Als ich ein kleiner Knabe war, da sagte zu mir mein Großvater: »Du bist in eine schwere Zeit hineingeboren. Sie ist nur ein Übergang vom Alten zum Neuen.« Schön, dachte ich, also wird das Neue wohl noch kommen. Als ich in die Welt hinaus fuhr, da sagte zu mir mein Vater: »Unsere Zeit, mein Sohn, ist nur eine Übergangszeit. Wir stehen mit einem Fuße im 19., mit dem anderen schon im 20. Jahrhundert.« Ich dachte: Herrlich! Da werde ich also das Eigentliche noch erleben. […] Da floh ich nach Rußland; aber Rußland befand sich gerade in einem Übergang. »Teufel«, dachte ich, »wo finde ich denn nun das Wesentliche?« Immer sagen die Leute: »Wir befinden uns grade im Übergang.« […] Die Menschen glaubten eben jederzeit: ihre Zeit sei nur ein Übergang. (Theodor Lessing: Es ist nur ein Übergang. In: Prager Tagblatt, 28.5.1926)

A: Der Kanzler hat einen bedeutsamen Satz von sich gegeben.

B: Schon faul. Aufhören! Verschonen Sie mich mit Verlautbarungen von Regierungsmitgliedern.

A: Ich glaube, Sie sollten sich den Satz ruhig anhören. Er lautet nämlich: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir  sind auch nicht im Frieden.«

B: Na großartig, jetzt geriert sich der Kanzler schon als Aphoristiker. Was will er denn damit aber eigentlich sagen?

A: Nie sollst du mich befragen. Tja, der Satz hat es schon in sich, er ist vielsagend und sagt doch zugleich nichts.

B: Was soll das nun wieder heißen?

A: Sehen Sie, seitdem ein Regierungsmitglied den Satz äußerte, Deutschland müsse »kriegstüchtig« werden, und seitdem  der Herrscher von Rußland ständig unfreundliche Akte gegen seine Nachbarn unternimmt, ist man in deutschen Regierungskreisen bemüht, sehr viel Geld für die militärische Aufrüstung des Landes auszugeben, weil man meint, mit noch mehr Waffen sei die Sicherheit des Landes garantiert.

B: Da hat sich in der Vergangenheit schon mancher Machthaber gründlich verrechnet.

A: Aus der Geschichte wird generell nichts gelernt, das steht als Grundsatz so fest wie der Eiffelturm.

B: Ja, und was lernen wir nun aus diesem Kanzler-Satz?

A: Man muß den Satz auseinandernehmen, um den eigentlichen Sinn freizulegen. Vielleicht so: Wir leben in einer Übergangszeit, die sich dadurch auszeichnet, daß wir nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden leben.

B: Das ist aber doch nur die banale Wiederholung dessen, was der Kanzler gesagt hat.

A: Sie verkennen die langsame rhetorische Vorbereitung einer gründlichen Analyse. Lesen Sie mal Karl Kraus, der hat immer Sätze wiederholt, um dann nach und nach den Sinn und den Unsinn solcher Sätze zu zeigen. Der Kanzler hätte auch sagen können: »Liebe Landsleute! Schwere Zeiten stehen euch bevor. Ich kann Ihnen aber versichern, daß durch die enormen militärischen Ausgaben der letzten Monate dieses Land bestens darauf vorbereitet ist, in einen Krieg mit Rußland zu gehen!«

B: Das würde der Kanzler niemals sagen, das wäre auch durch die Geschichte nicht gedeckt, wenn man nur an die Feldzüge Napoleons gegen Moskau denkt, von dem Hitlerschen Vormarsch in russische Gefilde ganz zu schweigen. Das waren von vornherein Pleiteunternehmen.

A: Allerdings, aber nachdem durch die Politiker in diesem Lande und die ihnen wohlgesonnenen Medien in den letzten zwei Jahren allmählich eine Stimmung für einen Krieg vorbereitet worden ist, kommt dann der Zeitpunkt, wo ein Kanzler dem Volk, das nun auch noch wieder in die Wehrpflicht hineingedrängt werden soll, einen Zwischenbericht zur Lage der Nation vorlegen muß. Das glaubte er jedenfalls, als er sein Kanzler-Selbst befragte.

B: Nun gut, wie lösen Sie denn aber nun den Kanzler-Satz vom Nicht-Krieg und Nicht-Mehr-Frieden analytisch auf?

A: Wie ich schon sagte, will der Satz auf ein Übergangsstadium hindeuten, so wie auch der alte Satz, der sagt: Si vis pacem para bellum. Auf deutsch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

B: Oho! Das klingt aber ausnehmend kriegerisch.

A: Das ist es auch, nur wird es durch diese Konstruktion des Kanzler-Satzes ein wenig verdeckt, denn der Kanzler will seinem Volk ja keine Angst einjagen, sondern eben nur sagen, daß es sich auf andere Zeiten vorzubereiten hat, ja, daß diese anderen Zeiten bereits angebrochen sind: Der nichtkriegerische Frieden, die Vorstufe oder der Übergang zum friedlichen Einsatz von Waffen für einen guten Zweck: den Frieden.

B: Nun versteigen Sie sich aber in die Art von Kasuistik, die ich bei Rechtsanwälten immer gehaßt habe.

A: Aber darum geht es doch in dieser Sache! Niemand ist bereit, offen auszusprechen, was man plant und vorhat, aber zugleich muß man aus Gründen der politischen Legitimität etwas dazu sagen. Und so sagt man eben: »Wir befinden uns nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden.« Es bleibt offen, ob man bald wieder zum Frieden zurückkehren will, aber es wird dem äußeren Feind deutlich gemacht, daß man nicht vor einem Krieg zurückschrecken wird.

B: Und die Kriegserklärung geht natürlich nicht von uns aus, sondern v0n den anderen.

A: Wie bei jedem Krieg, selbstverständlich. Keiner will der Aggressor sein, deshalb sagt man dann: »Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!«

B: Ja, mir ist dieser Satz wohlbekannt. Aber auch in der Vorkriegsphase des Ersten Weltkriegs gab es Bestrebungen innerhalb der deutschen politischen Elite, den Beginn eines Krieges mit Rußland so aussehen zu lassen, als ob die Russen mit dem Krieg begonnen hätten und man sich nun tapfer zu wehren habe.

A: In unserem heutigen Fall ist tatsächlich Rußland das kriegführende Land, seit es die Ukraine überfallen hat. Mittlerweile aber werden Unmengen an Geld in die militärische Aufrüstung gepumpt und in diesem Zusammenhang fiel dem Kanzler dann plötzlich ein, daß das eigentlich ein Zustand sein könnte, der nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist und deshalb hat er ihn zwischen Krieg und Frieden plaziert. Also das ist ungefähr der Zustand, den man zu beschreiben versucht, wenn man von »ein bißchen schwanger« spricht. 1982 hat die Schlagersängerin Nicole das Lied ›Ein bißchen Frieden‹ populär gemacht. Aber wir haben es heute mit einem Zustand zu tun, bei der führende Politiker dieses Landes singen: ›Ein bißchen Frieden, ein bißchen Krieg‹, und so wie es aussieht, läuft es auf ein ›Ein bißchen Krieg‹ hinaus.

B: Sie wissen aber schon, daß er den Satz: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht im Frieden« eingeleitet hat mit diesem Satz: »Ich will es mal mit einem Satz sagen, der vielleicht auf den ersten Blick ein bißchen schockierend ist.«

A: »Ein bißchen schockierend«! Da haben wir es ja, wie auf Stichwort. Es scheint keiner zu bemerken, daß mit diesem Geschwafel das mentale Gelände für Dinge präpariert wird, bei der die Bundesrepublik zum Aufmarschgelände und Schlachtfeld für einen Krieg werden wird.

B: Mir wird speiübel.

A: Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Übrigens hat der Kanzler in einer privaten Unterhaltung, die für die Öffentlichkeit bestimmt war, verlauten lassen, er trinke jetzt gar keinen Alkohol mehr.

B: Aha! Nur im Zustand völliger Nüchternheit zieht man ins Feld. Wie sagt man? »Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.« 

A: Das ist von Joseph de Maistre (1753—1821), einem katholischen Reaktionär.

B: Na bitte, und welcher Partei gehört dieser Kanzler an?