Glaube, subst. masc. – Dinge für wahr halten, für die es keine Parallele und keinen Beweis gibt und die jemand verkündet, der über kein Wissen verfügt. (Ambrose Bierce: The Devil’s Dictionary, 1911)

A: Ach, na so was! Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Wie geht’s denn so?

B: Hach! Ich bin noch ganz aufgewühlt, diese letzten Tage haben mich ganz schön mitgenommen.

A: Geburtstag? Hochzeit? Kindstaufe?

B: Viel besser! Kirchentag! In Hannover. Eigentlich Kirchentage, denn es ging ja über fünf Tage. 1500 Veranstaltungsangebote! Kaum zu schaffen, selbst wenn man alles vorher genau durchgerechnet hätte. Aber es war doch schön, dieses Gemeinschaftsgefühl, von dem auch die Menschen auf den Straßen und die Lokalzeitung täglich berichtet haben. Das Blatt brachte ein E-Paper-Spezial zur Eröffnung heraus mit der in Großbuchstaben gesetzten Schlagzeile: ›JA, WIR GLAUBEN DRAN!‹

A: Ja, die Journalisten, sie glauben dran, und müssen nie daran glauben, wenn sie etwas publiziert haben. Ich sehe, Sie haben da auch so einen blutroten Schal um den Hals hängen. Was steht denn da drauf? Ich kann es nicht lesen.

B: Zunächst einmal ist das nicht blutrot, denn wir gehören nicht zu den Kommunisten, für die ist die blutrote Fahne Pflicht. Das ist der Kirchentagsschal in rubinrot. Ist der nicht schick? Und die drei Wörter auf dem Schal, der übrigens zu hundert Prozent aus nachhaltiger, ökologisch angebauter Baumwolle besteht, lauten: »Mutig, stark, beherzt.« Das ist dem ersten Korintherbrief entnommen, Kapitel 16, Verse 13 und 14: »Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge laßt in der Liebe geschehen!« Aus Liebe wurde dann Herz, das paßt doch sehr gut, und das ist dann als »beherzt« noch hinzugefügt worden, weil drei Worte hintereinander immer besser klingen als zwei.

A: Sie meinen, wie in: »Glauben, gehorchen, kämpfen«, die Parole der italienischen Faschisten? Oder: »Ein Volk, ein Staat, ein Führer«, der Parole des deutschen Nationalsozialismus? Also ein Aktionsangebot an jeden Christenmenschen, selbst tätig zu werden und nicht darauf zu warten, daß Gott alles für ihn erledigt. Vorausgesetzt, daß es Gott wirklich gibt.

B: Von Ihnen lasse ich mir meine gute Kirchentagslaune nicht verderben! Ihnen fehlt das Gottvertrauen, das man gerade in unserer heutigen, unruhigen Zeit haben muß.

A: Mit aller Bescheidenheit gefragt: Wann gab es jemals ruhige Zeiten und wann gab es nicht zu allen Zeiten seit Bestehen des Christentums Redner, die sich auf das Gottvertrauen berufen haben. Wie ich höre, hat die ehemalige Bundeskanzlerin auf einer Veranstaltung gesagt: »Gottvertrauen, Vertrauen in Jesus, in den Glauben, hat mir oft geholfen.« Das ist doch ein ganz alter Hut, mit dem man immer kommt, wenn man nichts anderes mehr zu sagen weiß. Die Berufung auf das Höhere! Du liebe Zeit. Diese ehemalige Kanzlerin hat doch, als sie im Amt war und die vielen Flüchtlinge vor der Tür standen, nicht aus christlicher Nächstenliebe die Grenzen öffnen lassen, sondern weil sie wußte, daß es ihr politisch sehr schaden würde, wenn sie als ehemalige DDR-Bürgerin sich geweigert hätte, die Flüchtlinge hereinzulassen, wo sie selbst ja einmal um Asyl gebeten hat. Das hätte man ihr immer vorgehalten, und deshalb hat sie einfach behauptet: »Wir schaffen das.«. Was heißt hier wir? Das ist unglaublich, wenn man bedenkt, daß sie als Privatperson mit all den Problemen, die diese große Zahl an Flüchtlingen im ganzen Land geschaffen haben, überhaupt nichts zu schaffen hatte. Sie sitzt in ihrer Berliner Privatwohnung und berauscht sich am Neuen Testament, aber wie es in den Stadtbezirken zugeht, wo dicht an dicht die Flüchtlinge einquartiert worden sind, das interessiert diese Person nicht die Bohne. Und dann trumpft sie auf dem Kirchentag noch auf und sagt: »Darauf können wir stolz sein. Lassen wir uns das nicht nehmen.« Ebenso stolz auf das von ihm Erreichte ist der bald aus dem Amt scheidende Bundeskanzler, der auf dem Kirchentag sagte, »ich denke schon, daß ich überwiegend das Richtige getan habe.« Man könnte beinahe sprachlos werden gegenüber so viel unbefangener Selbstgerechtigkeit. Aber nur von sich so ungeheuer eingenommene Personen können es wohl bis an die Spitze eines Amtes schaffen.

B: Ja, das sind politische Fragen, die wurden auf dem Kirchentag natürlich auch erörtert, aber mich und die meisten der Besucherinnen und Besucher waren an den vielen Veranstaltungen interessiert. Das Angebot war überwältigend. Da war für jeden was dabei. Da Sie gerade die Kanzlerin erwähnt haben: Die hat an einer ›Bibelarbeit‹ teilgenommen, da wurde ein Stück aus dem 7. Kapitel des Markusevangeliums, nämlich die Austreibung eines Dämons durch Jesus, behandelt. Großartig, wie sie das hinbekommen hat. Aber zu den Angeboten: da gab es jede Menge Musik. In der Christuskirche wurde zweiundsiebzig Stunden lang in einem fort gesungen! Eine beachtliche Leistung! Geradezu sportliches Format hatte das. Und für die jüngeren Leute gab es ›Techno-beats‹ und dazu konnten sie sich segnen lassen. ›DJ-Segen‹ nannte sich das.

A: Was für eine Profanierung!

B: Nun haben Sie sich nicht so, die Kirche darf sich der Gegenwart und der Mode nicht verschließen und wir brauchen die Jugend doch, damit sie den christlichen Glauben in die nächste Generation weiterträgt. Deshalb wurde auch ein ›Taylor-Swift-Gottesdienst› eingerichtet, unter dem Motto »Take me to church, Taylor«. Dieses Event war sofort ausverkauft. Da sehen Sie, wie solche Modernisierungsvorstöße doch ihre Wirkung zeigen.

A: Hoffentlich haben die Fans von Taylor Swift nicht geglaubt, daß sie tatsächlich selbst zu diesem Konzert erscheinen wird. Das wäre doch eine herbe Enttäuschung für sie geworden. Sie wären sicher fast vom Glauben abgefallen.

B: Machen Sie nur ihre dummen Witze, das ficht mich nicht an. Es war eine bombenmäßige Stimmung in der Stadt, eine Polizistin hat Hannovers Superintendenten gefragt – das habe ich in meiner Heimatzeitung gelesen – ob nicht jeden Tag Kirchentag sein könnte.

A: Diese Polizistin mußte nicht –  wie wir – Behinderungen im Straßenverkehr auf sich nehmen, langes Warten auf den Bus und zahlreiche Absperrungen. Würde das das ganze Jahr in Hannover so sein, dann müßten sich die Einwohner eine andere Stadt suchen und Hannover diesen Christenmenschen als Spielplatz überlassen. Was mich höchstens interessiert hätte, das wären diese Straßenredner gewesen, die sich bei solchen Veranstaltungen immer einfinden, verlorene Seelen, die im religiösen Überschwang aus vollem Herzen sprechen von Sünde und Teufel und den Zuhörern ins Gewissen reden. Da wird nichts gesegnet, da verausgabt sich vielmehr ein einzelner im tiefen Glauben an seine wirren Worte, wie man das seit 1872 auch in London an der ›Speaker’s Corner‹ erleben kann. Aber als ich um elf Uhr am Samstagabend im Bett lag und zu schlafen versuchte, drangen plötzlich helle Stimmen an mein Ohr. Die Fenster meines Schlafzimmers waren geschlossen, aber es klang so laut, als ob sie geöffnet wären. Ich stand auf, öffnete eines der Fenster, und da war er: ein vielstimmiger Chor, der irgendein den christlichen Glauben hochpeitschendes Lied intonierte. Noch völlig berauscht vom zurückliegenden Kirchentagserlebnis grölten diese Jugendlichen in die Stille der Nacht hinein, gänzlich uninteressiert an der Nachtruhe ihrer Mitmenschen. 

B: (fängt an zu singen): »Laß doch der Jugend ihren Lauf, laß doch der Jugend ihren Lauf!« (räuspert sich). Entschuldigen Sie, ich habe mich hinreißen lassen. »Singen, beten und Haltung zeigen«, das war doch eine der Devisen auf dem Kirchentag. Seien Sie nicht nachtragend, Sie sind doch auch einmal jung gewesen und haben vielleicht damals ›I can’t get no satisfaction‹ auf ihrem Plattenspieler laufen lassen, so daß die Nachbarn vor Schreck aus ihren Betten gefallen sind. Aber jetzt etwas ganz Tolles vom Kirchentag: Die Spendendosen mußten während des Tages mehrmals geleert werden, so bereitwillig haben die hier versammelten Menschen Geld gegeben.

A: Da sind uns die Amerikaner weit voraus. Das beherrschen sie aus dem Eff-Eff. Diese Geldkirchen, die mit ihren rund um die Uhr laufenden Fernsehpredigten den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Das läuft da wie am Schnürchen.

B: Unterlassen Sie doch diese schiefen Vergleiche! Die Spenden sind doch nicht für geldgierige Fernsehprediger bestimmt gewesen, sondern waren freiwillige Beiträge zur Finanzierung eines Tellers Curry mit Reis, der im Kirchen-Vesper-Zelt ausgegeben wurde. Und diese Hilfsbereitschaft überall! Als ein alter Mann mit Rollator in eine überfüllte Straßenbahn eingestiegen ist, sind sofort fünf Pfadfinder aufgestanden und haben ihm einen Platz angeboten. Oder zwei alte Damen, die Arm in Arm gingen, die eine war blind, die andere führte sie durch die Messehalle, als wären es zwei alte Bekannte. Doch dann habe ich gehört, wie die blinde Dame zur anderen Dame sagte: »Ich komme aus Hessen, und Sie?« Sie waren sich eben erst begegnet! Das sind doch regelrechte Bibelszenen, denen man beiwohnen durfte!

A: Mir kommen die Tränen. Verschonen Sie mich mit diesen kitschigen Geschichten.

B: Die Landessuperintendentin des Kirchenkreises Burgdorf hat vor dem niedersächsischen Landtag die dort versammelten Gläubigen gesegnet und erzählte mir später: »Ich hatte hier vorhin eine Dame, die sehr unsicher wirkte. Nach dem Segen sagte sie, daß es sehr schön war. Erst später erfuhr ich, daß sie Autistin ist. Solche Momente, diese direkte Begegnung, das ist wirklich berührend.«

A: Hören Sie sich eigentlich selber zu, wenn Sie reden? Es mag ja sein, daß sich diese Geschichte so abgespielt hat, aber dann würde es doch ausreichen, wenn die Landessuperintendentin das für sich behält, aber nein, sie muß es ausposaunen, denn für die Kirche verwandelt sich alles in eine Botschaft. Wenn in diesem Fall eine Autistin sich entgegen der gewöhnlichen Erwartung verhält, wird daraus sofort eine Art Wunder. Denn davon schmarotzen alle Religionen und Kirchen der Welt, vom Wunder.

B: Es gab für die Kinder auch eine Hüpfburgkirche! Ist das schön? Man muß den Menschen doch entgegenkommen. Sie dort abholen, wo sie sind und leben. 

A: »Das Kinderspielzeug Christentum«, wie John Updike es beschrieben hat! Hören Sie sich mal diese Zahlen an: Das Land Niedersachsen hat 7 Millionen Euro und die Stadt Hannover hat 4 Millionen Euro für die Finanzierung dieses Kirchentags gegeben. Die ›Giordano-Bruno-Stiftung‹ hat mit einem Stand auf dem Kirchentag diese Verschwendung von Steuergeldern angeprangert. Völlig zu recht. Vermutlich hat der Kirchentag darum auch dem niedersächsischen Ministerpräsidenten die Möglichkeit gegeben, sich vor Publikum befragen zu lassen, um dann mit solchen Einsichten die Zuhörerschaft zu fesseln: »Gerade in christlichen Gemeinden gibt es wahnsinnig viel Gemeinsinn.« Dafür sind die 7 Millionen Euro dann doch gut angelegt worden, um dem Volk solche Weisheiten zu vermitteln. Ich hätte es im übrigen besser gefunden, wenn wirklich harte Diskurse stattgefunden hätten, so in der Art: Religion gegen Philosophie. Und zwar der Philosophie, die mit Lukrez beginnt und über David Hume und Ludwig Feuerbach bei Friedrich Nietzsche enden, oder da erst richtig beginnen. Da wäre die christliche Religion ein bißchen ins Schwitzen geraten, aber nein, man läßt eine Politikerin im Ruhestand eine Bibelstelle zu ihren Gunsten auslegen und das versammelte Schafsvolk blökt Beifall. Oder wenn man, anstatt in der Christuskirche zweiundsiebzig Stunden Dauergesang erschallen zu lassen, einige zentrale Werke von John Updike im Ganzen vorgelesen hätte. Der hat in allen seinen Romanen Glauben und Gott behandelt, aber zaftig, um es mal auf jiddisch zu sagen. Ich will hier nicht irgendeine der vielen einschlägigen Passagen zitieren, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen, wo Sie doch gerade so erfüllt sind vom überirdischen Gemeinschaftserlebnis. Doch halt, eine Passage möchte ich doch zum besten geben, aus dem schmalen Roman ›Der Sonntagsmonat‹ (1975), in dessen Mittelpunkt ein amerikanischer Pfarrer steht, der von den verheirateten Frauen seiner Gemeinde immer wieder um Rat gefragt wird und dann, es läßt sich therapeutisch nicht vermeiden, Sex mit ihnen hat. »Und ich schlief mit einigen, wenigen, um mich nützlich zu machen. Die weinende Teenagerbraut, die nie einen Orgasmus hatte, und die hagere geschiedene Frau, bei der die Ergüsse nicht aufhörten, und die halbe Nonne, die auf das Abendmahl und die Gegenwart Jesu Christi und alles, was mit Frömmigkeit erfüllt, versessen war, alle flehten mich um Berührung an.« Schon im ersten großen Roman von Updike, ›Couples‹ (1968), geht es unentwegt um Gemeinschaftserlebnisse, indem die beiden befreundeten Ehepaare wechselweise sehr, sehr lieb zueinander sind, um noch mehr Gemeinschaftsgefühle zu erzeugen. Also gut: Nach ihrem biblischen Verständnis wird das sechste Gebot gebrochen, aber im gegenseitigen Einvernehmen, im Inneren einer Erwachsenenhüpfburg, gewissermaßen. Aber das kann ich Ihnen sagen, die Figuren in diesen Romanen von Updike sind ganz sicher nicht immer mutig und stark, aber daß sie stets beherzt zur Sache gegangen sind, das kann man ihnen guten Gewissens nachsagen.

B: Sie widern mich an, Sie perverses Schwein.

A: Ich darf aus Ihrer Reaktion entnehmen, daß Sie mit dem Inhalt der Romane von John Updike durchaus vertraut sind.

B: Verschwinden Sie, ich will mit Ihnen nicht mehr reden.

A: Erinnern Sie sich denn nicht an die Begrüßungsworte des Bundespräsidenten bei der Eröffnung des Kirchentages? »Wenn hier auch gestritten wird, dann ist das kein Anlaß zur Beunruhigung.« Auf einer der ›Bibelarbeit‹-Veranstaltungen hat die mit sehr viel jugendlichem Sendungsbewußtsein ausgestattete ›Klimaaktivistin‹ Luisa Neubauer gesagt: »In einer Zeit, in der sich so viele Menschen klein und kraftlos fühlen, finde ich es gerade wichtig, aufzustehen und zu widersprechen. Wir geben den Mut weiter, und dann trauen sich mehr Menschen, auch zu widersprechen.«

B: Auf Ihren Widerspruch lege ich keinen Wert. Sie bewegen sich außerhalb jeglicher gesitteter Wertordnung. Fahren Sie zur Hölle!

A: Das ist doch meine Rede, treten Sie ein in die Hölle, der Teufel ist doch so viel interessanter als Gott, amüsanter und mental nicht so befangen wie ein vom Gemeinschaftsgefühl besoffener Christenmensch, der mit einer brennenden Kerze durch eine deutsche Innenstadt rennt. Das schönste Gedicht über den Teufel und die Hölle hat Fritz Grünbaum, der österreichisch-jüdische Kabarettist, Schauspieler und Conférencier geschrieben. Er wurde 1880 geboren und 1941 von den Nazis im KZ Dachau ermordet. Hören Sie sich nur diesen Auszug an (deklamiert):

FRITZ GRÜNBAUM
Vom Teufel

Ich hab’ einen innigen Wunsch, einen frommen:
Ich möcht‘, wenn ich sterb’, in die Hölle kommen!
Schütteln Sie nicht so Ihr weises Haupt,
Die Hölle ist reizender als man es glaubt!
Bedenken Sie, bitte, vor allem nur
Die angenehm-mollige Temperatur!
[…]
Doch das, was man nirgends so fesch sich und schnell schafft,
Wie nur in der Hölle, das ist – die Gesellschaft!
[…]
Damen gibt’s da, so entzückend gebaut,
So eine Mitte von Witwe und Braut.
[…]
Sie sind ordinär und entsetzlich galant,
Schrecklich verlumpt, aber – amüsant!
[…]
So hab‘ ich bewiesen an dieser Stelle,
Das Schönste auf Erden ist doch die Hölle:
Die Leut‘ haben Temperament dort und Charme,
Das Klima ist angenehm, milde und warm;
Die Kleidung ist praktisch, kein Schneider will Geld,
Es ist eine reizend-gemütliche Welt,
Drum seufz‘ ich im Stillen oft: »Gott befohl’n,
Möcht‘ mich nur endlich der Teufel hol’n!«