Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)

Zeitweise Andorra

»Ein massiver Stromausfall hat die Iberische Halbinsel am Montag über Stunden lahmgelegt. Betroffen waren das gesamte spanische und portugiesische Festland sowie zeitweise Andorra. Die Züge, U-Bahnen und Straßenbahnen standen still, der Flugverkehr konnte nicht mehr wie gewohnt abgewickelt werden, und in zahlreichen Gebäuden fielen Aufzüge aus. In Spanien standen Züge still. Der Blackout habe ›zur Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs im gesamten Netz geführt‹. Verkehrsampeln funktionierten nicht und führten an vielen Orten zu chaotischen Verhältnissen auf den Straßen. Die Generaldirektion für Verkehr forderte dazu auf, das Autofahren ›so weit wie möglich‹ zu vermeiden. Spaniens Regierungschef rief die Bevölkerung in einer Fernsehansprache dazu auf, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten.« (FAZ, 29.4.2025)

»Als ob Dunkelheit eine Art Licht sei, das uns den Abgrund sehen läßt, in den wir gleich stürzen werden.« (John Updike: Rabbit. Eine Rückkehr, Reinbek b. Hamburg 2002, 142)

Nur wer mit elektronischen Handorakeln ausgestattet war, konnte diese Nacht überstehen, vorausgesetzt, diese Taschentheater waren vorher ausreichend aufgeladen worden. Die Lichtfunktion der intelligenten Telefone geleitete die Spanier durch die finstere Nacht. Mancher der gebildeten Spanier dachte an das finstere Mittelalter, als die Inquisition auf Geheiß des römischen Papstes unter den Menschen wütete. Nobody expects the spanish inquisition. Our chief weapons are fear and surprise and ruthless efficiency and an almost fanatical devotion to the Pope. (Monty Python’s Flying Circus, Just the Words, Vol. 1, Episode Fifteen, Reading 1989, 192f.). Efficiency, ja, die gab es in dieser Nacht nicht, aber es gab noch genug Elektrizität für eine Fernsehansprache des spanischen Regierungschefs, der die Spanier dazu aufforderte, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Weder der Sinn dieser Ansprache noch die Tatsache ihrer Existenz schien einleuchtend zu sein, denn wie sollten die ohne elektrischen Strom zuhause hockenden Spanier überhaupt ihren Fernsehapparat einschalten können? Welche Art von Zusammenarbeit mit den Behörden stellte sich der Regierungschef dabei vor? Sollte man dem ohne Licht durch die Finsternis irrenden Polizisten ein Streichholz leihen, damit er sich bei seiner sinnlosen Tätigkeit wenigstens eine Zigarette schmecken lassen konnte? Diejenigen mit den intelligenten Telefonen hatten anderes zu tun, sie mußten versuchen, sich zu orientieren, um unbeschadet den Weg nach Hause zu finden und dazu konnte ihnen nur das kleine Lämpchen am Ende des elektronischen Handorakels helfen. Das Wort Noctivagator galt vor fünfhundert Jahren dem Nachtwanderer, der nur darauf aus war, seine Mitmenschen zu überfallen und zu berauben, doch nun war das leuchtende Handtelefon zum Noctivagator geworden, zum Leuchtstab inmitten der gänzlich unbeleuchteten spanischen Straßen. Im 18. Jahrhundert gab es Laternenträger, die des Nachts gegen Bezahlung den Fußgängern den Weg leuchteten. Bei Überfällen war der Befehl: Macht eure Lichter aus, oder wir schießen euch das Hirn aus dem Kopf! ein oft gehörter Befehl. Für Jahrhunderte war die Nacht für die Menschen mit Dunkelheit verbunden, außer dem Mond und den Sternen sowie Laternen an den Wohnhäusern, Kerzen in Metallzylindern, gab es keine künstliche Beleuchtung in den Straßen. Die Hauptwaffe der katholischen Kirche war das Licht, denn das sollte die Allgegenwart Christi bezeugen. Dazu veranstaltete man in Spanien während der ›heiligen Wochen‹ Prozessionen auf den Straßen, bei denen im Kerzenschein öffentlich Büßer gegeißelt wurden. Ganz Spanien war von Kapellen überzogen, die nur von einer einzigen Kerze beleuchtet waren. Alles wäre schrecklich ohne Kerzen war eine gängige Redensart, entnommen einem religiösen Meditationstext aus dem 16. Jahrhundert. Unterwegs, vom spanischen Blackout des 21. Jahrhunderts überraschten Menschen, nutzte diese Spruchweisheit wenig. Manchem Hochgebildeten fiel vielleicht ein, daß im England des 19. Jahrhunderts das Streichholz tatsächlich Lucifer (Lichtbringer) geheißen hatte. Auch der abgefallene Engel Gottes wollte also den Menschen das Licht bringen, vielleicht sogar das Licht der Aufklärung, in dem man sich vor keinem unsichtbaren Gott zu fürchten brauchte. Andere assoziierten die ungewohnte Dunkelheit mit der Zeit des Franco-Regimes, als Spanien, nicht zum ersten Mal, sich von der westeuropäischen Zivilisation verabschiedet hatte. Aber die allermeisten verschwendeten ihre Gedanken nicht an solche abseitigen Gedankenflüge, sie tappten und tasteten sich vorsichtig voran, denn Vorsicht ist die beste Kerze, wie es in einem walisischen Sprichwort heißt, denn auch heute kann man sich nie sicher sein, wenn plötzlich alles in Dunkelheit gehüllt ist und der neben einem gehende Mitmensch auf einmal sich als gemeiner Dieb herausstellt. Doch nicht jeder weiß, daß die Menschen in der Nacht mehr als die meisten Tiere sehen können und sich innerhalb von weniger als einer Stunde die Sehfähigkeit verbessert, die Iris sich weitet und dadurch mehr Licht hereinläßt. Im Dunklen ist gut munkeln. Nun ja, man muß den Januar 2026 abwarten und dann den spanischen Geburtenstatistikern den Nachweis überlassen, ob aus dem Stromausfall Ende April 2025 sich irgendwelche bevölkerungsrelevanten Konsequenzen ergeben haben. Im New York der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war das geschehen, als die ganze Stadt einmal im Dunkel der Nacht lag und manche New Yorker zu zweit die Zeit bis zur vollständigen Erleuchtung zu überbrücken versucht hatten. Schon kam die todesstille Zeit der Nacht … Nur blut’ger Mord und Wollust geh’n jetzt um. (Shakespeare: Lucretia, 1594). Die Paarung unter den Menschen sollte aber doch bei vollem Tageslicht geschehen, zumindest die Wahl der Partner, denn bei Kerzenlicht betrachtet, kann es nach dem Aufhellen des Himmels zu bestürzenden Resultaten führen: Such dir bei Kerzenlicht weder eine Frau noch ein Leintuch aus. Denn: Bei Kerzenlicht sieht eine Ziege wie eine Dame aus. Die Menschen früherer Jahrhunderte hatten Humor. Dagegen verbot Papst Gregor XVI. (1765–1846) Straßenlaternen, weil die katholische Kirche meinte, diese würden mit ihrem eindringlichen Licht der Bevölkerung helfen, Aufstände zu schüren. Als zu Ostern 2025 der Papst starb und öffentlich aufgebahrt wurde, strömten Hunderttausende zum Petersplatz, bei hellem Tageslicht. Die Mächte der Finsternis müssen auch nach so vielen Jahren nicht um ihre Herrschaft bangen, mit oder ohne Straßenlaternen. Ex oriente lux.

Mit Dank an:
A. Roger Ekirch: At Day’s Close. Night in Times Past, New York 2005; dt. In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit, Bergisch-Gladbach 2006