Keetenheuve spurte schlecht, er war nicht zu lenken, er war unbequem, er eckte an, er war in seiner Fraktion das Enfant terrible, so was bekam einem im allgemeinen schlecht. Alle wollten sie so schnell wie nur möglich in Regierungsnähe unter Dach kommen; es war, als fürchteten sie, die Regierung könne ihnen davonlaufen, würde eines Tages nicht mehr da sein. Als Politiker war er ein Heiratsschwindler, der impotent wurde, wenn er mit Frau Germania ins Bett gehen sollte. Aber in seiner Vorstellung und auch oft tatsächlich und mit ehrlichem Bemühen vertrat gerade er immer das Recht des Volkes! Keetenheuve dachte: Nicht mehr mitspielen, nicht mitmachen, den Pakt nicht unterschreiben, kein Käufer, kein Untertan sein. Am Bahnhof grölten Besoffene: »Wir wollen unsern Kaiser Wilhelm wiederhaben.« Bald würde man tun, wozu man hergekommen war, man würde seine Stimme abgeben und sein Geld verdient haben. Vielleicht würde eines Tages eine große Koalition der Unzufriedenen regieren. Die Mehrheit regierte. Die Mehrheit diktierte. Die Mehrheit siegte in einem zu. (Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, 1953)

»Männe«, sagte Charlotte zu ihrem Friedrich, »heute gehst du mir nicht in diesem nachtblauen Anzug zur Kanzlerwahl, du mußt dich unterscheiden von den anderen Politikern, die ja auch immer nachtblaue Anzüge tragen mit diesem gewissen Schimmer, als wollte er Blüten bestäubende Insekten anziehen! Außerdem erinnern die vielen blauen Anzüge mich doch immer sehr an die rotchinesische Einheitskleidung, an den Mao-Look, oder gar an den Blaumann eines Handwerkers, Gott, wie gewöhnlich!« Friedrich stand vor dem großen Standspiegel und schlüpfte in den bereitgelegten schwarzen Anzug und musterte sich darin. »Sehe ich nicht ein bißchen so aus, als ginge ich zu einer Beerdigung, Liebes? fragte er mit ernstem Blick in den Spiegel. »Ach was«, flötete Charlotte, »du siehst fabelhaft aus, staatsmännisch elegant. Hier, dazu trägst du jetzt noch diese schöne blaue Krawatte mit dem feinen Muster, das gibt dem Ganzen einen gewissen Pfiff. Außerdem ist dieser Trump zur Beerdigung des Papstes mit so einem blauen Anzug anmarschiert, so was macht man doch nicht, so gegen die Kleidervorschriften zu verstoßen.« Die Zeit verrann. Plötzlich bemerkte Charlotte, daß es schon reichlich spät geworden war. Sie drängte zur Eile, aber dennoch traf man zur Vereidigung des neuen deutschen Bundeskanzlers etwas verspätet ein. Friedrich war das peinlich, galt er doch als der Pünktlichsten einer. Er setzte sich in die erste Reihe. Die Wahl konnte beginnen. Als alle Parlamentarier ihre Stimme abgegeben hatten, stellte sich heraus, daß Friedrich einige Stimmen fehlten. Er hatte keine Mehrheit bekommen. Er war, in der Sprache der Journalisten, »durchgefallen«. Nach hektischen Beratungen in den Fraktionen ließ man einen zweiten Wahlgang folgen. Diesmal reichte es für ihn, er war nun gewählter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Mit betretenem Gesicht präsentierte er sich den Fotografen der Weltpresse. Damit war die Angelegenheit aber noch nicht erledigt, denn nun mußte der mediale Teil der Wahl absolviert werden. Es meldeten sich Stimmen aus den Parteien. Eine grüne Politikerin sprach von »einer ernsten Situation für das ganze Land.« Dann holte sie weit aus, als schaue sie aus dem Weltall auf die Erde nieder. »In einer Zeit globaler Krisen können wir uns politische Unsicherheiten nicht leisten.« Es schien so, als wüßte sie, wie man sich ordentlich verhält als parlamentarischer Abgeordneter und als habe der einzelne Abgeordnete eine unsichtbare Macht, die sich auf den ganzen Erdball erstreckt. Dann hob sie den Zeigefinger und sprach: »Häme ist jetzt völlig fehl am Platz, denn das Chaos in Berlin schadet dem Ansehen Deutschlands.« Die ganze Welt schaute ihrer Meinung nach auf Deutschland, und die Welt wunderte sich, daß einige der Abgeordneten nicht so funktionierten wie sich das die Parteifunktionäre vorgestellt hatten. Das ›Ansehen‹ war so wichtig, daß es vor allem um das ›Ansehen‹ ging, wie man sich vor der Welt präsentierte. Sie wußte aber zugleich, daß »die Menschen in unserem Land« – das formulierte sie wirklich so – daß »die Menschen in unserem Land zu Recht eine funktionierende handlungsfähige Regierung erwarten.« Damit hatte sie aber nur festgestellt, was die Parteifunktionäre von den Menschen in unserem Land erwarteten: eine ständige Bereitschaft zur Wahrnehmung der höchst wichtigen Vorgänge der Politik, den diese Parteivertreter verfolgten. Selbstreferenz nennt man das in der Soziologie, oder, auf deutsch: Wir sind so wichtig, daß alles, was sich um uns dreht, die Menschen in unserem Land zu interessieren hat. Ein FDP-Politiker flankierte der grünen Dame, indem er Scheindifferenzierungen in seine Rede brachte. Diese Wahl sei »keine Schwächung für Friedrich Merz, das schwächt die Institution Bundestag, das schwächt die Demokratie.« Welche Motive die nicht für Merz stimmenden Abgeordneten immer auch gehabt hatten, es galt dennoch Art. 38 des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine besondere Gewissensfreiheit genießen und damit ihre Entscheidungen im Rahmen des freien Mandats nur anhand ihres Gewissens ohne Bindung an Weisungen und Aufträge fällen sollen. Das interessierte die Politiker, die nun über die unsichtbaren Abweichler herfielen, überhaupt nicht. Wer nicht den Vorgaben der zwischen den Parteien der künftigen Regierungskoalition ausgehandelten Vereinbarungen zu folgen bereit war, schwächte in ihren Augen automatisch das Parlament, ja sogar die Demokratie insgesamt. Es war dieser totalisierende Zug, der an den Stellungnahmen so bemerkenswert war und verriet, daß es den Parteien nicht um Parlament und Demokratie ging, sondern um ihre Machtstellung. Und wer die angriff, griff gleichzeitig die Demokratie an. Sie besaßen ja praktisch die Demokratie, waren die Demokratie, auch wenn sie von den Stimmen des Demos abhängig waren. Ein regierungstreuer SPD-Abgeordneter schrieb einen offenen Brief an die Mitglieder seines Wahlkreises und drückte seine Stimmung mit den Worten aus, er sei »überrascht/geschockt/empört« über diesen unglaublichen Vorgang. Doch er sprach nicht bloß von seinem Gefühlszustand, sondern gemeindete gleich alle Parteimitglieder mit ein, indem er sagte, er melde sich aus dem Plenum »bei Euch, weil Ihr sicherlich ähnlich überrascht/geschockt/empört seid darüber, was derzeit im Bundestag abläuft.« Konformismus war Bürgerpflicht, Abweichung von der Mehrheit war undemokratisch. »Es ist eine Niederlage der demokratischen Kräfte im Deutschen Bundestag.« Und er fügte beschwörerisch hinzu: »Profitieren wird lediglich die AfD.«  Der Fabrikant Gundermann in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹ sprach nicht anders, als er vor der SPD warnte: »Wer nicht stramm ist, ist schwach. Und Schwäche (die destruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche ist immer Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.« Nun gehörte der real existierende SPD-Abgeordnete zu der Gruppe von Politikern, die mit dem Verbot dieser AfD-Partei durch das Bundesverfassungsgericht die Lösung des Problems sah. Ob vielleicht die große Zahl an Abgeordneten dieser unwillkommenen Partei im Bundestag daran lag, daß die übrigen Parteien, die sich ›demokratische Mitte‹ nannten, bei vielen Wähler nicht mehr so gut ankamen, weil die Probleme, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren, nicht befriedigend gelöst wurden, diese Frage stellte er sich nicht. Die Existenz dieser Partei ist ja ein Krankheitssymptom und man kann eine Krankheit nicht durch ein Verbot zum Verschwinden bringen, stattdessen sollte man an die sozialen Ursachen herangehen und die dort vorhandenen Krankheiten heilen. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident ließ verlauten, die fehlenden Stimmen seien »eine Belastung für unsere Demokratie«. Nur weil ein Kandidat nicht gleich beim ersten Wahlgang die erforderliche Zahl der Stimmen auf sich vereinigen konnte, war für diesen Politiker die Demokratie bedroht. Man könnte das eine Überreaktion nennen, oder auch eine Form der selbstgefälligen Überhebung. Es ist in der Geschichte des Parlamentarismus schon vorgekommen, daß Parlamentarier der politischen Führung die Gefolgschaft aufgekündigt haben, nur eben noch nie bei einer deutschen Kanzlerwahl, weswegen es als »eine historische Stunde« dargestellt wurde. Ein wahres »historisches Chaos«, ja sogar über eine »Staatskrise« wurde gemunkelt. Folgerichtig müsste man sich dann zu einem Führerstaat bekennen, in dem es von vornherein keine Schwierigkeiten bei der Akklamation gibt, denn das Verhältnis von Führer und Masse ist einseitig geregelt.

Anstatt also den sich weigernden Abgeordneten Anerkennung dafür zu spenden, daß sie von ihrem grundgesetzlich verbrieften Recht Gebrauch gemacht hatten, verurteilten die um ihre Macht fürchtenden autokratischen Politiker dieses Verhalten als Gefährdung der Demokratie. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident meinte, »unser Land braucht eine handlungsfähige Regierung – und zwar schnell.« Das Motiv für diese Eile: »Es stehen wichtige Aufgaben an, die keinen Aufschub dulden, die Maßnahmen für die Belebung unserer Wirtschaft vorneweg.« Da Zeit Geld ist, darf es bei der Wahl eines Kanzlers keine zeitliche Verzögerung geben, jede Sekunde ist kostbar, jede Sekunde bedeutet Verlust für ›die Wirtschaft‹. Schnelligkeit bei der Regierungsbildung ist nach dieser hysterischen Einschätzung der politischen Lage der beste Garant für die kontinuierliche Akkumulation des Kapitals. »Systemtheoretisch gesehen ist also das Verhältnis von Wirtschaft und Politik durch funktionsbedingte Unterschiede  und durch Parallelitäten im Systemaufbau, insbesondere durch entsprechende Instabilitäten in beiden Systemen charakterisiert. […] (Man kann im politischen System zum Beispiel nicht einfach entscheiden: es soll uns wirtschaftlich gutgehen!). […] Das heißt, die Strukturen eines Systems können nur mit systemeigenen Operationen variiert werden, die ihrerseits von den Strukturen des Systems abhängen. […] Von politischer ›Steuerung‹ der Wirtschaft kann man deshalb allenfalls in dem Sinne sprechen, daß die Politik die Wirtschaft mit Hilfe politikeigener Unterscheidungen […] beobachtet […] und diese Differenzen zu vermindern sucht. […] ›Steuern‹ kann jedes System also nur sich selber, weil alle Unterscheidungen systemeigene Konstruktionen sind. […] Demnach haben es sowohl die Wirtschaft als auch die Politik mit strukturellen Instabilitäten zu tun. Anders wäre ja auch eine Variation von Strukturen nicht zu denken.«(Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, 26f.)