Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Bergrutsch begräbt Dorf
In geistig bankerotten Zeiten wird statt der Anschauungsmünze das Papiergeld der Phrase verausgabt. Wenn statt der Dinge Bilder von anderen Dingen bezogen werden, steht es schlimm genug. Aber wenn diese Bilder auch dort noch gebrauchsfähig sind, wo die Dinge schon bei den Dingen sind, wenn Ufer eine Umschreibung für Ufer und Klippe eine Phrase für Klippe ist — dann ist ein Krieg unvermeidlich!
Karl Kraus: Die Phrase im Krieg. In: Die Fackel, 15. Jg. Nr. 374–375, (8. Mai 1913), 3
Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe.
Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. In: Die Fackel, 30. Jg., Nr. 781–786 (Anfang Juni 1928), 1–9 (5)
In der Schweiz ist durch einen Erdrutsch ein ganzes Dorf vernichtet worden. Dank eines Vorwarndienstes konnten sich die Einwohner vor dem Unglück in Sicherheit bringen. Solche als ›Naturkatastrophen‹ bezeichneten Ereignisse sind in den Teilen der Erde, die mit Bergen ausgestattet sind, keine Seltenheit. Der ›Bergsturz von Goldau‹ im Jahre 1806 gehört zu den schlimmsten Naturkatastrophen. Und wenn es auch eine Vorwarnzeit von dreißig Jahren gab, mit den charakteristischen Anzeichen einer Rißbildung am Berg, offenen Spalten und dem knallenden Reißen gesprengter Wurzeln, so zogen doch damals nur fünf Einwohner aus dem Ort weg. 457 Menschen wurden unter den Geröllmassen begraben, 323 »Stück Vieh« verloren gleichfalls das Leben. Gerade an diesem Fall, der ein tatsächlicher Fall ist, ein Abfall und ein Herabstürzen von Erdmassen inmitten einer unbezähmbaren Naturlandschaft, kann die Phrase, wonach »alles den Bach runtergeht«, anschaulich zeigen, wie vorsichtig man mit solchen Bemerkungen sein sollte. Natürlich kann man diesen Satz ohne weiteres auch auf einen Bergsturz anwenden und dabei glauben, damit sei sogar der Idealfall einer Beschreibung gegeben, denn tatsächlich hat sich ja genau das abgespielt, was der Satz in seiner sowohl sachlichen wie metaphysisch-prophetischen Art zu sagen versucht. Die beiden Zitate aus der ›Fackel‹ versuchen aber den Fall einer Wirklichkeit zu beschreiben, bei der die Metapher zwar vordergründig zu treffen scheint, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein): Genauer: Die Welt ist all das, was der Fall ist, also die Gesamtheit der Tatsachen. Doch wenn versucht wird, einen Bergrutsch in die Kategorie eines Den-Bach-Runtergehen-Falles zu subsumieren, so gerät man in die von Karl Kraus beschriebene Metaphern-Falle. Es sei denn, man will damit beweisen, es könne Verhältnisse im Hochgebirge geben, wo man gezwungen wird einzugestehen, daß nicht alles unternommen wurde, um das Leben des Dorfes und seiner Bewohner zu sichern, es sich also um eine gesellschaftliche Unterlassung handelt und daher dann doch alles den Bach runtergeht, weil die politischen Mächte und Kräfte in diesen entlegenen Gegenden der Welt es vermieden oder unterlassen haben, alles zu tun, damit ein solches Ereignis erst gar nicht stattfinden kann. Der Weisheit letzter Schluß wäre dann allerdings wohl nur ein Ziel: die Evakuierung sämtlicher Einwohner aus Berggebieten und ihre Umsiedlung in bergrutschfreie Lebenszonen. Der Zufall hat es so eingerichtet, daß zugleich mit dieser Schreckensmeldung eine andere Schreckensmeldung zu lesen war, auch sie aus den Bergen kommend: ›Der Vandalismus in den Berghütten nimmt zu‹. Zu Beginn der Hüttensaison hat der ›Deutsche Alpenverein‹ die Öffentlichkeit jetzt darüber unterrichtet, daß erneut ein schwerer Fall von Bergvandalismus vorgekommen ist. Eine der Hütten, die Bergwanderern einen sicheren Ort zur Übernachtung bieten sollen, wurde mit einer in dieser Form noch nicht vorgekommenen Brutalität verwüstet. Der Ofen der Hütte wurde aus seiner Befestigung herausgerissen und vor die Tür geworfen, leere Schnapsflaschen lagen rund um die Hütte verstreut, Fenster wurden zerschlagen. Die Kasse, in die man die Übernachtungsgebühr einwerfen muß, wurde aufgebrochen und geplündert, und, wie es sich für richtige Barbaren gehört, hatten diese überall ihre Körperausscheidungen hinterlassen, vor und in der Hütte. Damit andere Bergwanderer garantiert die Orientierung verlieren, waren die Wegweiser mit Aufklebern unlesbar gemacht worden.
Der Chor in Friedrich Schillers ›Die Braut von Messina. Trauerspiel mit Chören‹ (1803) singt:
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.