzig und Ende dreißig.« Auch der ›Deutsche Juristinnenbund‹ forderte bereits »eine rechtliche Normierung berührungsloser sexueller Belästigung«.

B: Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen: Der sprichwörtliche Bauarbeiter auf der Baustelle, der einem vorbeigehenden Mädchen, das gut aussieht und vielleicht auch einen kurzen Rock trägt und zudem schlanke Beine vorzuweisen hat — hinterherpfeift. Und das soll jetzt unter Strafe gestellt werden!?

A: Sie haben ganz richtig verstanden. »Anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen, Gestikulieren oder aufdringliche Blicke in der Öffentlichkeit« sollen einen Straftatbestand erfüllen.

B: Wären nicht Empfehlungen, wie man sich gegenüber solchen Belästigungen verhalten sollte, praktischer? Ich meine, ich weiß auch, daß nicht jede Frau eine Mae West (1893–1980) ist, die sich selbst verbal durchaus zu helfen wußte und auf das Beispringen der Justiz verzichten konnte. »Es ist besser, angesehen als übersehen zu werden.« Oder: »Ist das eine Waffe in Ihrer Hosentasche oder sind Sie nur froh, mich zu sehen?« Das sitzt, oder? Oder auch ganz schlicht: »Why don’t you go fuck yourself?« Warum fördert die Landesregierung nicht Kurse, wo junge Mädchen und Frauen solche verbalen Gegen-Attacken lernen? Das fördert den weiblichen Zusammenhalt und macht zudem viel Spaß, und ist in dem so viel propagierten Programm des ›weiblichen Selbstbewußtseins‹ gerade das nicht mitenthalten? Schließlich gibt es ja auch seit vielen Jahren Selbstverteidigungskurse für Frauen. Wird durch das staatliche Schließen solcher »Strafbarkeitslücken« nicht die Unmündigkeit der Frauen befördert? Vater Staat kümmert sich um dich, wir nehmen dich bei der Hand und schenken dir einen neuen Paragraphen der Strafrechtsordnung, der dir die Möglichkeit gibt, aufdringliche Mitmenschen anzuzeigen. Im übrigen wundert mich eine Einzelheit der Online-Befragung dieses kriminologischen Instituts:  Knapp zwei Drittel erhielten sexuell aufgeladene Nachrichten. Das heißt doch, daß die beiden Personen miteinander bekannt waren und den Namen und die email-Adresse gewußt haben. In solchen Fällen kann man doch zur Selbsthilfe greifen. Es wird doch wohl noch junge Männer geben, die der bedrängten jungen Dame gern beistehen würden und dem Verschicker von anzüglichen Sprüchen auf die Pelle rücken könnten. Doch wie stellt man sich überhaupt den strafrechtlichen Vorgang im einzelnen vor? Und wie will man beweisen, daß eine anonyme Person der Frau auf öffentlichen Plätzen etwas Strafwürdiges hinterhergerufen hat? Sollen die Frauen alle mit ›Body-Cams‹ ausgestattet werden, damit sie jederzeit juristisch verwertbare Videoaufzeichnungen vor Gericht vorlegen können? Und wer soll dann entscheiden, was »aufdringliche Blicke« sind? Das erinnert mich an den Usus unter wilhelminischen Korpsstudenten, die willkürlich an ihnen völlig fremde Personen herantraten und ›Genugtuung‹ verlangten, also ein Duell anfangen wollten, nachdem Sie gesagt hatten: »Sie haben uns fixiert! Geben Sie Satisfaktion oder wollen Sie etwa kneifen?« Das wäre doch das Pendant zum »aufdringlichen Blick«, den man polizeilich-strafrechtlich fixieren will. Der Wunsch, »aufdringliche Blicke« als Straftatbestand aufnehmen zu wollen, ist nichts anderes als die verfassungswidrige Einführung eines »Gedankenverbrechens«. 1936 hat es in Japan ein solches »Gesetz über die Bewährung bei Gedankenverbrechen« gegeben und in den vierziger Jahren wurden Japaner willkürlich verhaftet, die man solcher »Gedankenverbrechen« beschuldigte. Damals ging es um den ›Marxismus‹, der als verfolgungswürdig deklariert wurde, da wurde immerhin noch auf greifbare Tatbestände wie Schriften Bezug genommen, doch heute sollen in Niedersachsen Personen, die in der Öffentlichkeit »aufdringliche Blicke« auf andere Personen werfen, bestraft werden. Wie stellt man fest, was ein »aufdringlicher Blick« ist? Die Antwort lautet: das läßt sich nicht feststellen, weil es ein absolut willkürliches Gebot enthält. Die »Strafbarkeitslücke« erweist sich als Aufforderung des Staates an seine Mitglieder, nach Belieben Mitmenschen zu denunzieren.

A: Dazu fällt mir eine Beobachtung von Paul Valéry ein: Wie viele Kinder gäbe es, wenn der Blick befruchten könnte! Wie viele Tote, wenn er töten könnte! Die Straßen wären voll von Leichen und schwangeren Frauen! Ach ja, die Menschen sind zur Freiheit geboren, aber benehmen sich so unfrei und meinen, nur ein von oben verordneter Orientierungspunkt, das Füllen einer vermeintlichen »Strafbarkeitslücke« könnte ihnen durch das Leben helfen. Wissen Sie was, das Ganze stößt mich so ab, daß ich eigentlich gar keine Lust mehr habe, darüber zu reden. Es spricht doch für sich selbst. Kennen Sie die amerikanische Serie ›It’s Like, You Know …‹ von Peter Mehlman? Darin wird das Leben in Los Angeles satirisch beschrieben. Eine Episode gibt es, die für unser heutiges Thema paßt. Ein britischer Journalist besucht seinen Freund in L. A. und erhält ein Angebot der ›Los Angeles Times‹, für viel Geld eine Kolumne über die Stadt der Engel zu schreiben. Da in den USA um 1999 das Thema der ›sexuellen Belästigung‹ gerade virulent war, haben die Autoren der Serie sich folgende Szene ausgedacht. Eine Versicherungsvertreterin, dargestellt von Mimi Rogers, die in einem sehr kurzen Minirock und mit einem hauteng anliegenden Pulli, unter dem sich ein deutlich sichtbarer großer Busen verbirgt, auftritt, besucht den Journalisten, um mit ihm über eine Versicherung gegen sexuelle Belästigung zu sprechen.

(Los Angeles. Knocking on front door, Arthur Garment [Chris Eigeman] opens). »Hello, I’m Deirde Swayze [Mimi Rogers] with ›Stepford Insurance‹« – »Uh, come on in!« – »So, thank you for choosing us for your sexual harassment needs!« – »Actually, I didn’t even know that there was such a thing as sexual harassment insurance.« – »Sexual harassment  occurs in 81.6 percent of all corporate offices with 32 or more employees regardless of gender.. Now, I’m sure you have many questions what constitutes harassment. – »Um, I guess. What if I said: ›That’s a very nice sweater you’re wearing.‹ Is that harassment?« – »No, that would be a compliment. But if you were to say, um, ›boy you sure fill that sweater out nicely, then we’d have a problem.« – »I see. What if I said: ›Would your skirt be considered a mini skirt?‹ – »No, that’s a reasonable inquiry, but if you were to say: ›If that skirt were any shorter I’d have a glimpse of heaven‹, that would be a cause.« – […] »Huh! Would you like some water?« – »No, thank you. Well, do you have any other questions?« – »Um, what if I were alone with someone and at a slight loss for conversation but had the distinct feeling that there was a mutual attraction between me and this person sitting so close to me that finally I just blithely mentioned that more than anything I have ever wanted in my life I would love to take you like a cheetah takes a porterhouse steak. Would that be harassment?«

(It’s Like, You Know…, Episode ›Hollywood Shuffle‹, Story by: Etan Cohen, Teleplay by: Carol Leifer & Peter Mehlman, December 8, 1999)
(8:32–11:26): https://www.youtube.com/watch?v=C80FIiZya8Q&list=PLVSvuryXmoliG2IIgEgGfo8_XUQQxeZ3w&index=18

Oskar Negt (1934–2024). Eine kurze Erinnerung

Im Dezember 1972 kaufte ich mir einen gerade erschienenen Band der ›edition suhrkamp‹, ein Gemeinschaftswerk mit dem Titel ›Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit‹. Die beiden Autoren, Oskar Negt und Alexander Kluge, zogen darin eine soziologische Bilanz der Vorgänge, die mit dem Jahr ›1968‹ in Zusammenhang stehen. Zugleich war es eine Fortschreibung des Buches ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ von Jürgen Habermas. Wer das eine Buch las, las irgendwann auch das andere. Das Wort ›proletarisch‹ wurde schon damals als ein gewagtes Wort empfunden, insofern als man damals schon sich fragte, ob es so etwas wie das Proletariat überhaupt noch gab. Natürlich gab es das und gibt es auch noch heute, nur hat man sich angewöhnt, andere Namen, Ersatzbezeichungen, dafür zu erfinden. Mein Entschluß, mich in Hannover zu immatrikulieren, wurde durch das Buch von Negt/Kluge (wie man das Duo bald nannte), beeinflußt, denn Oskar Negt war seit kurzem von Frankfurt am Main nach Hannover gezogen, um dort als Professor für Soziologie zu lehren. Ich ging in keines seiner Seminare, aber von seinem Vorlesungszyklus ›Kant, Hegel, Marx, Freud‹ habe ich keine Vorlesung ausgelassen. Es war auch eine Zirkus-Veranstaltung. In der vordersten Reihe saßen Studentinnen, die nicht unbedingt gerade erst ihr Abitur gemacht hatten, aber auch noch weit davon entfernt waren, Seniorenstudentinnen zu sein. Alle hatten sie etwas gemeinsam: Tonbandgeräte und große Mikrophone im Gepäck. Beides wurde von ihnen auf dem Tisch gleich vor dem Vorlesungspult vor Beginn der Vorlesung aufgebaut. Das waren die Negt-Groupies, wie manche hinter vorgehaltener Hand sie damals nannten. Es reichte eben nicht, wie das Generationen von Studenten vorher getan hatten, das gesprochene Wort mitzuschreiben, nein, alles mußte auf einem Tonband mitgeschnitten werden. So konnte man zuhause in aller Ruhe einige der Passagen nachhören oder denjenigen, die aus welchen Gründen immer nicht anwesend sein konnten, das Privileg gewähren, nachträglich noch Teilnehmer an diesem akademischen Ereignis zu werden. Es gab an der Fakultät V Mitte der siebziger Jahre auch andere Vorlesungen, aber in keiner anderen wurden Tonaufnahmen gemacht. Wenn man von weit oben in dem großen Vorlesungssaal nach unten schaute, auf die Front mit den Tonband-Studentinnen, sah es immer so aus, als ob gleich eine wichtige Pressekonferenz bevorstand. Und es war ja auch wichtig, was Oskar Negt zu sagen hatte. Stets begann er mit sehr leiser Stimme zu sprechen, und das mit Absicht, weil er wohl wußte, daß man nur so die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewinnen würde. Auch die feinsten Ohren konnten noch so sehr versuchen, sich auf die Stimme zu konzentrieren, es war am Anfang unmöglich, zu verstehen, was vorne gerade gesagt wurde. Ein Mantra, ein om-om-om hätte vermutlich den gleichen Zweck erfüllt. War dann aber Ruhe im Saal eingekehrt, konnte man deutlich hören, wie Negt ostpreußelte, nicht zu stark, aber doch erkennbar, und das lag nur daran, daß er in Königsberg geboren war und den dortigen Tonfall als Kind angenommen hatte. Da der Zyklus mit Kant begann, kaufte ich mir natürlich die drei großen Kritiken, die ›Kritik der reinen Vernunft‹, die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und die ›Kritik der Urteilskraft‹. Während der ersten beiden Semester 1974/75 wohnte ich noch in Celle bei meinen Eltern, und mußte täglich mit der Eisenbahn nach Hannover fahren. Stets hatte ich dann einen Band Kant dabei und so las ich dann im Zug in der stilistisch schwierigen ›Kritik der reinen Vernunft‹, während um mich herum Leute vom Land ein- und ausstiegen und ihre Alltagsgespräche führten. Daß die Konzentration auf philosophische Konstruktionen unter diesen Umständen nicht leicht fiel, leuchtet ein, aber ich hatte keine Lust, dem Gerede der Mitfahrenden zuzuhören, und so las ich gegen deren Geschwätz an und versuchte umso mehr, mich ganz in die Lektüre zu vertiefen. Ich las auch andere Bücher, und eines Tages hatte ich die 1973 bei Suhrkamp erschienenen beiden Bände ›Philosophische Terminologie‹ von Theodor W.  Adorno dabei, als ich auf einmal stutzte. Ich schaute in meine Kladde, in der ich das von Negt Vorgetragene notiert hatte. Da fiel mir plötzlich auf, daß sowohl die Anlage der Frankfurter Vorlesungen von Adorno aus den Jahren 1962 und 1963 wie auch die Ausführungen zu einzelnen Begriffen übereinstimmten mit den 1974 und 1975 von Negt in Hannover abgehaltenen Vorlesungen. Nun ist es gewiß legitim, sich an andere Autoren anzulehnen und die Geschichte der akademischen Vorlesung zeigt zudem auch, daß es beispielsweise zu Kants Zeiten ganz normal war, wenn der vortragende Professor ein eingeführtes und etabliertes Lehrbuch als Orientierungshilfe benutzte, ja sogar wörtlich daraus vorlas, da die Vorlesung damals tatsächlich vornehmlich im Vorlesen von bereits Gedrucktem bestand. Der Vortragende konnte und durfte daran anschließen und, falls er neue Aspekte und Gedanken vorrätig hatte, diese den zahlenden Zuhörern mitteilen. Nicht so in diesem Falle. Ich wartete lange und bald vergebens darauf, daß Oskar Negt uns Studenten die beiden Adorno-Bände zur Vertiefungslektüre empfehlen würde, was ja auch zum erleichterten Verständnis des Vorgetragenen hätte beitragen können, denn nur die Tonband-Damen in der vordersten Reihe konnten zuhause beliebig oft in die aufgezeichneten Vorlesungen hineinhören. Es hätte nahegelegen, den Professor mit den Adorno-Bänden zu konfrontieren und ihn zu fragen, was ihn bewogen haben könnte, den hannoverschen Studenten nicht mitzuteilen, daß er die Vorlesungen seines akademischen Lehrers Adorno ein Jahrzehnt später nachinszenierte. Aber ich traute mich nicht, ihm dies zu sagen, zumal ich Negt als umgänglichen und freundlichen Menschen empfand. Vielleicht half mir diese Entdeckung aber auch, distanziert und skeptisch zu sein gegenüber der Verehrung, die ihm von vielen Studenten entgegengebracht wurde, und eine Reserviertheit zu pflegen, die immer gut ist, wenn man in Gefahr gerät, sich einer Person vollkommen auszuliefern. Die Tonband-Groupies kamen mir wie Adorantinnen vor, die jedes Wort des verehrten Soziologen der Nachwelt zu überliefern gedachten und mit einem schwärmerischen Augenaufschlag zu ihm hochzuschauten. Der angekündigte Zyklus ›Kant, Hegel, Marx, Freud‹ schloß nicht mit Freud ab, sondern es gab stattdessen zum Wintersemester 1976/77 eine Vorlesung mit dem Namen ›Literatursoziologie I‹, die 2022 unter dem Titel ›Politik der Ästhetik: Die Romantik‹ als Buch erschienen ist. Erst 2020, fast fünfzig Jahre später, erschienen unter dem Titel ›Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant‹ die Vorlesungen aus dem Wintersemester 1974/75 und Sommersemester 1975 als Buch. So hatten die Tonbandaufzeichnungen doch noch einen Sinn und eine davon hatte sicherlich als Druckvorlage gedient.

Neue Gespräche im Elysium XIV

 Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Gabriele D’Annunzio meets Beate Uhse

 Wenn der Faschismus kein Glaube wäre, wie könnte er Mut und Feuer erwecken? Die Bereitschaft des modernen Menschen zu glauben ist unglaublich. (Benito Mussolini)

(In großer Höhe fliegt eine Bücker Bü 133 Jungmeister einsam am Himmel dahin. Am Steuer der Propellermaschine sitzt Beate Uhse, (geborene Köstlin, verwitwete Uhse, geschiedene Rotermund), seit ihrem 18. Geburtstag mit einem Flugzeugführerschein ausgestattete Wehrmachts-Pilotin. Die Sicht ist klar, kein Wölkchen am Himmel trübt das Bild. Plötzlich hört man von weiter oben ein Brummen, das schnell näherkommt. Es ist eine italienische Ansaldo S.V.A., die dicht über der Bücker Bü 133 schwebt. Dann öffnet sich ein Fenster des Flugzeugs und eine gewaltige Menge von Flugblättern wird herausgeworfen. Unkontrolliert flattern sie nach unten, einige davon landen auf dem Sichtfenster der von Uhse gesteuerten Maschine. Für einen Moment verunsichert wegen der fehlenden Sicht sieht Uhse auf der Glasscheibe eins der Flugblätter und kann sogar einzelne Zeilen des darauf abgedruckten Textes erkennen:) 

»Das Drohen der Schwinge des jungen italienischen Adlers gleicht nicht der finsteren Bronze im morgendlichen Licht. Viva l’Italia! Wiener, lernt die Italiener kennen! Wenn wir wollten, könnten wir ganze Tonnen von Bomben auf Eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden Euch nur einen Gruß der Trikolore! Wir Italiener führen keinen Krieg gegen Kinder, Frauen und Alte. Wir führen Krieg gegen eure Regierung, die ein Feind der Unabhängigkeit der Völker und nicht in der Lage ist, euch Brot und Frieden zu garantieren.«

(Uhse zieht den Steuerknüppel hoch und versucht, durch heftige Drehbewegungen die Flugblätter loszuwerden. Dann entdeckt sie den Doppeldecker, der über ihr kreist. Sie flucht. Schließlich gibt sie auf und setzt zum Landeanflug an. Nachdem die Erde sie wiederhat, stürmt sie wutentbrannt aus ihrer Maschine und geht schnellen Schritts zum Terminal. Während sie voranstürmt, hört sie hinter sich das Brummen eines Flugzeugs, sie dreht sich um und sieht, daß es die noch eben über ihr kurvende Ansaldo S.V.A ist. Sie dreht sich um und geht mit weit ausholenden Schritten auf das nun zum Stillstand gekommene Flugzeug zu. Ihm entsteigt ein kahlköpfiger kleiner Mann in militärischer Uniform, der sie anstrahlt.) 

Gabriele D’Annunzio: Buon giorno, Signora! Come sta?

Beate Uhse: Sie! Sie! Sie Schweinehund! Was fällt Ihnen ein, mich mit Ihrem Flugblattdreck zu bewerfen? Ich wäre beinahe abgestürzt! Haben Sie überhaupt eine Fluglizenz? Ich werde Sie anzeigen, Sie werden einen Prozeß an den Hals kriegen, Sie werden sich noch umgucken und wundern. Ich bin zigmal vor Gericht geladen worden, ich kenne mich aus. Danach werden Sie niemals wieder den allgemeinen Luftraum gefährden.

Gabriele D’Annunzio: Aber Signora, beruhigen Sie sich doch! Das war doch reine Nostalgie, dieser Flug. Ich wollte dieses Gefühl noch einmal erleben, als ich 1918 über Wiens Himmel mit sieben Flugmaschinen auftauchte und 300.000 Flugblätter auf die innere Stadt herabgeworfen habe. Diese Aktion war meine Idee und das Oberkommando der italienischen Streitkräfte hat damals zugestimmt. Der Flug sollte die unangefochtene Macht der italienischen Luftwaffe als Symbol der angeborenen Energie der italienischen Rasse demonstrieren.

Beate Uhse: Sie können von Glück sagen, daß ich nicht den Sturzkampfbomber Ju 87 oder die Messerschmitt Bf 110 geflogen bin, das wäre Ihnen schlecht bekommen, denn dieser Ganzmetall-Tiefdecker gehörte bei unserer Luftwaffe in den dreißiger Jahren zur Gattung der Zerstörer. Damit hätte ich Sie glatt pulverisieren können. 

Gabriele D’Annunzio: Donnerwetter! Sie waren bei der deutschen Luftwaffe?

Beate Uhse: Ich war Einfliegerin.

Gabriele D’Annunzio: Wir haben so viel gemeinsam, auch ich bin viel geflogen und habe das im militärischen Rahmen gemacht. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?

Beate Uhse: Na gut, meinetwegen, aber deshalb kommen Sie mir noch lange nicht so billig davon, mit einem Kaffee ist das noch lange nicht erledigt.

(Sie begeben sich zu dem nah am Flugplatz gelegenen ›Café Elysium‹.) 

Gabriele D’Annunzio: So, nun erzählen Sie mir doch etwas aus Ihrem vorigen Leben, verehrte Dame.

Beate Uhse: Ich war und bin Beate Uhse. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich Frauen auf dem Land Informationsmaterial über Geburtenkontrolle verkauft. Das waren ganz schlicht gemachte, hektographierte Broschüren. Daraus hat sich dann langsam ein Geschäft entwickelt, das wuchs und wuchs und bald hatte ich Angestellte und Hilfskräfte und so entstand die Firma Beate Uhse, die noch heute besteht. Ich habe von Anfang an meine Person ganz offen dargestellt und man hat mich immer wieder vor Gericht gezerrt, aber die Prozesse habe ich meist gewonnen. Ich habe die Deutschen von ihrer sexuellen Verklemmtheit befreit. Wir haben waschkörbeweise Briefe erhalten mit Bestellungen für unsere Produkte, wozu Verhütungsmittel ebenso gehörten wie erotische Wäsche und erotisches Spielzeug. Die Nachfrage war enorm. Ich wurde eine Marke. Mitte der 1960er Jahre war ich eine Prominente, ein Star, über den die Zeitungen und vor allem die bunten Illustrierten Geschichten schrieben. Ich fütterte die Medien mit meiner Lebensgeschichte. Zuerst stellte ich mich als verwitwete Ehefrau und vierfache Mutter dar, dann war ich die tapfere Luftwaffenpilotin während des Zweiten Weltkriegs. Das gab meinem Unternehmen die nötige Respektabilität, die ich auch brauchte, um vor Gericht erfolgreich zu sein. 1957 hatte ich schon acht Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger auf meinen Versandlisten. Damals nannte ich das noch ›Ehehygiene‹, das war weniger verfänglich. Was anderes konnte ich auch nicht tun, deshalb wurde in der Werbung der Sex immer im Rahmen der Ehe behandelt, niemals außerhalb. Und natürlich keine homosexuellen Themen, das war ebenso Tabu wie außerehelicher Sex. Das hätte mir vor Gericht auch nicht geholfen.

Gabriele D’Annunzio: Sehr interessant. In Italien wäre eine solche Karriere nicht möglich gewesen, und das nicht etwa wegen des dominanten Katholizismus allein. Der italienische Mann sieht die Frau als Madonna und Hure, als Geliebte und Mutter, aber niemals als eigenständige Person, die dann auch noch mit der Sexualität enorme Geschäfte macht. Früh entdeckte ich, daß man nicht nur Bücher schreiben, sondern auch wissen mußte, wie man sie verkauft. Ich bin der Erfinder des Marketings. Ich wollte den Ruhm. Und ich bekam ihn, weil ich wußte, wie man die Menschen manipulieren kann. Die aristokratische Darstellung meiner Persönlichkeit bezauberte die italienische Bourgeoisie. Ich wußte mich zu inszenieren. Es konnte gar nicht bombastisch genug sein. Immer schon war ich vom Glanz der Dinge angezogen. Das galt auch für Frauen, von denen sich eine stattliche Anzahl mir ergab. Das Pathetische lag mir und so schrieb ich Sätze wie: Die Sonnenuntergänge hier sind alle aus Blut. Ich hatte einen Wust schwarzer Locken und zwei Augen wie ein Besessener. Leider wurde ich während eines Duells am Kopf verletzt und der mich behandelnde Arzt hat ein Mittel angewandt, das sich als hoch toxisch erwies, und so verlor ich dadurch alle meine Haare. Durch eine frühe Heirat wurde ich in die römische Aristokratie aufgenommen. Wieviel habe ich geschrieben! In dem Roman ›Lust‹ von 1892, der von der Literaturkritik als mein bester Roman bezeichnet wird, habe ich die Krise eines Ästheten beschrieben, meine eigene Krise, die ich mit großer Genauigkeit in all ihren psychologischen Verästelungen dargestellt habe. Ich führte ein mondänes Leben.

Beate Uhse: Na, Sie sind mir ja ein bunter Vogel! Aber zurück zu meiner weiteren Lebensgeschichte. 1962 waren die Hälfte der deutschen Gesamtbevölkerung von 54 Millionen schon meine Kunden. Die Journalisten halfen mir bei diesem Erfolg, indem sie meine von mir gelieferten autobiographischen Einzelheiten aufschnappten und zu Artikel verarbeiteten. Ich war Teil des ›Prominentenjournalismus‹. Skandale waren das tägliche Brot für die damalige Presse. Sie fraßen mir aus der Hand. Die Tatsache, daß ich Fliegerin gewesen und mein letzter Flug eine waghalsige Flucht aus dem belagerten Berlin im April 1945 war, wurde für die Presse zu einer risikoreichen und spannenden Geschichte, und das konnte man dann gut mit der Spannung verbinden, die jeder mit seiner Sexualität empfand. Meine Geschichte wurde eine Abenteuergeschichte, die man gern konsumierte. Mit dem Versand meiner Kataloge überwand ich anfangs auch die Schambarrieren und gewann das Vertrauen meiner Kunden. Sie wußten sich bei mir gut aufgehoben. Ich zeigte offen mein Gesicht in der Öffentlichkeit, ich war ein lebendiger Mensch, keine anonyme Versandhausfirma. Man konnte eine Beziehung zu mir herstellen. Ich kam als persönliche Bekannte und vielleicht sogar Freundin in die bundesdeutschen Familien und half dabei, Ehen zu retten. Das war kein schmutziges Geschäft, das war ehrlicher Dienst am Kunden. Und gerade die Frauen waren meine besten Verbündeten, denn die litten unter schlechtem Sex. Ich gab ihnen Mut, Wünsche zu äußern und auf einem erfüllten Sexualleben innerhalb der Ehe zu bestehen. Aber in Flensburg wurde das anders gesehen. Mein Antrag auf Aufnahme in den Tennisverein wurde abgelehnt, obwohl ich mit meinem Unternehmen einer der wichtigsten Arbeitgeber und Steuerzahler in Flensburg war. Ich wurde gesellschaftlich geächtet. Für das alte Bürgertum am Ort war ich eine profitgierige Aufsteigerin. Wenn ich zum wiederholten Male vor Gericht stand, bestätigten mir die Richter aber, daß ich frei und offen auftrete und nichts beschönige. Das war wichtig für die Entscheidung der Gerichte, denn da ich in den Augen der Richter eine respektable Person war, konnte ich mit einem besseren Urteil rechnen. Außerdem stammte ich aus einer ›guten‹ Familie und hatte als Fliegerin in der Luftwaffe gedient. Das zählte für die damalige Generation der Richter, die während der NS-Zeit ihre Karrieren begonnen hatten. Nach einer der vielen Razzien in meinem Unternehmen bot mir die Flensburger Polizei sogar an, bei der Polizei zu arbeiten, weil es ihnen an klugen und dynamischen Beamtinnen mangelte! Meine immer sehr sorgfältige, saubere Ausdrucksweise sowohl in meinen Versandkatalogen wie in meinen Stellungnahmen vor Gericht schützten mich. Meine Sprache war niemals obszön und die Richter würdigten das. Das verlieh mir Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Um dieses aber nachdrücklich in der Öffentlichkeit wirken zu lassen, mußte ich mich um eine Marketingstrategie kümmern. Die Tatsache, daß ich Einfliegerin gewesen war, mußte für die Öffentlichkeit so aufbereitet werden, daß man sehen konnte, wie das Fliegen und Sex miteinander korrespondierten: Hohe Geschwindigkeit, physisches Risiko, Freiheit von irdischen Fesseln. Nervenkitzel. Keine Scham und keine Hemmung gegenüber der eigenen sexuellen Körperlichkeit. Lust als Individuum, Freiheit von äußeren Zwängen, und das Ganze abgestützt durch den Artikel des Grundgesetzes, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistete. Man konnte mich nicht in die Gosse werfen, man konnte mir nicht vorwerfen, ich würde ein schmutziges Geschäft betreiben, und die allgemeine Liberalisierung seit Mitte der 1960er Jahre half mir, alle Anfeindungen seitens der Sittenprediger zu überstehen.

Gabriele D’Annunzio: Man kann in den Mund einer Frau beißen wie in eine Delikatesse. Doch ich erfuhr, daß es noch einen anderen Mund zum Aufbrechen gab, einen geheimnisvollen und geschlechtsreifen. Ich hatte schon als junger Mann einen Hang zur Extravaganz. Mein Vater mußte erhebliche Mehrkosten aufwenden zum Bezahlen all meiner Handschuhe, Schals, Anzüge und Schuhe. Ich verfügte über ein Nachthemd mit einem kreisrunden, goldumstickten Ausschnitt beim Gemächt, um den Beischlaf zu erleichtern. (Greift in sein Jackett und holt eine zerknitterte Photographie hervor): Hier, sehen Sie, ich war auch ein begeisterter Schwimmer.

Beate Uhse (schaut auf die Photographie und schreckt zurück): Huch, da sind Sie ja ganz nackt und man sieht Ihr Glied im schlafenden Zustand.

Gabriele D’Annunzio: Allerdings! Ich war einer der Pioniere der Freikörperkultur!

Beate Uhse: Solche Fotos habe ich auch für meine ersten Werbebroschüren gemacht, von meinen Jungs, meinen beiden Söhnen, denen hat das viel Spaß gemacht. Ich habe sie aber von der Seite fotografiert, denn sonst wäre ich mit dem Sittengesetz in Konflikt gekommen. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren immer noch sehr prüde. Diese Hefte verkauften sich aber wie warme Semmeln.

Gabriele D’Annunzio: In Fiume, der von mir besetzten und befreiten Stadt liefen viele der Bewohner nackt durch die Straßen, es gab auch das, was man ›freie Liebe‹ genannt hat. Jeder konnte sich frei entfalten. Es war eine schöne Zeit. Die italienischen Faschisten haben in ihren Reden und Proklamationen nach der Eroberung der politischen Macht häufig den Ausdruck ritmo di vita gebraucht, Lebensrhythmus. Und diesen haben sie mit Giovinezza in Verbindung gebracht, der Jugend, das war die Hymne der faschistischen Bewegung Italiens. Der dem Faschismus zugeneigte deutsche Soziologe Robert Michels hat dazu erklärt, daß die Partito Nazionale Fascista (PNF) die Partei der Jugend, der schönen Jugend gewesen sei. Die Teilnehmer der faschistischen Umzüge seien »jünger, frischer, lebendiger, auch körperlich schöner und ästhetisch elitenhafter« gewesen als die Besucher der sozialistischen Versammlungen. »Die ›schöneren Männer‹ sind zweifellos auf faschistischer Seite.« Und Michels war kein Homosexueller.

Beate Uhse: Na, das mag ja so gewesen sein, aber wenn ich an die Schläger von der NSDAP, an diese SA-Banditen denke, dann sehe ich da nur häßliche Figuren mit Bierbauch und kurzgeschorenem Schädel, feiste Landsknechte waren das, Mordgesellen. Mögen die italienischen Männer vielleicht etwas hübscher gewesen sein, aber Schläger und Mörder waren sie auch, da spielen das Aussehen und die Jugendlichkeit doch keine Rolle. Mir ist es gleichgültig, wenn ich von einem brutalen Mörder zusammengeschlagen werde, ob der gut aussieht oder nicht. Mord bleibt Mord.

Gabriele D’Annunzio: Ich habe mich von Mussolini distanziert und konnte dem von ihm errichteten faschistischen Regime nichts abgewinnen. Allerdings hat man mir am Gardasee das schöne Anwesen ›Il Vittoriale‹ geschenkt, wo ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht habe. Die faschistische Regierung hat auch eine Gesamtausgabe meiner Werke finanziert.

(Entlanggeschlendert kommen Angelo Tasca [1892–1960, italienischer Autor und Politiker] und Ignazio Silone [1900–1978, italienischer Schriftsteller], die beide grundlegende Werke über den italienischen Faschismus geschrieben haben: ›Glauben, Gehorchen, Kämpfen. Aufstieg des Faschismus‹, 1938, und ›Der Fascismus. Seine Entstehung und Entwicklung‹, 1934.)

Angelo Tasca: Gabriele! Du alter Gauner! Signora, hüten Sie sich vor diesem Herrn. Er ist ein Schwerenöter, ein Süßholzraspler und Flachleger. Er hat sich zeit seines Lebens durch Italien gebumst.

 Ignazio Silone: Angelo, sprich doch nicht in diesem vulgären Ton mit dieser Dame.

Angelo Tasca: Wieso nicht? Tatsachen sind Tatsachen, und bei D’Annunzio darf man sich nicht zurückhalten. Alter Gaukler, du! Was machst du überhaupt hier im Elysium, hat dir den Aufenthalt das faschistische Regime bezahlt, so wie es dir deine Luxusvilla am Gardasee gekauft hat?

Gabriele D’Annunzio: Seid doch still, ihr Kommunistenschweine! Wer hat euch gebeten, hier aufzukreuzen und herumzupöbeln? Signora Uhse, bitte entschuldigen Sie diese Rüpel aus meinem Heimatland, die es nicht verdient haben, sie als Italiener zu bezeichnen.

Angelo Tasca: Dürfen wir uns vorstellen, wir sind zwei italienische Schriftsteller, die auch in der Politik mitgemischt haben, auf unterschiedliche Weise. Vor allem aber sind wir bekannt durch unsere zeitgenössischen Analysen zum italienischen Faschismus. Mein Buch ›Credere, obbedire, combattere‹ ist 1969 auch auf Deutsch erschienen und seitdem immer wieder nachgedruckt worden. Ich habe darin auch unseren gemeinsamen Freund, Herrn Gabriele D’Annunzio, erwähnt. Die militärische Besetzung der Stadt Fiume hat diesen Herrn weltweit bekannt gemacht, aber er war schon vorher berühmt durch seine vom Geist des fin de siècle getragenen Romane. Ein Dichter, der in die Politik gegangen ist, daraus kann nie etwas Gutes hervorgehen. Dieses Fiume hat dem Faschismus das Modell für seine Miliz und für die Uniformen, den Namen für die Gruppen, den Kampfruf und die Liturgie geliefert. Mussolini hat D’Annunzio den ganzen szenischen Apparat abgeschaut, einschließlich des Dialogs mit den Massen.

Gabriele D’Annunzio: Da hat er ausnahmsweise recht. Das war alles meine Erfindung, auch der Auftritt auf dem Balkon, von wo ich meine Ansprachen an das Volk gehalten habe. Das war für die damalige Zeit eine Neuheit, das hatte es vorher in dieser Form noch nicht gegeben. Mussolini hat mich reingelegt, wie man das von einem verkrachten, dahergelaufenen Journalisten auch nicht anders erwarten kann. Ein Dilettant, prinzipienlos, ein verkommenes Subjekt, und dieser Kerl wurde dann dank der faschistischen Propaganda vom italienischen Volk als ›Duce‹ verehrt. Sensation und Dramatik, danach gierte er ständig. Statt Diplomatie gegenüber den anderen Staaten hat er stets das Heldentum bevorzugt und damit Italien ins Unglück gestürzt. Dieser Hitler hatte ihn sich früh zum Vorbild genommen und ihn verehrt bis dorthinaus, aber Herr Mussolini hat nicht gemerkt, wie Hitler ihn während des Zweiten Weltkriegs um den Finger gewickelt und betrogen und Italien in einen Krieg gelockt hat, für den es weder materiell noch psychologisch vorbereitet war. Hitler, der eigentlich österreichisch Hiedler geheißen hat, dieser Strolch mit seinem verschwiemelten Pöbelgesicht unter dieser nicht mehr abwaschbaren Tünche von Kalk und Leim, dieser grausame Bajazzo. Aber der kleine Benito, dieser große Prahlhans, ist mit der italienischen ›Ehre‹ hausieren gegangen. Schlechte Manieren, darin kannte er sich aus.

Ignazio Silone: Bravo, Gabriele! Es scheint, als hättest du dir hier im Elysium richtig Gedanken über das Wesen des Faschismus gemacht. Vielleicht stimmst du mir zu, wenn ich sage, daß man den Faschismus nicht nach seiner Ideologie beurteilen darf. Das Einzige, was er vorzuweisen hat, sind Terror, Gewalt und Korruption. Deshalb hat er mit der Arbeiterbewegung auch nicht diskutiert, sondern durch sogenannte ›Strafexpeditionen‹ in den Jahren von 1920 bis 1922 Dörfer und Städte überfallen, die kommunalen Einrichtungen verwüstet, die Häuser der Gewerkschaften angezündet und mit seinen Schlägerbanden unendlich viele Menschen umgebracht. Wir spielen die Leier auf allen Saiten: von der Gewalt bis zur Religion, von der Kunst bis zur Politik. Das hat Mussolini gesagt und sich daran gehalten. Nur mit bewaffneter Gewalt hätte man den Faschismus niederzwingen können, aber die italienische Arbeiterbewegung war dazu nicht fähig.

Angelo Tasca: Ja, Ignazio, ich stimme dir zu. Das Parteiprogramm hatte im Faschismus nur die Funktion eines Notbehelfs. Was man in den Reden hörte, das war alles aus dem Moment heraus zusammengebastelt und konnte daher in einer anderen Kampfsituation auch wieder verschwinden. Das ist das Wesen des Journalismus, sich jeweils am Tagesgeschehen zu orientieren und das ist auch das Wesen des Faschismus, der ebenso über keine Theorie verfügt, aber alle jemals entstandenen Theorien ausraubt, so wie er ein ganzes Land und deren Menschen mit Terror und Gewalt erobert und beraubt hat. D’Annunzio war in erster Linie Schauspieler. Auftritte vor dem leeren Haus lagen ihm nicht. Der Übermensch in ihm brauchte das Publikum. D’Annunzio war sein eigener Stern, nie ließ er einen anderen neben sich gelten. Und darin war er mit Mussolini verwandt.

Beate Uhse: Entschuldigen Sie, meine Herren, wenn ich Sie unterbreche, aber so recht Sie mit all Ihren Beobachtungen haben mögen, ich würde doch gern die Unterhaltung mit Herrn D’Annunzio fortsetzen.

Ignazio Silone: Oh, das tut uns leid, Signora, wir wollten uns nicht aufdrängen, wir waren nur so erstaunt, unseren Dichter hier auf der Insel der Seligen wiederzufinden. Er hat es wohl verstanden, von einer Insel der Seligen, seiner prachtvollen Villa am Gardasee, hierher zu wechseln und es sich auch nach seinem Tode wohlergehen zu lassen. Da wir genau über seine Vergangenheit Bescheid wissen, wollten wir es nicht versäumen, Sie vor diesem kleinen Scheusal zu warnen, er hat eine außergewöhnliche Ausstrahlung auf Frauen, obwohl er nun wirklich kein schöner Mann ist. (D’Annunzio verzieht angewidert das Gesicht. Silone und Tasca geben Beate Uhse nacheinander die Hand und verabschieden sich.) 

Beate Uhse: Na, das war ja was! Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Man glaubt es nicht, selbst nach dem Tode wird man von ihr nicht verschont.

Gabriele D’Annunzio: Alles, was gut ist am Faschismus, ist von mir – seine Ästhetik.

Beate Uhse: Mir kam das alles in Hitler-Deutschland schrecklich schaurig vor. Diese Paraden bei Nacht, der Lichterdom, die brennenden Fackeln, was war daran ästhetisch? Es sei denn, man mag solchen Budenzauber, mich hat es nicht interessiert, ich habe mich schon früh für Technik interessiert und innerhalb der Technik ganz besonders für das Flugwesen. In dieser Hinsicht hat der NS-Staat sehr viel angeboten und ich habe mich faszinieren lassen von der Möglichkeit, als Frau eine Maschine zu steuern und in den Himmel damit zu fliegen.

Gabriele D’Annunzio: Wie gut ich das verstehen kann, es ging mir ganz genauso. Die Höhenlust ist eine ganz besondere Lust, es ist ein erhabenes Gefühl, über den Wolken zu schweben und tief unten die Landschaft unter sich zu haben. Man kommt sich wie ein Gott vor.

Beate Uhse: Ach, Gottchen, das nun gerade nicht, es hat einfach Spaß gemacht, zu fliegen und diese Maschine zu beherrschen. Für mich war das ein wunderbarer Sport und ich konnte damit mein Leben finanzieren.

Gabriele D’Annunzio: Italiener von Fiume! Hier bin ich! So habe ich damals, am 12. September 1919, vom Gouverneurspalastbalkon aus die Menschenmassen unten auf dem Platz angesprochen. Auch das war ein erhebendes und erhabenes Gefühl.

Beate Uhse: Die sexuelle Neugier der Bevölkerung ist ungestillt.

Gabriele D’Annunzio: Ja, es war eine Vermählung mit dem Volk, auf einer höheren, spirituellen Ebene. Das Eins Werden des Führers mit der Masse, das Verschmelzen energetischer Kräfte.

Beate Uhse: Ich habe mich ganz auf die irdische Seite der Sexualität konzentriert. Gleich nach dem Ende des Krieges konnte ich doch das Elend beobachten, in dem die Frauen auf dem Lande lebten. Wenn ungewollt eine Schwangerschaft entstand, habe ich mit meinen Broschüren und der darin enthaltenen Beratung helfen können und so entstand bald darauf ein kleines Geschäft, das zügig weiter ausgebaut wurde. Daß daraus ein Millionenkonzern werden würde, daran dachte doch damals kein Mensch, ich jedenfalls nicht. Meine Texte waren sicher noch sehr unbeholfen, aber schließlich nahm ich auch erotische Literatur in meine Kataloge auf.

Gabriele D’Annunzio: Andrea Sperelli erwartete in seinen Gemächern eine Geliebte. Alle Dinge ringsum offenbarten wahrhaftig die Sorgfalt der Liebe. Das Wacholderholz brannte im Kamin, auf dem kleinen Teetisch standen Tassen und Untertassen aus Majolika von Castel Durante, die Luzio Dolci mit mythologischen Szenen geschmückt hatte. Das Licht drang gedämpft durch die roten Brokatvorhänge, die mit Granatäpfeln aus filigranem Silber, mit Blättern und Sprüchen verziert waren. Da die Nachmittagssonne auf die Scheiben traf, zeichnete sich das Blumenmuster der Spitzengardinen auf dem Teppich ab. Es war, als sei in diesem Augenblicke das ganze Zimmer bereit, die ersehnte Frau zu empfangen. Elena hatte die ein wenig grausame Angewohnheit, am Ende jeder Liebesbegegnung alle Blumen, die in den Vasen steckten, auf dem Teppich zu entblättern. Nichts glich der Anmut der Bewegung, die sie jedesmal vollführte, wenn sie den Rock etwas anhob und erst den einen und dann den anderen Fuß vorschob, damit der Geliebte sich herabbeugte und die Bänder des noch offenen Schuhes schnürte. Na, was sagen Sie, das ist die Eingangs-Passage aus meinem Roman ›Lust‹. Nicht schlecht, was?

Beate Uhse: Oh, das hätte ich gut für meine Werbeschriften verwenden können. Wissen Sie, ich habe mich stets um gutes Deutsch bemüht und um eine ehrliche Sprache. Anders ging das auch gar nicht. Auch wollte ich mich damit absetzen von der ordinären Art, mit der man ja auch über Liebe und Sex reden kann. Ich wollte erreichen, daß niemand aus meiner Kundschaft Schuldgefühle zu haben brauchte und daß man sich ganz dem körperlichen Wohlgefühl hingeben konnte.

Gabriele D’Annunzio: Meine letzten Jahre waren von einem enormen Kokainkonsum überschattet. Dann aber wieder wurde ich die ganze Zeit von drei Frauen umsorgt, die mir auch Frauen von der Straße verschafften.

Beate Uhse: Sie alter Wüstling!

Gabriele D’Annunzio: Ich verstehe es ja auch nicht, wie ich diese Ausstrahlung auf das weibliche Geschlecht hatte, ich hatte sie einfach und ich habe mich nicht damit gequält zu fragen, wie das möglich war. Wie wär’s denn, wollen wir uns für eine Stunde in ein Hotel begeben?

Beate Uhse: Was erlauben Sie sich, haben Sie während unseres Gespräches denn irgendein Knistern zwischen uns verspürt? Ich denke nicht. So, ich muß jetzt gehen. Aber eins gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg: Wenn Sie es noch einmal wagen sollten, so eine Flugblatt-Tour zu unternehmen, dann werden Sie von der elysischen Gerichtsbarkeit hören und glauben Sie mir, wenn ich Sie vor den Kadi ziehe, werden Sie nicht ungeschoren davonkommen.

Gabriele D’Annunzio: Clemenza, bella ragazza!