Paradoxien treten in Graden auf – je nachdem, wie gut der Schein die Wirklichkeit verbirgt. Vagheit ist ein weit verbreiteter Zug unseres Denkens. Wir werden diese Frage verschieden beantworten, ja sie verschieden verstehen, je nachdem ob wir der epistemischen Auffassung von Vagheit (sie ist nichts als Unwissenheit) oder der semantischen Auffassung (sie beinhaltet ein spezielles Verhältnis Wort–Welt) zuneigen. Vagheit ist ein Zug unserer Wirklichkeit und nicht ein bloßes Merkmal unseres Denkens und Sprechens. (R. M. Sainsbury: Paradoxien. Erweiterte Ausgabe, 1995)
A.: In der Nacht vom 3. zum 4. Juni wurde der Hauptbahnhof Hannover zu einer ›Waffenverbotszone‹. Neben dem ohnehin schon verbotenen Mitführen von Schuß- u. Stichwaffen wurden auch verboten: Schraubenzieher, Hammer, Messer und Pfeffersprays. Die Bundespolizei hatte eine Allgemeinverfügung ausgesprochen, die den Vertretern der Polizei das Recht gab, ohne konkreten Grund Personenkontrollen durchzuführen. Es ist nicht das erste Mal, daß es eine solche Allgemeinverfügung gab. Als Grund wurde ein vermehrtes Aufkommen von Körperverletzungsdelikten angegeben.
B.: Aha, und ich habe gelesen, daß am 11. August und am 11. September auch solche Allgemeinverfügungen erlassen werden.
A.: Das ist richtig, und das Resultat der Allgemeinverfügung vom 11. August war, daß die Polizei bei insgesamt 155 Durchsuchungen zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray sichergestellt hat.
B.: Was ist daraus zu folgern? Daß die potentiellen Gewalttäter regelmäßig die Mitteilungen der hannoverschen Polizei lesen und sich darauf einstellen, an diesen speziellen Tagen die Handfeuerwaffen und scharfen Messer, mit denen man unliebsamen Mitmenschen Schaden zufügen könnte, zuhause zu lassen? Und daß sie sich dann gesagt haben: Na, warten wir den kommenden Tag ab, da gilt die Allgemeinverfügung nicht mehr, da bewaffnen wir uns wieder und, falls es sich ergibt, stechen wir im Hauptbahnhof jemanden, der uns komisch kommt, nieder?
A.: Wenn man den gesunden Menschenverstand hier einmal für kurze Zeit walten läßt, dann muß man sagen, daß dies höchst unwahrscheinlich ist. Gerade solche Vorkommnisse wie das Niederstechen eines Menschen geschehen meist im Affekt und ohne lange Planung, allerdings ist eben das Vorhandensein eines Messers ein Faktor, der zu solchen Taten leichter führen kann.
B.: Gut, aber wäre es dann nicht von Vorteil, wenn das ganze Jahr über ein Verbot solcher Schuß- und Stichwaffen gälte? So würde man den potentiellen Verbrechern das Signal geben, den Hauptbahnhof generell unbewaffnet zu passieren, wobei dann immer noch die Möglichkeit gegeben ist, jemanden auch durch körperliche Gewalt, einen Faustschlag beispielsweise, niederzustrecken. Die präventive Entfernung von Armen und Händen als potentiell gefährliche Waffen wird man nicht durchsetzen können. So bleibt immer ein gewisser Unsicherheitsfaktor bestehen, trotz aller bundespolizeilichen Verordnungen.
A.: Da haben Sie recht. Mir ist aufgefallen, daß Pfeffersprays ausdrücklich in die Allgemeinverfügung mit aufgenommen worden sind, wo doch jeder Kinobesucher oder Fernsehserien-Zuschauer vielfach Szenen vorgespielt bekommen hat, wo eine von einem Vergewaltiger bedrohte Frau sich mithilfe eines Pfeffersprays gewehrt hat.
B.: Das schon, nur spielt sich das in der Realität manchmal, wenn die Frau mit dem Pfefferspray die richtige Handhabung nicht geübt hat, nicht so ab wie im Film, und zwar immer dann, wenn man die Windverhältnisse nicht richtig einkalkuliert und der gesprühte Pfeffer der Frau ins Gesicht zurückgeweht wird. Aber davon einmal abgesehen, ist juristisch eindeutig geklärt, daß Pfeffersprays nicht unter das Waffengesetz fallen. Vorausgesetzt, auf der Spraydose ist der Aufdruck ›Zur Tierabwehr‹ gedruckt. Fehlt dieser Warnhinweis, fällt das Pfefferspray unter das Waffengesetz und Sie bekommen Schwierigkeiten, wenn Sie sich gegen einen Angreifer wehren und auf der Dose nicht vermerkt ist, daß diese Dose nur der Abwehr von Tieren dient.
A.: Man könnte argumentieren, daß der Vergewaltiger eine tierische Handlung begehen will, und er so gesehen unter die Kategorie ›Tier‹ fällt.
B.: Mmhh, ja, aber das ist eher eine kulturkritische Floskel, die das deutsche Waffengesetz nicht akzeptiert. Interessanterweise erlaubt das Gesetz auch den Gebrauch von Pfeffersprays gegen Menschen, aber nur, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht. Wogegen der Einsatz von Pfeffersprays gegen einen unliebsamen Nachbarn verboten ist, denn damit begehen Sie eine vorsätzliche Handlung, bei der Sie gegen einen Menschen aktiv vorgehen und damit sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar machen.
A.: Nun ist aber bei der Polizeiaktion in Hannover auch ein Pfefferspray beschlagnahmt worden. Es wird in dem Bericht darüber nicht verraten, ob es sich bei dem Besitzer um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat. Aber unterstellen wir einmal, daß eine Frau dieses Pfefferspray besessen hätte, und unterstellen wir des weiteren, daß diese Frau nach dem Verlassen des Hauptbahnhofs von einem Angreifer überwältigt worden ist. Hätte sie das Pfefferspray zu diesem Zeitpunkt noch bei sich gehabt, hätten sich die Chancen einer erfolgreichen Abwehr doch beträchtlich erhöht, natürlich immer unter der Voraussetzung, daß sie es richtig gehandhabt hätte. Könnte man daraus nicht folgern, daß die Polizei mit der Entnahme ihres Pfeffersprays sich schuldig gemacht hat an der kurz danach erfolgten Straftat?
B.: Das könnte man sagen. Für einen Rechtsanwalt ein schöner Fang. Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor: ›Polizei beschlagnahmt das Pfefferspray einer Frau – 5 Minuten später wird sie in der Nähe des Hauptbahnhofs vergewaltigt‹ Das wäre ein PR-Desaster ersten Ranges für die hannoversche Polizei. Da könnte sogar der Kopf der Polizeipräsidentin rollen. Der Hauptkommissar und Zugführer der letzten Durchsuchungsaktion der Polizei hat über den Einsatz gesagt: »Die meisten Menschen hatten keine Waffen dabei. Das ist für uns natürlich ein Erfolg.« Dasselbe würde er ganz sicher sagen, wenn sehr viele Waffen beschlagnahmt worden wären, denn dann wäre nachträglich der Erfolg des polizeilichen Einsatzes gerechtfertigt, weil man vielleicht die Benutzung mancher dieser Waffen verhindert hätte. Aber wenn zum Schutz von Frauen mitgeführte Pfeffersprays in hoher Zahl von diesen eingezogen worden wären, und wenn es im Anschluß daran zu einer Vergewaltigung gekommen wäre und die Frau sich nicht mit einem Pfefferspray hätte wehren können, dann wäre das kein Erfolg, sondern ein Zeichen dafür, wie unverhältnismäßig diese Präventivmaßnahmen sind und wenn man jetzt zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray als Ausbeute der nächtlichen Aktion als Erfolg wertet, so ist das eher ein Indiz dafür, wie die Polizei jedes Resultat zu ihren Gunsten auslegt. Aber das ist noch nicht alles. Hören Sie sich einmal an, was der Sprecher der Bundespolizeidirektion Hannover über die Art der Ermittlungstechnik gesagt hat: »Erfahrungs- und Gefühlswerte zeigen uns, daß Menschen mit Migrationshintergrund eher Waffen mit sich tragen.«
A.: Ich kenne diese Argumentation, und die Polizei hat dann auch betont, daß man ihr immer wieder den Vorwurf gemacht hat, einseitig zu ermitteln und bei Personenkontrollen darauf zu achten, sich auf das äußere Erscheinungsbild zu konzentrieren, womit natürlich eine gewisse Stereotypenbildung einhergeht.
B.: Da kann ich Ihnen eine Geschichte vom Frankfurter Flughafen erzählen. Ich unterhielt mich mit einem Drogenfahnder und er sagte mir, seine Leute seien darauf angewiesen, auf besonders schick gekleidete Herren ein Augenmerk zu werfen, denn entgegen der landläufigen Meinung, wonach man Dealer eher mit hippiemäßigen Figuren, mit langen Haaren und schlampigem Äußeren assoziiert, sind die wirklichen Drogenkuriere vom besten Herrenausstatter ausstaffiert und treten wie Personen aus dem Bankenviertel auf.
A.: Im Falle des Messerbesitzes sind es nach Aussagen der Polizei im überwiegenden Maße junge Männer, die nicht ›deutsch‹ aussehen. So hat man sich dann auch über dieses ›Racial Profiling‹ beschwert, also daß man Haar- und Hautfarbe als Entscheidungsgrundlage für Kontrollen herangezogen hat. Ein Beamter hat das wie auch sein Chef von der Bundespolizeidirektion damit begründet, daß man »ziemlich genau wisse, bei wem wir bei einer Kontrolle mit größerer Wahrscheinlichkeit fündig werden«.
B.: Das mag durchaus zutreffen, es ist aber eine paradoxe Angelegenheit, »Erfahrungs- und Gefühlswerte« zur Entscheidungsgrundlage zu nehmen. Das wird auch nicht dadurch entkräftet, daß der Polizeisprecher beschwichtigend hinzugefügt hat, »deutschstämmige Personen können genauso kriminell sein wie Menschen aus anderen Kulturen«. Das ist für die Galerie gesprochen, man will sich natürlich nicht den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zuziehen, aber wenn dann betont wird, wie sich die Entscheidungen vor Ort abspielen, dann wird offen eingestanden, daß »Menschen mit Migrationshintergrund« es sind, die ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Aber jetzt kommt’s: Der Polizeisprecher hat hinzugefügt, »statistisch belegen« lasse es sich nicht, »daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr Waffen mit sich führe.«
A.: Auch dieser Zusatz ist nicht mehr als eine vordergründige Entlastungsstrategie, denn es wurde ja vorher die Art der Methode bekanntgegeben, mit der die Polizei ihre Kontrollen vornimmt: »Erfahrungs- und Gefühlswerte« seien es, die ihr polizeiliches Handeln bestimmen.
B.: Damit sind wir wieder bei dem Drogenfahnder, der mir versicherte, daß man die nachlässig gekleideten Personen im Frankfurter Hauptbahnhof weniger beachten müsse als die Herren im Maßanzug, die in ihren teuren Lederköfferchen die kostbaren Drogen herumtransportieren.
A.: Wenn nun aber die Drogenbosse sich zu einer paradoxen Strategie entschließen und auf das Wahrnehmungsraster der Drogenfahnder reagieren und ihre Drogenkuriere künftig weder als Dressmen noch als Hippies herumlaufen lassen, sondern als ganz unauffällige, durchschnittlich gekleidete Personen, die aber vielleicht nicht zu orientalisch ausschauen, was dann?
B.: Dann sind alle Kategorien aufgehoben. Dann führen auch die »Erfahrungs- und Gefühlswerte« in die Irre. Dann sind alle verdächtig. Dann müssen demzufolge auch alle Personen, die den hannoverschen Hauptbahnhof passieren, angehalten, abgetastet und verhört werden.
A.: Da wird bei der hannoverschen Polizei wohl bald eine massive Stellenausschreibung erforderlich sein.
B.: Ja, aber was mich ganz besonders irritiert, das ist die bizarre Tatsache, daß die Polizei die genannten Waffen an vorher bekanntgegebenen Tagen zu suchen sich anschickt, an den anderen Tagen aber der normale Passant den Übergriffen möglicher Attentäter schutzlos ausgeliefert ist. Das hört sich so an, als wäre es eine Lösung des Problems, wenn an ausgewählten Tagen die Polizei, wie sie selber sagt, »eine besondere Präsenz« zeige, an den restlichen anderen Tagen aber der durch den Hauptbahnhof schlendernde Bürger auf sich selbst angewiesen ist.
A.: Und sich vorsorglich mit einer Waffe versieht.
B.: Das wäre dann die ironische Schlußpointe.