»Was mag wohl der zureichende Grund für diese Naturkatastrophe sein?« fragte Pangloß. »Das Weltende ist gekommen!« schrie Candide voll Grauen. (Voltaire: Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten, 1759)
Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ach, guten Morgen Herr Professor, na, was macht ihr Gärtchen? Der viele Regen versaut uns noch unsere ganze Ernte. Alles versäuft, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, liebe Frau Pannemeyer, das ist die Natur, die macht, was sie will, obwohl natürlich durch die klimatischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten da auch der Mensch mit seinen vielen chemischen Treibstoffen hineinspukt.
Frau Pannemeyer: Die Natur spielt verrückt. Vor ein paar Wochen war es schrecklich heiß und die Sonne brannte auf mein Gärtchen herunter. Nun haben wir Dauerregen. Ich frage Sie, wie soll das nur weitergehen?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, die Natur wird immer unzuverlässiger, aber sie lügt auch nicht wie die Menschen es tun. Am ganzen Globus ändert sich was. Das Klima verschiebt sich. Das Abholzen der Wälder in vielen Teilen der Welt hat dazu beigetragen.
Frau Pannemeyer: Da sagen Sie was, man liest es ja jetzt fast jeden Tag. Schrecklich! Was soll noch aus der Erde werden? Müssen wir uns einen neuen Planeten suchen? Die Tochter von Frau Hebestreit, die Biggi, redet davon jetzt ständig, sie ist ja Ärztin, also muß sie wohl etwas vom Leben wissen, obwohl für solche Sachen doch irgendwie andere zuständig sind, meinen Sie nicht?
Prof. Friedrich Lensing: Nun ja, die Menschen haben inzwischen einen allgemeinen Wissensstand erreicht, da spielt es keine Rolle mehr, ob man studiert hat oder nicht. Das war in meiner Jugendzeit noch anders. Die jungen Menschen sind durch das Internet doch sehr gut informiert, auch wenn natürlich viel Quatsch sich dort tummelt. Aber sie haben gelernt, zu unterscheiden, und nur darauf kommt es an.
Frau Pannemeyer: Der Jüngste von meiner Nachbarin hat sich neulich mit einer Tube Klebstoff auf einer Autobahn festgeklebt. Dann kam die Polizei und hat ihn mit einem besonderen Klebstofflöser wieder vom Erdboden abgezogen. Ach, daß diese Kinder zu solchen Mitteln greifen müssen, es sind doch Kinder oder zumindest halbe Kinder, die sich zu solchen Sachen hinreißen lassen.
Prof. Friedrich Lensing: Es ist auf jeden Fall besser, als wenn die Jugend zuhause hocken würde und vor dem Computer sich dem Blödsinn der ganzen Welt ausliefert. Ich bewundere diese Kinder, es gehört Mut dazu, aber auch wahre Erkenntnis in das Getriebe der Welt. Und sie haben auch Phantasie gehabt, als sie sich Namen für ihre Sache ausgedacht haben: ›Fridays for Future‹ und ›Letzte Generation‹, auch wenn solche Bezeichnungen melancholisch machen, weil in diesen Namen ja auch eine gewisse Verzweiflung enthalten ist. Dennoch auf die Straße zu gehen und den passiven Zeitgenossen zu demonstrieren, daß man angesichts der bestehenden Klimakatastrophe sich rühren muß um den gewählten Politikern Dampf zu machen, das ist allemal jede Anerkennung wert.
Frau Pannemeyer: Ach, Herr Professor, Sie finden aber auch immer die richtigen Worte. Ich glaube, Sie sind selber noch so ein halbes Kind geblieben, womit ich nichts Schlechtes gesagt haben will. Sie haben etwas bewundernswert Kindliches in ihrer Art, über die Welt nachzudenken.
Prof. Friedrich Lensing (spricht jetzt sotto voce und beugt sich zu Frau Pannemeyer hinunter): Im Vertrauen, es gibt mich eigentlich gar nicht. Ich bin eine Erfindung meines Biographen, der für mich spricht und sich Zitate aus meinem Gesamtwerk heraussucht. Mein Name ist auch eine Fiktion. Der Vorname geht auf Friedrich Hebbel zurück und der Nachname auf Hebbels junge Geliebte, Elise Lensing, und als ich ein ganz junger Mann war, habe ich mein erstes Buch unter dem Namen Theodor Lensing herausgebracht, das war im Jahre 1893. ›Comödie‹ hieß das Werk. Mein wahrer Name ist Theodor Lessing. Am 31. August 1933 hat man mich in Marienbad erschossen.
Frau Pannemeyer: Ogottogott! Herr Professor, versündigen Sie sich mal nicht. Wie können Sie einer alten Frau einen solchen Schreck einjagen?!
Prof. Friedrich Lensing: Tun wir einfach so, als hätten Sie das jetzt eben gar nicht gehört. (Seufzt.) Wir stehen hier am Gartenzaun und freuen uns über unser begrüntes Stückchen Erde. Und was grünt und blüht hier nicht alles! Man braucht nur in die blanken lachenden Augen der Küchenkräuter zu blicken: Basilikum, Petersilie, Eiskraut, Majoran, man glaubt, unter gesunden Bürgerkindern zu sein. Liebliche Mittelstandsgesichter, in all ihrer Sauberkeit, aber auch so nüchtern wie gute Hausfrauen es nun mal sind. Nicht zu vergessen, die nur wegen ihrer Schönheit angepflanzten Blumen! Die leichten Iris in ihrer dahinzwitschernden Munterkeit sind kaltherzige Tanzmädel. Die Betunien und Winden, all die lieben Schlankdinger, Hübschdinger, Liebdinger sind Geishas, kleine holde Bajaderen. Die dicken Cinerarien sind Mädels aus dem Volk, ›die’s zu was gebracht haben‹. Opuntien haben völlig bankdirektoriale Gesichter. Georginen, Hortensien sind Tiller-Girls, amerikanisch schön und seelenlos. Aber die geliebtesten, die liebsten sind doch die Kinder aus dem untersten Volk. All die frechen kleinen Hybriden: Teufelsabbiß, Margareten, Feuerbällchen. Das alles blüht in meinem kleinen Garten, bewacht von den riesigen Sonnenblumen, welche aussehen wie treue, tappsige, zuverlässige Bärenmütter, und doch sich selber verzehren in zarter Sehnsucht zum Licht.
Frau Pannemeyer: Och, das haben Sie aber schön gesagt, fast wie gedruckt. Unsereiner ist da doch behindert in seiner Wortwahl.
Prof. Friedrich Lensing: Aber nein, machen Sie sich doch nicht klein! Sie müssen sich nur ganz dem Gefühl hingeben und beim Anblick der Pflanzen und Blumen herausfühlen, was sie ihnen sagen. Dann kommen die Worte von ganz allein. Das Schönste an der frei wachsenden Natur ist, daß sie nicht lügt. Sie ist auch unser bester Wetterprophet. Die wahren Propheten der Erde sind die Pflanzen und Tiere. Sie lügen niemals. Am Wachstum der Pflanzen und Bäume kann man manches ablesen, und leider hat sich doch auch manches verschoben. Es gibt keine ganz richtigen Sommer und keine ganz richtigen Winter mehr. So gibt es mittlerweile ein europäisch-amerikanisches Normalwetter: dauernder Alltagsmatsch mit gelegentlichen Hitze- und Sonnenferien und nicht allzu zahlreichen Kälteperioden.
Frau Pannemeyer: Das sage ich ja, das habe ich doch anfangs gesagt. Die Natur spielt verrückt. Und wenn ich Ihnen glauben soll, dann sind es die Menschen mit ihren verrückten Entscheidungen, die dazu beigetragen haben, daß wir in diesen Schlamassel hineingeraten sind.
Prof. Friedrich Lensing: Die Jahreszeiten verlieren das klare Gesicht. Alles vereinheitlicht sich. Die Landschaften verschleifen sich. Überall siegt zuletzt eine freudlose und labile Mitte. Für das ganze Jahr kann man prophezeien: miseriges Mickelwetter, viel Matsch, trüber Himmel, mißmutige Laune der Natur. Und dem passen die Pflanzen sich an und die Tiere sind wie die Menschen Opportunisten geworden. Sie werden immer menschlicher und unklarer. Die vielen Überschwemmungen und Erdrutsche der letzten Jahre sind ein deutliches Signal dafür. Daß dies Vorgänge sind, die durch falsche Bebauung ihr Vorspiel hatten, wäre wohl nicht ganz abzuweisen. Jedes unrichtige Verhalten der Menschen, etwa die Verschlechterung der Atemluft, trägt mit dazu bei, daß die Erde sich insgesamt vergiftet. Das wird sich alles rächen, denn gesundes Leben wehrt sich. Gesundes Leben, wenn man es schlägt, schlägt zurück. Mit Verleugnung dieser unbezweifelbaren Tatsachen kommt man nicht weiter, man verschlimmert den Zustand, bis ein Punkt erreicht ist, an dem es keinen Weg zurück mehr geben wird. Man darf ruhig von Wetter- und Klimaerkrankungen sprechen, darüber müßte eine weltweite Statistik geführt werden. Die Temperaturkrankheiten sind im Vormarsch. Heute pressen wir aus der Erde weit mehr heraus als ihr zuträglich ist, und so wird die Erde dann auch unfreundlicher zu uns.
Frau Pannemeyer: Wir können froh sein, daß wir hier unser Gärtchen haben, wo man dann doch noch alles unter Kontrolle hat und sich am Wachsen und Gedeihen erfreuen kann, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ich wollte Sie mit meinen Worten nicht beunruhigen, liebe Frau Pannemeyer. Als Philosoph und Naturbeobachter aus Leidenschaft kann ich mich manchmal, wenn ich so zu reden anfange, nicht bremsen. Ach, ich wollte ihnen doch ein Körbchen mit frisch gepflückten Himbeeren schenken, aber nun sehen Sie sich das an: alles am Strauch ist wegen des vielen Regens der letzten Tage verfault. Wie schade!
Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, und all die Mühe, die man sich gibt, alles umsonst. Wie traurig das ist. Und nichts kann man tun, damit das nicht passiert. Aber deshalb werde ich meinen Garten dennoch nicht zubetonieren, wie das mein Bekannter mir neulich vorgeschlagen hat. Da hätte ich dann keine Sorgen mehr! Es gibt Menschen, da steht einem der Verstand still. Wir werden weiter unseren Garten bestellen, trotz der Verluste, die uns schon so mancher Sommer beschert hat.
Prof. Friedrich Lensing: Liebe Frau Pannemeyer! Da haben Sie aber etwas gesagt. Das ist ja fast wörtlich der Schlußsatz von Voltaires berühmten Roman ›Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten‹ aus dem Jahre 1759. »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide. »Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen«.