A: Ja, da sind Sie ja, ich habe schon auf Sie gewartet. Alles bereit für den großen Tag?
B: Wie man’s nimmt. Für meine Kinder ist ›Halloween‹ durchaus ein großer Tag, auch wenn es jedes Jahr immer teurer für mich wird. Wußten Sie, daß es mittlerweile Leute in der Nachbarschaft gibt, die ›Halloween‹ ganz kommerziell aufgezogen haben? So gibt es bei uns ein Gelände, das mit selbst gebauten Grabsteinen, Skeletten und einer Guillotine ausgestattet ist. Das ist noch kostenfrei, aber auf einem Nachbargrundstück müssen Sie zwölf Euro hinlegen, um sich ordentlich zu gruseln. Das nennt sich ›Hardcore-Labyrinth‹, nur für Erwachsene. Man wird durch ein nächtliches Maisfeld geführt und engagierte ›Erschrecker‹ springen plötzlich aus dem Dunkel hervor und es gibt sogar Entführungen, bei denen man erst wieder freikommt, wenn man eine Reihe von Rätseln gelöst hat. Mich beschleicht einfach das Gefühl, daß hier der Besitzer eines S&M-Studios auf andere Art seinen Schnitt machen will. Ein berufsmäßiger Sadist. Da sagt der doch über seine Ambitionen: »Ich überlege, wie ich verschiedene Typen knacken kann – die Ängstlichen, die Coolen, die Poser.« Unangenehme Person, deshalb habe ich auch meine Mitgliedschaft in diesem Club gekündigt.
A: Was reden Sie da bloß? Glauben Sie, ich feiere diesen widerlichen amerikanischen Tag, an dem sich die Menschen bewußt infantilisieren und ihr bißchen Geld für solchen Blödsinn verschwenden?
B: Aber, aber, das ist doch alles für die Kinder, glauben Sie mir. Ich habe jedes Jahr an diesem Tag eine riesengroße Schale mit Süßigkeiten neben der Wohnungstür stehen, und wenn dann die gruselig verkleideten Kinder aus der Nachbarschaft bei mir klingeln, kriegt jeder etwas in den aufgehaltenen Beutel. Bei uns hängen auch keine künstlichen Leichen vor der Eingangstür und vor unserem Haus stehen keine Werwolf-Puppen.
A: Jetzt reicht es aber! Heute ist Reformationstag, Sie ungläubiger Thomas! Schon mal davon gehört? Offensichtlich nicht. Nun ja, Sie sind ja auch ein wesentlich jünger als ich und man kann nicht davon ausgehen, daß in den Schulen noch ordentlicher Religionsunterricht stattfindet. Aber seit 2018 ist der Reformationstag gesetzlicher Feiertag in Niedersachsen. Das war aber auch höchste Zeit, wenn man bedenkt, wieviele Feiertage es in den katholisch dominierten Bundesländern gibt. Die Katholiken wußten von jeher, wie man sich vor der Arbeit drückt. Nun sind wir Protestanten auch einmal an der Reihe, ähm, ich meine natürlich nicht, um uns vor der Arbeit zu drücken, sondern um unserem Glauben in angemessener Weise öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Es geht jetzt gleich zur Kirche.
B: Ach so, diese Nummer meinen Sie. Dieser Luther hat das doch damals veranlaßt, diese Reformation.
A: Mein lieber Herr Gesangsverein, nun nehmen Sie sich aber mal zusammen. So spricht man nicht über eine der bedeutendsten Gestalten der deutschen Geistes- und Religionsgeschichte! Es hat schwerer Kämpfe bedurft, die Reformation durchzusetzen! Das war ja kein Gesetzesentwurf, der in einem Parlament nach einer Mehrheit gesucht hat, das war harter, entbehrungsreicher Glaubenskampf, bei dem viele unserer Glaubensbrüder am Wegesrand liegengeblieben sind. Und diese andauernden Anfeindungen bis heute! Jetzt haben doch tatsächlich die Unternehmerverbände verlangt, den gerade erst eingeführten Reformationstag wieder abzuschaffen. Nun hören Sie sich diese Stellungnahme des Hauptgeschäftsführers der Unternehmerverbände Niedersachsen an: »Der Reformationstag ist ein Wahlgeschenk zu Lasten Dritter, nämlich der niedersächsischen Arbeitgeber. Dieser Tag kostet die Wirtschaft jedes Jahr aufs Neue Geld und Kapazität.« Und was sagt die Industrie- und Handelskammer dazu? »Zusätzliche Feiertage führen regelmäßig zu meßbaren Produktivitätsverlusten und erhöhen die Kostenbelastung für die Unternehmen.« Ja, wes Brot ich eß, des Lied ich sing.
B: Mmhh, lassen Sie mich mal sehen (holt sein Smartphone heraus und tippt rasch etwas ein.) Aha! An diesem Tag sind Tanz-, Sport- und Zirkusveranstaltungen, Filmvorführungen, der Betrieb von Spielhallen, bis 13 Uhr auch der DVD-Verleih oder der Betrieb von Autowaschanlagen verboten. Kurios, besonders das mit den Autowaschanlagen. Darauf muß man erst mal kommen.
A: Jaja, lassen wir diese stupiden Vorschriften beiseite, das interessiert mich jetzt ganz und gar nicht. Daß die Kapitaleigentümer dieses Landes ausgerechnet den Reformationstag abschaffen wollen, ist ein Skandal, der durch ihre Unwissenheit nur noch schlimmer gemacht wird. Denn ohne den Protestantismus gäbe es keinen Kapitalismus.
B: Ach was!
A: Ja, und ich habe hier die berühmte Schrift des deutschen Soziologen Max Weber, die das beweist. Sie heißt ›Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus‹. Und jetzt stürmen wir die Empore der Apostelkirche und ich lese den dort Versammelten diese Stellen aus Max Webers Schrift vor. Die werden vielleicht staunen. Aber das soll ja auch so sein. Wir gläubigen Protestanten protestieren damit gegen den Versuch der niedersächsischen Kapitalisten, unseren Reformationstag wieder abzuschaffen im Namen ihres privaten Profits. Ohne uns wären diese Damen und Herren Charaktermasken gar nicht denkmöglich. Auf geht’s. (Sie betreten die Apostelkirche und steigen zur Empore hinauf. Herr A stellt sich an den Rand der Empore, zieht seine Fotokopien von ›Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus‹ hervor und beginnt damit, den Text vorzulesen):
»Ein Blick in die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes pflegt mit auffallender Häufigkeit eine Erscheinung zu zeigen, welche mehrfach in der katholischen Presse und auf den Katholikentagen Deutschlands lebhaft erörtert worden ist: den ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes. Fast überall da, wo überhaupt die kapitalistische Entwicklung in der Zeit ihres Aufblühens freie Hand hatte, die Bevölkerung nach ihren Bedürfnissen sozial umzuschichten und beruflich zu gliedern, finden wir jene Erscheinung in den Zahlen der Konfessionsstatistik ausgeprägt. Gerade eine große Zahl der reichsten, durch Natur oder Verkehrslage begünstigten und wirtschaftlich entwickeltsten Gebiete des Reiches, insbesondere aber die Mehrzahl der reichen Städte, hatten sich aber im 16. Jahrhundert dem Protestantismus zugewendet und die Nachwirkungen davon kommen den Protestanten noch heute im ökonomischen Kampf ums Dasein zugute. Es entsteht aber alsdann die historische Frage: welchen Grund hatte diese besonders starke Prädisposition der ökonomisch entwickeltsten Gebiete für eine kirchliche Revolution? Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig von kirchlich-religiöser Beherrschung des Lebens war es ja, was gerade diejenigen Reformatoren, welche in den ökonomisch entwickeltsten Ländern erstanden, zu tadeln fanden. (Mittlerweile sind Kirchenbedienstete auf die Empore geeilt und zerren, bisher vergeblich, an Herrn A, der unbeirrt weiter aus Max Webers Schrift liest und nun, unter äußerster Bedrängnis, mit lauter Stimme in den Raum der Kirche ruft): Hier stehe ich, ich kann nicht anders! (Während die Kirchendiener nun Herrn A fest im Griff haben, übernimmt Herr B das Kommando, hält sich die ihm zuvor von Herrn A zugesteckte Fotokopie einer Passage aus dem ersten Band des ›Kapital‹ von Karl Marx, 1867 erschienen, vor die Augen und liest ab: »Der Kapitalist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tageswert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswert während eines Arbeitstags. Er hat also das Recht erlangt, den Arbeiter während eines Tags für sich arbeiten zu lassen. Aber was ist ein Arbeitstag? Jedenfalls weniger als ein natürlicher Lebenstag. Um wieviel? Der Kapitalist hat seine eigne Ansicht über die notwendige Schranke des Arbeitstags. Die Verlängrung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion. Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Die ökonomischen Charaktermasken der Personen sind nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Verlängrung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion. (Herr B ist sichtlich aufgeregt, zumal das Wort ›Vampyr‹ hat ihn in Feiertagsstimmung versetzt, und beglückt über die Gelegenheit, am Reformationstag dieses Wort öffentlich zur Kenntnis zu bringen, ruft er nach unten, in die inzwischen stehende Kirchengemeinde): Happy Halloween!