»Bubi!« . . . dies Wort, aus dem Munde meiner Vaterschwester Fanni war meiner Jugend Qual. Sie war die Vorsitzende des Vereins Frauenwohl, kämpfte für aktives und passives Wahlrecht, für die Gleichberechtigung der Frau, verachtete die Männer und ließ ihre Verachtung an dem Jüngsten aus, ihrem heranwachsenden Neffen. »Das haben natürlich Männer gemacht«, sagte sie; und dann war die Angelegenheit abgelehnt. (Theodor Lessing: Bubi, 1929)

Das Telefon läutet für Politiker immer dann, wenn ein Journalist meint, er müsse etwas O-Ton in seinen Artikel bringen. Als ein berühmter Choreograf unlängst einer Kritikerin Hundekot ins Gesicht schmierte, lag der Ernstfall vor. Es klingelte bei allen Parteien des hannoverschen Raums. Auch zwei Damen aus zwei Parteien mußten ›Stellung nehmen‹. Da bleibt keine Zeit zum Überlegen, es muß schnell gehen und wie aus der Pistole geschossen eine Meinung zum Tagesthema hervorgebracht werden. Die Dame der SPD sagte: »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«. Insbesondere? Es ist, als ob die Lokalpolitikerin aus dem Nichts eine dualistische Empfindsamkeitsideologie erfunden hätte. Man findet den Zugang zu einer solchen Äußerung nur, wenn man ein in der Dame unbewußt agierendes Axiom zugrunde legt. »Männer sind Schweine.« Das ist zwar schlicht gedacht, aber eingängig, und es hilft dabei, zu verstehen, weshalb es »insbesondere für eine Frau« entwürdigend sein soll, Fäkalien im Gesicht ertragen zu müssen. Denn Schweine mit ihren großen Schnauzen wühlen ja gewohnheitsmäßig im Schmutz, wo sie Eßbares suchen. Sie kennen es nicht anders, es ist ihr Lebensstil. Bei der Schweinepopulation unterscheidet man zwischen dem Eber und der Sau, die, wie man in Wildschweingehegen gut beobachten kann, wie ihr männliches Pendant mit der Schnauze im Schlamm wühlt und dort nach Eicheln gräbt. Doch wir Menschenschweine sehen uns als etwas Besseres an im Vergleich zu den ordinären Schweinen, und Frauen, die etwas auf sich halten, wollen sich heute auch dadurch von ihren konträren Geschlechtsgenossen unterscheiden, indem sie, wenn der Journalist bei ihnen anklingelt, sagen:  »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«.

Die Vorsitzende der grünen Partei war im Vorteil, denn sie hatte Zeit, um sich den Vorfall durch den Kopf gehen zu lassen, und so schrieb sie auf ›Facebook‹: »Leider müssen wir auch hier wieder über das Patriarchat und toxische Männlichkeit sprechen.« Wie man sieht, ist die Zeitverzögerung nicht immer ein Vorteil bei der Urteilsbildung, denn hier behilft man sich mit dem Einschnappen eines Mechanismus, der bereits vorhanden ist und bei passender Gelegenheit ausgelöst wird.  Wir wissen seit Adam Smiths ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759), daß der Mensch zwar als egoistisch gilt, aber nicht ausschließlich, »es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen«. Ein Prinzip dieser Anteilnahme ist das Mitleid, also das Gefühl, »das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können.« Wer die Würde des Menschen auf die eine Hälfte des Menschengeschlechts einschränkt, indem er der anderen Hälfte gewissermaßen eine reduzierte Empfindsamkeit unterstellt, dokumentiert zwar das Mitleid mit der geschädigten Person, aber nur auf Kosten einer inhumanen Attitüde. Wer bei einen Einzelfall, der individuell zu bewerten ist, sogleich mit einem schematischen Aburteilungsmechanismus reagiert (Patriarchat, toxische Männlichkeit), läßt das Individuum verschwinden in einem soziologischen Phantom in dem alle Vorurteile Platz haben, die man im Laufe seiner eigenen ideologischen Mentalitätsgeschichte angehäuft hat. »Das haben natürlich Männer gemacht!«

Den Text ›Bubi‹ können Sie vollständig hören, gelesen von Ernst-August Schepmann, auf dieser Website unter der Rubrik:
›Audio – »Hallo, hier spricht Theodor Lessing«