Die Furcht hat die Götter geschaffen; der Schrecken ist ihre ständige Begleitung; es ist unmöglich, vernünftig zu urteilen, wenn man zittert. So verehren die Menschen zitternd die leeren Idole, die sie in den Tiefen ihres eigenen Gehirns errichten. Jedermann sieht die Sonne, niemand sieht Gott. Ein leeres Phantom, das man an die Stelle der Energie der Natur gesetzt hat. (Paul-Henri Thiry d’Holbach, 1770)

Die Evangelische Kirche Deutschlands und der katholische Verband der Diözesen Deutschlands haben in einem gemeinsamen Papier registriert, daß wegen des kontinuierlichen Schwunds der Kirchenmitglieder viele der bestehenden Kirchengebäude aufgegeben werden müssen. Es wird von einer »Konversionswelle« gesprochen, die auf die Sakralbauten zukomme, da jede dritte Immobilie nicht mehr gebraucht wird. Viele der Kirchen stehen unter Denkmalschutz, manche nicht. Schon in der Vergangenheit hat es den Abriß solcher Sakralbauten gegeben, aber auch die ›Umwidmung‹ in Gestalt von Wohnheimen oder, wie in New York, in eine Discothek. Für diejenigen unter den Gemeindemitgliedern, die weiterhin regelmäßig zum ›Gottesdienst‹ gegangen sind, ist dies ein einschneidendes Ereignis in ihrem Leben. Denn man betete ja nicht nur zu ›Gott‹, sondern das kirchlich gebundene Gemeindeleben bot Geselligkeit und Hilfe für viele, die in keinem anderen Verein oder Verband Mitglied waren. Doch die vielen anderen, die im Laufe der letzten Jahre aus der Kirche ausgetreten sind, hinterließ diese Entscheidung vermutlich keine innere Leere. Oder, wenn doch, dann hat man heute die Auswahl unter vielen anderen religiös orientierten Gruppen, die christliche oder christlich verbrämte Angebote feil halten, wobei auch die so genannten nach dem New Age-Glauben ausgerichteten Vergemeinschaftungen eine Rolle spielen. Hier wurde ein ›Gott‹ gegen einen anderen ›Gott‹ ausgetauscht.

Im Jahr 2009 gab es in mehreren europäischen Großstädten eine ›Atheist Bus Campaign‹, die mit dem Slogan »There’s probably no god. Now stop worrying and enjoy your life« für eine glaubensfreie Lebensform warben. Richard Dawkins, einer der Mitbegründer und berühmter Evolutionsbiologe, sagte, er hätte statt des Wortes »probably« lieber »almost certainly« bevorzugt.Es gibt einen längeren Aphorismus von Friedrich Nietzsche, ›Der tolle Mensch‹. Er erzählt von »jenem tollen Menschen«, der am hellichten Tag eine Laterne anzündet und dazu unaufhörlich schreit: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Die Umstehenden lachen ihn aus, sie gehören zu der heute immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die der Kirche und Gott den Rücken gekehrt haben und ein ganz säkulares Leben führen. Sie sehen ›Gott‹ nur noch im ironischen Licht, als Fabelwesen. Der tolle Mensch aber ruft ihnen zu: »Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?« Die Menschen verstehen seine Argumentation nicht, denn sie haben durch die hinter ihrem Rücken sich vollziehende Umwälzung der Produktionsverhältnisse ihre Lebenswelt so stark verändert, daß die Gottesprämisse einfach wegfallen konnte, weil sie nicht mehr zu den modernen Lebensbedingungen paßt. »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« ruft der tolle Mensch auf dem Marktplatz, damit nur bekräftigend, was inzwischen eine dominante Entwicklung auf dem Glaubenssektor geworden ist. Kirchen sind Anachronismen. Aber die Tatsache, daß durch die gesellschaftliche Entwicklung alle daran Beteiligten zu Mördern Gottes geworden sind, will diesen Mördern noch nicht zu Bewußtsein kommen. Den Menschen ist »die Größe dieser Tat« noch zu groß und unheimlich, um sie wirklich verstehen zu können. Das Ereignis hat sich ereignet, aber das Bewußtsein dieses Ereignisses wartet noch im kollektiven Unbewußten auf sein völliges Begreifen. »Diese Tat ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie dieselbe getan!« folgert der tolle Mensch, der mit seiner Erkenntnis den Menschen weit voraus ist und zugleich weiß, daß er sie nicht erreichen wird, da die Zeit dafür noch nicht reif, die Menschen dafür noch nicht reif sind. Der Abriß jeder Kirche aber ist ein Indiz dafür, daß irgendwann diese nüchterne Tatsache allen zum Bewußtsein kommt, und die Frage bleibt, ob die Menschen dann auf die »Libertas philosophandi« zurückgreifen werden, frei von kirchlichen Dogmen oder sektiererischen Glaubensgewißheiten und allein der ihnen durch ihre eigene Natur gegebenen Vernunft vertrauen. Unterhalten wir uns in ein paar tausend Jahren darüber.