Eigentlich hat nur jedes Schöne ein einzigmal in voller Gewalt ins uns gelebt. Wenn im Theater der Vorhang aufgeht, oder wenn wir von einem Orchester die ersten Takte hören, so erleiden wir eine unbewußte Einstellung, welche sozusagen als Tendenz zur Assimilation aller folgenden Eindrücke in der Seele fortwirkt. (Theodor Lessing: Die Macht des Ersten, 1925)
Der erste Satz in einem Roman entscheidet darüber, ob man weiterliest. Das ist grausam, aber in vielen Fällen doch eine ganz zutreffende Feststellung. Es gibt allerdings Grenzen, die jeder Leser bei der Lektüre mitführt und die ihn manchmal am Weiterlesen hindern können. »Edek Zepler hatte früher immer polnische Mädchen gebumst.« So setzt der Roman ›Einfach so‹ (Just so, New York 1994) von Lily Brett ein. Es ist durchaus möglich, daß man hier stutzt und sich noch einmal die Kurzinformation zum Buch ganz vorne ansieht, um sicherzugehen, daß man nicht aus Versehen ins falsche Regal gegriffen hat. »Schwöre, daß du keine andere mehr fickst, oder es ist Schluß.« Das ist nicht der Folgesatz des Romans der relativ unbekannten Autorin, sondern der erste Satz des 1995 in New York erschienen Romans ›Sabath’s Theatre‹ von Philip Roth. Wer schon andere Bücher von diesem Autor gelesen hat, zumal seinen 1969 erschienenen, stark autobiographisch getönten Roman ›Portnoy’s Complaint‹, der wird kaum stutzen, sondern eher mit einem Wiedererkennungseffekt konfrontiert sein, ganz im Sinne von: »Er ist doch immer noch der Alte!«
Das ›Buch der Bücher‹ weiß aber auch, wie man effektvoll einsetzt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.« Da will man dann doch abwarten, was anschließend noch alles geschehen mag und wann endlich die ersten Menschen auftreten, ohne die die Erde ja doch eine langweilige Angelegenheit ist, allein wegen der zu erwartenden Konflikte und vielen Kriege, mit denen nicht nur die ersten Menschen sich die Zeit vertrieben haben. Die Verlage wollen natürlich, daß man, während man in der Buchhandlung browst und dort den ersten Satz einer Neuerscheinung liest, »daß man das Buch dann eben sofort zur Kasse schleppt, weil man gar nicht anders kann.« Damit wird der erste Satz zum Aufreißer, der den Kunden sofort zur Kasse bittet. Und der hinterher vielleicht über den weiteren Verlauf der Handlung enttäuscht sein kann, weil der erste Satz nicht das versprochen hat, was er anscheinend zu versprechen schien. »Ilsebill salzte nach.« Dieser erste Satz gewann bei einer literarischen Rundfrage den ersten Preis. Hat Günther Grass, von dem der Satz stammt (aus ›Der Butt‹, 1977), damit dem Leser ›Appetit gemacht‹? Wohl schon, denn der beschriebene Vorgang ist jedem Leser und Esser und Koch so sehr vertraut, daß man förmlich beim Lesen die Handbewegung nachzuahmen scheint, die zur Abrundung des Geschmacks einer Speise nötig ist. Es gibt für angehende Romanschriftsteller Ratschläge, wie man einen ersten Roman nicht nur schreiben sollte, sondern auch, wie man ihn beginnen lassen soll und sogar, wie man ihn nicht beginnen lassen sollte. Man solle auf keinen Fall einen Roman damit beginnen, daß der Protagonist im Bett liegt. Der Satz des folgenden Autors würde damit glatt durchfallen: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Marcel Proust läßt so seinen viele Bände umfassenden Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ (1913–1927) beginnen. Es mag viele Leser geben, die nicht bis zum Schluß durchgehalten haben, so als sei das Lesen eine sportliche Leistung, aber wer es getan hat, wird nicht nur diesen ersten Satz, sondern die vielen ihm nachfolgenden bewundern und sich gemerkt haben. Hier liegt der Fall eines Romans vor, wo man auch später immer wieder auf bemerkenswerte Formulierungen trifft, die das Mitschreiben lohnen. Und so gibt es nicht nur gute erste Sätze, die einen Roman einleiten, sondern ebenso auch gute letzte Sätze, die das Geschehen des Romans machtvoll ausklingen lassen, so wie bei Marcel Proust: »Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstren glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.«