Wann entsteht in Wien ›ein fast beängstigendes Gedränge‹? Auf dem Concordiaball. Wo ist es unmöglich, alle die aufzuzählen, die anwesend waren? Auf dem Concordiaball. Was entwickelte sich alsbald? Die anregendste Conversation. Wieder mischte sich das vornehme Wiener Bürgertum unter das temperamentvolle Theatervölkchen. Wieder gab es ein beängstigendes Gedränge. Wieder walzte der Übermut mit der Lebensweisheit, wieder plauderte die hohe Politik mit der heiteren Muse. Mit einem Wort: wieder übertraf der Concordiaball alle seine Vorgänger. Denn das haben sie alle gemeinsam, die Concordiabälle, daß sie einander an Glanz übertreffen. Er übertrifft ganz gewiß seine Vorgänger weit.  (Karl Kraus, 1923)

Der Presseclub ›Concordia‹ wurde 1859 als Verein gegründet. Alljährlich gab er sogenannte ›Concordiabälle‹, zu denen die »Vertreter aller Gesellschaftskreise« erschienen. Den Reportern der Wiener Zeitungen war es beschieden, in ihren Berichten über den Ball alle bekannten ›Persönlichkeiten‹ aufzuzählen und dem Leser zu versichern, daß sich alle »glänzend unterhalten« hätten. Da es ein Ball war, wurde auf die Garderobe insbesondere der Damen der Gesellschaft ein besonderes Augenmerk geworfen. Dies führte zu detailgenauen Beschreibungen der extra für diesen Ball angefertigten Kleider, deren Besitzerinnen darauf bedacht waren, ihre mitanwesenden Konkurrentinnen auszustechen. In dem 1923 in der ›Fackel‹ erschienen Aufsatz ›Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid‹ hat Karl Kraus diese Beschreibetechnik dokumentiert. »Frau Präsident Goldstein wirkt in amethystfarbigem Crèpe de Chine mit weißen Perlstifteln ungemein distinguiert«. Es folgen viele weitere detaillierte Beschreibungen der allerneuesten Modekleider. Dann zieht Kraus die Bilanz: »Einem ehrlosen Staat bleibt nichts übrig als der Zuhälter einer ehrlosen Presse zu werden, die als ein Aussatz der ehrlosesten Zunft die Sprache zum Handwerk des Toilettendienstes prostituiert.« Was die ›Neue Freie Presse‹ für Karl Kraus war, der wichtigste Gegenstand seiner Presse- und Sprachkritik in den Jahren zwischen 1899 und 1936, das ist die Große Frankfurter für uns heute. Sie gibt alljährlich zwar keinen Presseball, aber lädt die ›Spitzen der Gesellschaft‹ in Berlin ins altehrwürdige ›Borchardt‹ ein, wo schon die ›Spitzen‹ der wilhelminischen Gesellschaft sich zu Speis und Trank eingefunden haben. »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« stellt die Gesellschaftsreporterin der Großen Frankfurter als Eingangsmotto vor ihren Bericht. Und da sie die journalistische Manier der Alliteration auch lange nach ihren Lehrjahren als entscheidendes Mittel bei der Überschriften-Findung nicht vergessen hat, schreibt sie: »Beschwingt, beschleunigt, beschwipst« — um in der nächsten Zeile, fast ein wenig erschrocken über ihren Wagemut, gleich wieder normalbürgerliche einschränkende Bedingungen zu setzen: »… aber alles in Maßen!« Das entschiedene Ausrufezeichen soll alle diejenigen Leser, die schon empört die Hände in die Hüften gestemmt hatten, davor bewahren, einen Leserbrief an die Redaktion zu senden, des Inhalts, wie denn in der renommiertesten Zeitung der Bundesrepublik solcherart Ausschweifungen überhaupt denkbar, ja durchführbar seien. Aber das ist eben das Charakteristische an Gesellschaftsberichten: Sie kommen mit einem Zwinkern in einem Auge daher und wollen in erster Linie unterhalten. Aber es soll auch die Zeitung selbst im Mittelpunkt des Interesses verbleiben, weswegen der Satz »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« denn auch die Concordiaballberichte widerspiegelt, insofern auch damals immer wieder betont wurde, daß der diesjährige Ball seinen Vorgänger übertroffen habe. Die Große Frankfurter hält sich ganz an die vorgegebenen Traditionen der Berichterstattung. »Manche Männer in Sakkos schielen neidisch zu denen, die die Sakkos schon abgelegt haben.« Wir werden zwar nicht mit einer detaillierten Beschreibung der jeweiligen Sakkos versorgt, dafür aber sogleich entschädigt durch die Versicherung, daß alle Gäste, an die fünfhundert waren erschienen, »geübt losplaudern«. Der Leser ist dankbar für diese Information, und wenn er auch selbst nicht eingeladen war, so ist es ihm doch eine Beruhigung, daß die anwesenden fünfhundert geladenen Gäste allesamt nicht nur ungezwungen miteinander plaudern konnten, sondern dies sogar »geübt« taten. Was nun den Inhalt der Gespräche betrifft, so hat die Berichterstatterin sich ganz nahe an die Gäste gedrängt, um dem Abonnenten der Großen Frankfurter nicht nur mit nichtssagenden Allgemeinplätzen zu versorgen, sondern ganz konkret zu werden. Schon hat sie einen Satz aufgeschnappt. Eine Ministerin, frisch aus Tunesien eingeflogen, berichtet ihrem Gesprächspartner, dort sei es »noch heißer« gewesen als hier im überfüllten ›Borchardt‹. Ein weiterer Minister sucht gezielt das Gespräch der Berichterstatterin und schenkt ihr und ihrer Zeitung den Satz, daß er schon deshalb gern komme, »weil das die erste Zeitung gewesen ist, die er als Oberstufenschüler las.« Eine beistehende Dame läßt sich nicht lumpen und vertraut der Berichterstatterin ganz im Vertrauen, hier vor allen Leuten an, daß auch sie eine andere Party »sausen« gelassen habe, um mit der Großen Frankfurterin zu feiern, die sie jeden Morgen als erste Zeitung lese. Um diese Schmeicheleien noch etwas mehr zu objektivieren, zitiert die Berichterstatterin einen hohen Herrn, der für den Schutz der Verfassung zuständig ist, und er sagt ihr ganz ungeniert, er habe gestern auf der Sommerparty des großen Nachrichtenmagazins aus Hamburg gesagt, er werde morgen zur Großen Frankfurterin sich hinbegeben, weil das »meine Lieblingsparty« sei. So wie die Damen auf den Concordiabällen einander mit noch schöneren und vor allem teureren Kleider auszustechen versuchten, so ist man als Gesellschaftsreporterin natürlich dankbar für solche qualitätsbewußten Vergleiche, und man unterläßt es denn auch nicht, sie drucken zu lassen, damit der weder da noch dort eingeladene Leser wenigstens von ferne aus in den Stand versetzt wird, sich durch Vergleich ein Urteil bilden zu können. Dann ist der Augenblick da, wo der Vorsitzende der ›Herausgeberkonferenz‹ das Wort ergreift. Das Wort ›Transformation‹ fällt. Stille im Saal. Der Herausgeber der Großen Frankfurter beruhigt seine Gäste und fügt hinzu, daß wir uns alle »in irgendeiner Transformation« befinden. Dann folgt der schwere, aber nicht zu unterdrückende Satz: »Der Zeitung werde auch nichts geschenkt.« Man hört förmlich die Eiswürfel in den Whiskygläsern schmelzen. Doch dann, nach dieser Sekunde der Besinnlichkeit und eingedenk der schweren wirtschaftlichen Lage der Großen Frankfurterin, schwingt sich der Herausgeber zu frohgemuten Optimismus auf und ruft in den Saal, daß man ungeachtet aller Schwierigkeiten die Lage beherrschen werde. »Yes, we can. And we will.« Mancher unter den Gästen mag sich dabei an die von einem damals gerade gewählten amerikanischen Präsidenten gesprochenen Sätze aus dem Jahr 2008 erinnert haben, aber was damals schon für viele zündend geklungen haben mag, kann auch wiederverwendet werden, vor allem, wenn einem Herausgeber nichts Besseres einzufallen scheint.

Im alten Wien legte man noch besonderen Wert auf eine feine Garderobe, das ist im Berlin dieser Jahre kein so großer Faktor mehr, auch wenn man natürlich einen Presseball nicht mit einer Sommerparty vergleichen darf. Aber halt, da stimmt was nicht. Und richtig, da fällt es dann doch auf. Eine Dame »im apricotfarbenen Kleid aus Italien, wie gemacht für diese Sommernacht«. Dagegen fällt der »hemdsärmelige« Minister dann doch merklich ab. Aber die Männer sollen ja auch, so war es jedenfalls noch im alten Wien, vor allem dazu da sein, die kostspielige Abendkleidung ihrer Damen zu bezahlen, selbst aber unauffällig bleiben. Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid.