Arthur Schopenhauer schrieb eine Abhandlung unter dem Titel : ›Von dem, was Einer vorstellt‹. In dieser Abhandlung setzte er auseinander, daß im Menschenleben wenig darauf ankomme, was man ist, viel aber auf die Meinung der anderen, für welche man ›etwas bedeutet‹. (Theodor Lessing: Die Illusionsfassade, 1927)
Was man heute ›Image‹ nennt, das hat Theodor Lessing vor fast einhundert Jahren als ›Illusionsfassade‹ bezeichnet. Menschen nehmen den anderen selten als das wahr, was er ist, und mit welchen Mitteln außer dem eines Privatdetektivs, könnte man auch herausfinden, wer mein mir gerade gegenüberstehender Mitmensch wirklich ist. So hält man sich an äußere Merkmale, man geht ›physiognomisch‹ vor, beurteilt den anderen nach seiner Nase, seinem Mund, seiner Kleidung und bezieht auch die Gestik und Mimik dabei mit ein. Man taxiert. Und das macht man meist völlig unbewußt, es ist ein im Hintergrund ablaufender Vorgang der ersten Einschätzung, wenn man sich fragt, mit wem man es eventuell zu tun haben könnte. In der Liebe spielen, wie man neuerdings weiß, auch ganz unsichtbare Dinge eine Rolle. Die Pheromone, die jeder ausstößt, teilen dem anderen mit, ob man ›kompatibel‹ ist, ob also die Evolution damit einverstanden ist, daß sich zwei Vertreter des jeweils anderen Geschlechts paaren sollten oder nicht. Ist man erst einmal miteinander bekannt geworden, so ist, nach mehreren Treffen in Cafés und Restaurants, der nächste Schritt das Betreten der Wohnung der neu gemachten Bekanntschaft. (Dies ist auch ohne Hinzutritt des Verliebtseins möglich.) Und da erfährt man dann mehr über die unmittelbare Umwelt des doch noch immer sehr fremden Menschen. Hängen an den Wänden Fotos, Bilder oder Gemälde, welche Qualität haben die Sessel, das Sofa, wie sauber ist die Küche oder die ganze Wohnung überhaupt? Gibt es vielleicht ein Zimmer, das man nicht betreten darf, nicht etwa, weil dort jemand gegen seinen Willen gefangengenommen wird und man das dem anderen verheimlichen will, sondern ob es der Raum des Apartments ist, in dem ohne Zögern Dinge hineingeworfen werden, weil man sie anderswo in der Wohnung nicht unterbringen kann. Ist die neue Bekanntschaft also womöglich ein ›Hoarder‹, ein kranker Mensch, der nichts wegwerfen kann und der auch völlig unbrauchbare Dinge wie leere Behälter und alte Zeitungen aufbewahrt? Schließlich aber: Stehen in der Wohnung Regale, die mit Büchern gefüllt sind? Und um wieviel Bücher handelt es sich? Wer eine umfangreiche private Bibliothek in seinen Räumen beherbergt, wird bei der Ankunft des neuen Bekannten in den meisten Fällen mit der Frage konfrontiert werden: »Haben Sie die alle gelesen?« Die materielle Voraussetzung für diese Frage ist ein Bestand von mindestens eintausend Büchern oder mehr, denn erst dann setzt der Überwältigungseffekt bei dem neuen Besucher ein. Man kann diese Frage entweder mit einem beiläufigen Ton beantworten: »Selbstverständlich! Was denken Sie denn?« Oder man sagt, Bescheidenheit vorspielend: »Aber nein! Wo denken Sie hin?« Während man im ersten Fall beim Besucher eine sofort einsetzende starre Ehrfürchtigkeit beobachten kann, wird im zweiten Fall der so beruhigte Besucher erleichtert aufseufzen und weniger große Minderwertigkeitsgefühle in sich aufsteigen fühlen.
Man soll nach einem alten Sprichwort ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen, aber jetzt kommt aus den USA ein neuer Trend, der dies ganz wörtlich nimmt. Es handelt sich um Bücher, die keinen Inhalt haben, keine Buchseiten, und die nur vorgeben, richtige Bücher zu sein und dabei reißenden Absatz finden. Man braucht sie, um in seiner Wohnung so zu tun, als besäße man eine Bibliothek und sei sehr belesen. Diese leeren buchähnlichen Hüllen sind Illusionsfassaden einer Bildung, über die man nicht verfügt, die man aber gerne zu haben vorgibt, weil es für das Eigengefühl schmeichelhaft ist, wenn der andere glaubt, man sei qua Besitz dieser Buchfassaden ein gebildeter Mensch. Lassen wir alle Bemerkungen über den bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten Niedergang des deutschen Bildungsbürgertums einmal beiseite, so ist doch bemerkenswert, wie auch nach vielen Jahren Internet immer noch dieses aus fernen Zeiten zu uns herüberwehende Gefühl eine gewisse Geltung zu besitzen scheint, das mit dem Besitz von Büchern verbunden ist.
Der irische Schriftsteller Flann O’Brien hat in einem seiner Beiträge für die ›Irish Times‹ einmal über ›Book Handling‹ (Buchhandhabung) geschrieben. Sein Bekannter, der sehr vermögend und vulgär sei, kam auf den Gedanken, in seinem neu bezogenen Haus samt neu erworbener Gattin sich eine Bibliothek anzuschaffen, weil er meinte, daß die meisten Menschen von Rang und Ansehen jede Menge Bücher im Haus stehen haben müssen und er von dem Wunsch erfüllt war, daß seine Bekannten bei einem Blick auf die Büchersammlung darauf schließen müßten, daß er ein Intellektueller sei. (Lassen wir die Frage unerörtert, ob das wirklich ein so erstrebenswerter Zustand ist.) Er bezahlte daher einen Mittelsmann dafür, mehrere Bücherschränke zu besorgen und sie mit Büchern aller Art vollzustopfen. Keines der Bücher wurde jemals aufgeschlagen, geschweige denn gelesen. Das brachte O’Brien auf den Gedanken der Buchhandhabung. Er teilte diese in vier Qualitätskategorien und Preisstufen ein: ›Popular Handling‹, ›Premier Handling‹, ›De Luxe Handling‹ und ›Le Traitement Superbe‹. Während die ersten drei Handhabungen alle das Zerknittern der Seiten und mehrere Eselsohren enthält und es auch handschriftliche Anmerkungen am Seitenrand (Glossen) einschließt, und gewisse andere Extras mehr (Hinterlegen alter Theater-Eintrittskarten zum Beispiel), so sticht ›Le Traitement Superbe‹ hervor durch ganz besonders gründliches Traktieren des Bandes, doch vor allem ist hervorhebenswert die Tatsache, daß in nicht weniger als fünfzig Prozent der Buchtext unterstrichen wird und am Rand eine angemessene Redensart gekritzelt wird, zum Beispiel: »Sehr gut! Wie wahr!« oder »Da bin ich aber ganz anderer Meinung!« oder auch, für den ausgewiesenen Kenner unter den Besuchern: »Ebendies hat mir vor Jahren der arme Joyce gesagt!« Das ist aber noch nicht alles. Auch Dankesbezeugungen werden beigefügt, wie etwa: »Deine unschätzbar wertvollen Vorschläge und Dein Beistand – die Freundlichkeit gar nicht zu erwähnen, die DU an den Tag legtest, als Du das gesamte 3. Kapitel umgeschrieben hast – all das berechtigt dich wie keinen anderen zu diesem ersten Exemplar von ›Tess‹. Dein alter Freund Thomas Hardy.« Damit wird der in ihrer Wohnung herbestellte Heizungsmonteur naturgemäß nicht viel anfangen können, aber der Hochschulabsolvent, der vornehmlich in einem geisteswissenschaftlichen Fach sein Studium abgeschlossen hat, wird schon mit einem gewissen bitteren Geschmack im Mund ihre Wohnung wieder verlassen.
Nun aber wird in den USA diese aufwendige und Kosten verursachende Buchhandhabung nicht mehr erforderlich sein, denn die ausgehöhlten Buchattrappen, die nun in vielen Wohnungen von prätentiösen Zeitgenossen Eingang finden, sind bereits präpariert und sollen durch schiere Präsenz Eindruck schinden. Ganz besonders gefragt sind diese seelenlosen Objekte für die seit der Pandemie beliebt gewordenen Sitzungen mit ›Zoom‹, dem Videodienst für Konferenzschaltungen oder Zweierbesprechungen. Denn man möchte mit einer repräsentativen Bücherwand im Rücken dem aus der Ferne ins eigene Wohnzimmer schauenden Tele-Gast damit zu verstehen geben, daß man sich vorrangig als Kulturmenschen definiert. Der Witz der ganzen Geschichte besteht darin, daß diese toten Attrappen einmal richtige Bücher waren, aber bevor man sie auf eine Müllkippe schüttet, werden sie industriell zu Vorzeige-Büchern umgepreßt. Für den ganz besonders ausgefallenen Geschmack werden auch Buchrücken produziert, auf denen statt der Namen wirklicher Autoren die Namen von Familienmitgliedern zu lesen sind. Das kommt dann dem Vorgang gleich, wenn man gegen Geld einen Adelstitel bei einem Titelhändler einkauft. Die Zeiten, als Adel eine Verpflichtung war, sind seit langem vorbei.