Vom Erfolge hochgetragen wird derjenige, der den Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Nöten einer Landschaft, Gruppenschaft zum Sprachrohr, Sturmbock, Symbole dient. Da weiß man freilich nie: Hat dieser Mann Geschichte gemacht? Oder: Ist dieser Mann von Geschichte gemacht worden? (Theodor Lessing, 1924)
A.: Haben Sie das gelesen? Der bayerische Ministerpräsident will einen Platz in der Geschichte haben.
B.: Einen Platz in der Geschichte? Wo soll der zu finden sein?
A.: Sie müssen sich angewöhnen, sich in die Mentalität dieser Leute zu versetzen. Die Geschichte, das ist die ›Geschichte‹, das ist der Platz, wo man sitzt, auch wenn man schon längst liegt, tot, in einem Grab.
B.: Ach, und das interessiert den bayerischen Ministerpräsidenten? Weshalb ist er nicht froh, daß er durch viel Glück und das Übertrumpfen seiner Feinde in seiner Partei, an diese hohe Stelle in der Politik gekommen ist.
A.: Sie denken viel zu landeskindermäßig, viel zu schlicht, nur auf das Wohlleben während des eigentlichen Lebens bedacht. Ein Politiker strebt nicht nur nach aktueller Macht, er will auch nach seinem Tode Macht ausüben, historische Macht, die schönste Macht überhaupt, weil sie ewig währt und mit Gedenkstätten verbunden ist.
B.: Ich verstehe. Und deshalb hat sich Helmut Kohl auch im Dom zu Speyer begraben lassen. Dom! Wie das schon klingt. Erhaben! Als töne es aus den Tiefen der Geschichte. Wie in Dom Pérignon.
A.: Machen Sie keine Witze. Das ist eine ernste Angelegenheit. Politik und Geschichte bestimmen unser aller Leben und der Politiker, der Bedeutendes leisten will für sein Land trägt mit sich die historische Verantwortung auch für seinen Platz in der Geschichte.
B.: Vor allem seinen Platz in der Geschichte.
A.: Natürlich, das liegt doch nahe, niemand ist selbstlos, höchstens vielleicht ein paar Heilige aus dem Mittelalter. Deshalb ja auch der Wunsch nach einem Platz in der Geschichte. Die Frage ist nur, welcher Platz soll es sein? Vielleicht ist durch die ganze historische Vergangenheit gar kein Platz mehr frei. Alles besetzt! liest man dann und wandert ziellos durch das Totenreich, nirgendwo ein Platz oder auch nur ein Plätzchen, wo man sich auf ewig niederlassen könnte.
B.: Manchmal kommt es aber vor, daß diese Politiker mehr ihren historischen Träumen nachjagen als aktuelle Politik zu betreiben. Wie oft ist es schon geschehen, daß solche Figuren dann mehr auf die Wirkung für die Nachwelt geachtet haben als an die unmittelbaren Folgen ihrer täglichen Entscheidungen.
A.: Papperlapapp! Lösen Sie sich doch bitte bald von solchen Vorstellungen. Sie brauchen Visionen, historische Visionen!
B.: Na, vielen Dank, die hatte Hitler auch, und nun überlegen Sie, was uns das beschert hat.
A.: Ausnahmeerscheinungen gibt es immer in Politik und Geschichte. Es kommt nur darauf an, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. Napoleon wird heute ganz anders bewertet als noch vor zweihundert Jahren, und warten Sie noch mal zweihundert Jahre und schauen Sie dann in die historischen Bücher, da werden Sie Hitler auch ganz anders bewertet wiederfinden. Mit Nero ist das übrigens jetzt schon geschehen. Was hat man dem nicht alles Schlechtes nachgesagt, und nun wird er uns als moderater, moderner Herrscher verkauft.
B.: Sie regen mich auf! Was reden Sie da nur für einen Blödsinn. Hitler wird heute und morgen und übermorgen von der geschichtlichen Forschung als der dargestellt werden, der er gewesen ist: ein Spieler und größenwahnsinniger Verbrecher.
A.: Lassen wir dieses Thema fallen und kehren wir zurück zu dem Platz in der Geschichte. Es gibt neben den Politikern ja auch noch das gewöhnliche Volk und wissen Sie, was das gern sein möchte?
B.: Ich habe keine Ahnung.
A.: Prominent! Von Prominenten gibt es weit mehr als man glaubt. Mehr als eine Fernsehsendung wirbt dafür, prominent zu werden. ›Deutschland sucht den Superstar‹ ist nur eines von solchen Programmen, die jungen Leuten die Illusion geben, sie könnten über ihren Alltag hinauswachsen und landesweit bekannt werden.
B.: Ich kann schon dieses Wort ›prominent‹ nicht ausstehen. Wenn so jemand meint, er wäre es, dann ist er für mich schon verdächtig und ich mache einen weiten Bogen um ihn. Früher hat man solche Personen als ›eitel‹ bezeichnet. Große Klappe und nichts dahinter, hat man damals gesagt. Aufschneider waren das, nichts anderes.
A.: Da muß ich ihnen zustimmen, doch die heutige Prominenz hat in vielen Fällen eine durchaus beachtliche Halbwertzeit? Daneben gibt es natürlich diese Leute, die nur prominent sind dafür, daß sie prominent sind. Aber es reicht in vielen Fällen wenigstens dazu aus, in dieser kurzen Zeit des Prominentseins etwas Geld beiseitezulegen, das man den Leuten aus der Tasche gezogen hat. Auf das kann man dann zurückgreifen, wenn man wieder ins Nichts der Bedeutungslosigkeit zurückgesunken ist.
B.: Vermutlich gibt es sogar Bücher, die diese Möchtegern-Prominenten den Weg weisen, wie man prominent werden kann.
A.: Sie werden es nicht glauben, aber die gibt es. »Wie werde ich prominent?‹ heißt eins von ihnen. Der Autor macht sich lustig über diese Leute, aber er nennt eine Menge Adressen, an die man sich wenden kann, wenn man vorhat, prominent zu werden.
B.: Muß ich es ihnen aus der Nase ziehen oder erzählen Sie mir, was man tun muß, um prominent zu werden?
A.: Sie haben nichts verstanden. Ich verschwende doch nicht meine Zeit mit Ihnen, um über so ein stupides Thema zu sprechen. Das Thema Prominenz sollte doch nur ein Seitenbeispiel für die Frage sein, warum Politiker ständig auf der Suche nach einem Platz in der Geschichte sind.
B.: Sie haben jetzt schon in meiner Vorstellung von Ihnen einen festen Platz in meinem Bewußtsein. Und das kann ich Ihnen versichern, es ist dort nicht sehr gemütlich.
A.: Walhalla! Das ist es! Die Politiker haben den Walhalla-Komplex. In der Mythologie die ›Wohnung der Gefallenen‹, ist die Walhalla heute eines der bedeutendsten deutschen Nationaldenkmäler. Dort stehen Marmorbüsten und Gedenktafeln, die an Persönlichkeiten ›teutscher Zunge‹ erinnern. Diese Persönlichkeiten müssen wenigstens zwanzig Jahre tot sein, der germanischen Sprachfamilie angehören und Bedeutendes in Politik, Wissenschaft, Kunst oder dem Sozialwesen vorweisen können. Und an wen, glauben Sie, muß der Antrag zur Aufnahme in Walhalla gerichtet werden?
B.: Sie wissen es, Sie sagen es mir.
A.: An das bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.
B.: Wie schön, dann wird das eine hausinterne Entscheidung. Der bayerische Ministerpräsident muß nur zwanzig Jahre tot sein, dann kann er seinen Antrag stellen, am besten kurz vor seinem Ableben, in einem versiegelten Umschlag. Schwierig wird es nur, weil er ja noch am Leben ist und zugleich nach einem Platz in der Geschichte sucht und dieser ihm nur gewährt wird, wenn er bereits gestorben ist.
A.: Am Sonntag könnte es schon so weit sein. Dann ist in Bayern Landtagswahl. Wenn seine Partei verliert, wird sie schon dafür sorgen, daß er einen Freifahrtschein in die Ewigkeit erhält.