Er betrachtet es als seine Pflicht, jeden zu hintergehen, der ihn für so dumm hält, daß man ihm vertrauen kann. Er glaubt, es gibt keinen Weg, um so schnell und so sicher Erfolg zu haben, als durch Betrug an der Öffentlichkeit reich zu werden: denn öffentliche Diebstähle sind sicherer und werden weniger verfolgt als private. Denn Unverfrorenheit ist keine zu unterschätzende Methode, um Größe und Autorität in der Meinung der Welt zu gewinnen. Unter allen Tugenden gibt es keine, die er so hoch schätzt wie die Unverfrorenheit: sie ist ihm nützlicher und nötiger als die Maske dem Straßenräuber. Wer unverfroren ist, ist kugelsicher. (Samuel Butler [1613–1680]: Ein zeitgemäßer Politiker, 1759)

Jedem Journalisten wird zu Anfang seiner Lehrzeit beigebracht, daß man einen Artikel mit einem interessanten, die Aufmerksamkeit des Lesers weckenden Satz beginnen soll. Das sollte schon die Überschrift besorgen, gewiß, aber da man in der Vorstellungswelt des Journalismus sehr unsicher ist, ob das auch ausreicht, muß der Artikel-Anfang, wie es im Branchenjargon heißt, den Leser »mitnehmen«. In der neuesten Ausgabe der Großen Frankfurter wird ein langer Artikel abgedruckt, der von den vier Gerichtsverfahren (und 91 Straftatbeständen) gegen einen ehemaligen US-Präsidenten berichtet. Doch schon im ersten Absatz, noch bevor die einzelnen Verfahren in peinlicher Ausführlichkeit dargestellt werden, steht da ein aus drei Worten bestehenden Satz: »Damit rechnet niemand.« Gemeint ist ein Haftaufenthalt des ehemaligen US-Präsidenten. Als Erklärung wird die Bemerkung nachgeschoben, der Angeklagte erreiche schon bald (in drei Jahren) das Alter von achtzig Jahren.

Viele, ja, eigentlich alle der noch bis in die Jetztzeit vor Gericht stehenden (oder, wegen Krankheit, sitzenden) Angeklagten, denen man Verbrechen vorwarf, die in deutschen Konzentrationslagern begangen wurden,  waren in sehr hohem Alter. Würde ein deutscher Journalist noch vor Beginn solcher Prozesse schreiben, niemand rechne damit, daß sie die Haftstrafen, zu denen sie möglicherweise verurteilt werden, wirklich antreten müßten? Und in der Tat, viele, wenn nicht die meisten der 80 bis 90jährigen Mitglieder des KZ-Personals, mußten nicht ins Gefängnis, weil sie das Strafgericht viel zu spät einholte und sie als gebrechliche Greise wieder in ihren kleinbürgerlichen Haushalt zurückkehren durften, da man ihnen »Haftunfähigkeit« bescheinigte, aber erst, nachdem man ihnen in einem Gerichtsverfahren ausführlich nachgewiesen hatte, daß sie sich an Verbrechen mitschuldig gemacht hatten. Ein symbolischer Prozeß, der Gerechtigkeit konnte wegen der fortgeschrittenen Zeit nicht Genüge getan werden.

Der ehemalige US-Präsident geht zwar auf die achtzig zu, doch sein Auftreten in der Öffentlichkeit läßt nicht den Schluß zu, daß er sich nach einem Rollstuhl umsehen müßte, im Gegenteil, seit seinem Auftauchen in der politischen Öffentlichkeit demonstriert er mit unverhohlener Unverfrorenheit einen aggressiven Macht- und Herrschaftsdurst mit seinem fast gottgegebenen Anspruch auf das höchste politische Amt in den USA. Doch wer will eigentlich heute auch nur eine Zeile über diesen politischen Typus mehr lesen?

Dennoch hat es Fälle gegeben, wo angeklagte Politiker, ausschließlich in Großbritannien, nicht nur zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sondern diese auch antreten mußten. Der sicher berühmteste Fall ist der von Jeffrey Archer, der im Jahre 2000 wegen Meineids und Behinderung der Justiz zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, die ihm nach Absitzen der Hälfte der Zeit erlassen wurde. In dieser Zeit schrieb er ein Tagebuch, das nach seiner frühzeitigen Entlassung in drei Bänden publiziert wurde, angelehnt an Dantes Divina Commedia.  Archer war nicht nur ein bekannter Tory-Politiker, sondern hat bis heute über vierzig Bücher (mit Übersetzungen in 33 Sprachen und einer Gesamtverkaufszahl von mehr als 320 Millionen Exemplaren) veröffentlicht, allesamt aus dem Thriller- und Drama-Genre. Seine Schriftsteller-Karriere begann 1974, als er durch einen Finanzskandal, an dem er beteiligt war, für Bankrott erklärt wurde. Das Buch wurde ein Bestseller und er in der Folge ein reicher Mann.

Dann ist da Jonathan Aitken, auch er ein Tory, der wie Archer eine Menge Bücher geschrieben hat und wie Archer wegen Meineids und Behinderung der Justiz im Jahre 1999 in Haft genommen wurde, wo er sich zu einem vielschreibenden Christen entwickelte. Nach seiner Entlassung übertrug man ihm die Ehrenpräsidentschaft der ›Christian Solidarity Worldwide‹; auch wurde er, nachdem er ein Diakon der anglikanischen Kirche geworden war, zum Priester ordiniert.

Damit rechnet niemand, in der Bundesrepublik Deutschland, daß ein führender Politiker wegen begangener Straftaten ins Kittchen wandert. Ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler war nahe daran, aber alles belastende Aktenmaterial (Spendenaffäre) wurde nicht zum Anlaß genommen, ihn wegen nachweislicher Straftaten zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Denn in Deutschland köpft man den König nicht. Der letzte deutsche Kaiser floh nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, 1918, bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Holland, wo man ihm Asyl gewährte. Als es 1926 in der Öffentlichkeit darum ging, was mit dem beschlagnahmten Vermögen der deutschen Fürstenhäuser geschehen sollte, erreichte man mit einer Kampagne gegen die geplante Fürstenenteignung, daß in einem ›Volksentscheid‹ dies verhindert wurde.

In England wurde König Charles I. im Jahre 1649 enthauptet, Wochen später erklärte das Unterhaus England zur Republik.

In Deutschland kennt man nur die Redewendung, daß bald Köpfe rollen werden, wenn damit erfolglosen Führungskräften aus Wirtschaft und Politik die Entlassung angedroht werden soll. Danach tritt dann gern die segensreiche Wirkung des goldenen Handschlags in Kraft.

Und damit rechnet jedermann.