Die Öffentliche Meinung ist die Religion der Neuzeit. Die Öffentliche Meinung tritt immer mit dem Anspruch auf, maßgebend zu sein, sie heischt Zustimmung und macht wenigstens das Schweigen, das Unterlassen des Widerspruchs zur Pflicht. Mit mehr oder weniger Erfolg; je vollkommener der Erfolg, um so mehr bewährt sie sich als die Öffentliche Meinung, trotz des mehr oder minder zum Schweigen gebrachten Widerspruchs. Nachdrücklich werde hier betont, daß die Ausdrucksmittel der Öffentlichen Meinung auch die Ausdrucksmittel der Religion sind, und in der Regel früher der Religion als der ihrem Wesen nach älteren Kulturmacht dienen. Dies gilt von jeder Art der Kunst, von bildenden und redenden Künsten, von Architektur und Tonkunst in hervorragendster Weise, dazu kommt aber, zuweilen überwältigend, die öffentliche Rede, die Predigt, und hinzukommen alle Ausdrucksmittel der Schrift und des Druckes, das Buch, die Flugschrift, die Revue und endlich die Zeitung. Aber nicht minder wirken im Sinne der Religion, wie schon angedeutet wurde, der Verein und die Versammlung, die Prozession, das Fest und die Geselligkeit. Man möchte sagen, daß die Öffentliche Meinung überall in den Bahnen wandelt, die ihr von der Religion vorgezeichnet wurden; wenn nicht den jüngeren proselytischen Religionen schon so vieles beigemischt wäre, was der Öffentlichen Meinung wesensverwandt ist. So ist auch die Mache, die planmäßige, ja gewaltsame Propaganda eine Methode, deren sich die Apostel der Religion wie die der Öffentlichen Meinung bedienen; und das Interesse mächtiger Personen, also der Fürsten, Staatsmänner und Eroberer, knüpft sich an die Ausbreitung politischer Lehren. Jede Art der Öffentlichen Meinung will, wie jede Art der Religion, diejenigen, die zu ihr gehören, verbinden, verpflichten. Alle ihre Ausdrucksmittel haben auch diesen Sinn, daß sie die Gesinnungen der Adepten einer »Meinungsschaft« auf die Probe stellen, wie fortwährend die Kirche und jede religiöse Gemeinde die Glieder ihrer Herde beobachtet, ob sie ihre Pflichten erfüllen. Die abweichende Meinung als Sünde zu verfemen, ist der echten Öffentlichen Meinung mit der Religion gemein; auch wenn beiden nur daran gelegen ist, daß solche abweichende Meinung nicht ausgesprochen, insonderheit nicht verbreitet (»propagiert«) werde, so geht doch die Schätzung, also die Verwerfung, unmittelbar auf die Hegung der Meinung, sie ist die »materia peccans«, und der Richter ist beflissen, sie auf bösen Willen, auf Verstocktheit des Herzens, auf Verschließung des Gemütes gegen die Wahrheit, zurückzuführen. Die Öffentliche Meinung ist in der Regel duldsam in bezug auf religiöse Vorstellungen, aber sie ist in den Gebieten, worauf sie größeren Wert legt, ebenso unduldsam wie irgendeine Religion. Die Religion will die Seelen beherrschen und macht darauf Anspruch, die innerste Gesinnung, ob sie dem Gotte wohlgefällig sei oder nicht, zu erforschen; dem dient auch eine Einrichtung wie die Beichte. Die Öffentliche Meinung hält sich an die Erscheinung, an das Offenbare und Offenkundige, daher auch leicht an den bloßen Schein und läßt sich oft durch den Schein täuschen. Sie will auch im Sittlichen das Vorgeschriebene, das Regelmäßige, das Korrekte. In allen diesen Beziehungen verhalten sich sowohl Religion als Öffentliche Meinung 1. wünschend und verwünschend, billigend und mißbilligend, lobend und tadelnd, bewundernd und verachtend, 2. heischend und hemmend, ge- und verbietend, fordernd und verwehrend, 3. richtend und vergeltend, also freisprechend und verurteilend, belohnend und bestrafend. Vielmehr verlangt die Öffentliche Meinung von jedem, der auf eine führende Stellung in der Gesellschaft oder im Staat Anspruch macht, Bekenntnis zu den »richtigen« (»korrekten«) Meinungen oder wenigstens Vermeiden des Widerspruchs dagegen und ächtet also die Kundgebung entgegenstehender, ungehöriger Ansichten. Die Zukunft der Öffentlichen Meinung ist die Zukunft der Kultur. (Ferdinand Tönnies: Kritik der Öffentlichen Meinung, 1922)