In Heinrich Heines ›Religion und Philosophie in Deutschland‹ (1834) wird von einer Sage berichtet, worin ein englischer Mechaniker einen künstlichen Menschen hergestellt hat, und dieser Maschinenmensch konnte sich wie ein Mensch gebärden, ja, er trug in sich »sogar eine Art menschlichen Gefühls«, womit dieser Maschinenmensch den bis heute produzierten Robotern weit überlegen war. Ja, er konnte darüber hinaus »in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen«, wozu auch der mit der neuesten künstlichen Intelligenz ausgestattete Roboter nicht und ganz sicher niemals fähig sein wird — aber wir bewegen uns im Bereich der Sage und da ist alles möglich. Der Maschinenmensch verfügt deshalb auch über etwas, worüber nur menschliche Wesen verfügen können: Selbstbewußtsein. Da er so etwas hat, leidet er, und er leidet, weil ihm doch eine Sache fehlt, für die ihm merkwürdigerweise ein Sinn gegeben ist: eine Seele. Und so wendet sich der Maschinenmensch an seinen Schöpfer und ruft unablässig und flehentlich: »Give me a soul!« Heine kommentiert dies mit den Worten, dies sei »eine grauenhafte Geschichte«.
Die Stadt Hannover ruft, seit das Stadtmarketing ihr diese Vorstellung eingegeben hat, ebenfalls nach einer Seele, die sie aber nicht Seele nennt, sondern: Slogan. Wieso tut sie das und weshalb ist die Lokalzeitung bereit, mehrere Seiten damit zu füllen und den Lesern und damit Teilen der hannoverschen Öffentlichkeit weiszumachen, daß hier das besteht, was man in der Sprache der Bürokratie ›Handlungsbedarf‹ nennt? Die Lokalzeitung titelt: »Hannover – wer bist du?« Die Worte »Identität« und »Image« fallen, und ein Appell ergeht an die Leser, sich zu diesem künstlichen Thema zu äußern.
›Stadtluft macht frei!‹ hieß es zu mittelalterlichen Zeiten, als man von Marketingstrategien und Werbekommandos noch verschont wurde, denn es bedeutete, daß ein seinem Grundherrn entlaufener Bauer ein Jahr lang sich innerhalb der schützenden Mauern einer Stadt aufhalten und dort arbeiten mußte, um das Bürgerrecht auf ständigen Aufenthalt in der Stadt zu erhalten und so vor den Nachstellungen seines Grundherrn, der den Bauern als sein persönliches Eigentum betrachtete, sicher war. Man darf vermuten, daß der so Freigewordene der Stadt dankbar war, dankbar dafür, daß es sie gab und daß er sich dort ein neues Leben aufbauen konnte. Aber niemals hätte die mittelalterliche Stadt von ihm verlangt, sich einen Slogan für diese Stadt auszudenken und Werbung für den Fremdenverkehr zu betreiben. Es gab zwar Handel zwischen den Städten, aber der moderne Tourist war noch nicht erfunden und es gab auch kein Bedürfnis danach. Daher war es den Bewohnern auch völlig gleichgültig, wie die Stadt, in der sie lebten und arbeiteten, im Vergleich mit anderen Städten ›abschnitt‹. Erst das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, der Zerfall des traditionellen Handwerks und der Manufakturbetriebe führten dazu, daß die Städte unterschiedliche Erkennungsmerkmale aufzuweisen begannen, aber auch dann dauerte es noch lange, bis endlich die Stadt als Ware auftrat und man anfing, diese Ware zu vermarkten. »Diese unbeirrbare Großstadtsucht, die noch aus einem Hotelmord Hoffnungen auf Hebung des Fremdenverkehrs schöpft« kommentierte 1918 Karl Kraus die Neigung der Stadt Wien, sich größer zu machen als sie ist und jede Gelegenheit auszuschöpfen, um Reklame für Wien zu machen. Doch damals war man noch weit vom heute bekannten Stadtmarketing entfernt, die Bemühungen, Fremde (das Wort wird heute vermieden, man spricht lieber von ›Gästen‹ oder auch von ›Touristen‹), die man in die Stadt locken (dieses Wort allerdings schämt man sich nicht, offen zu gebrauchen, auch das Wort ›Claim‹ geht dem lokalen Journalisten locker von der Zunge) will, unter Ausnutzung aller Mittel und Methoden. So bewarb sich Hannover, allerdings vergeblich, um den Titel einer ›Kulturhauptstadt‹. Ja, die Städte in aller Welt glauben an den Fetisch Kultur und wollen Kulturhauptstädte werden. Kultur ist eine Ware, sie wird zum Verkauf in Ausstellungen präsentiert. Die Ausstellung ist die Stadt mit all ihren kommerziellen Interessen. Auch das wußte Karl Kraus schon, als er in einem berühmten Aufsatz mit dem Titel ›Die Kultur im Dienste des Kaufmanns‹ ein ganzes Fackel-Heft (34. Jg., Nr. 873–875, Mitte April 1932) damit füllte. Kultur wird zum Lockvogel, zum Anhängsel der Gastwirte und Hoteliers. Aber um die Fremden anzulocken, braucht man ein Schlagwort, einen Slogan, so die Vorstellung von Politikern und Wirtschaftsleuten, der so zündend ist, daß alle Welt sich von dem unbezwingbaren Drang erfüllt fühlt, eine Fahrkarte nach Hannover zu lösen oder mit dem eigenen Wagen sofort hierher zu fahren.
Bei Pop- und Rock-Konzerten ist es üblich geworden, das Publikum in das Bühnengeschehen einzubeziehen, und deshalb kommt im Laufe des Abends irgendwann der Moment, wo eines der Bandmitglieder die Arme hochwirft und rhythmisch in die Hände zu klatschen beginnt. Dann ist die Stunde der ›audience participation‹ gekommen. Und alle klatschen mit. Das dachte sich auch das Lokalblatt und sagte sich: wieso vergibt die Stadt für teures Geld Werbeaufträge an Agenturen, wenn man das Ganze kostenlos haben kann, wenn man die Leser zu unbezahlten Werbeschmieden macht und sie dazu auffordert, Sprüche zu erfinden, die für die Stadt Hannover werben.
Selbstverständlich gab es die zu erwartenden Reaktionen und das Blatt druckte eine Auswahl der Slogans ab. Sie unterscheiden sich nicht von den durch professionelle Werbetexter erdachten Sätzen. Sie gleichen ihnen sogar, was nicht überrascht, da auch die Sprache der Leserbriefe in den meisten Fällen dem Stil der Zeitung entspricht, die man liest. Es gab sogar Leser, die sich die Mühe machten, in ganzen Sätzen die Vorzüge Hannovers zu beschreiben. Die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand ist ein schwieriges Problem. Ludwig Wittgenstein hat sein ganzes Leben dieser Beziehung gewidmet. Das Problem bei Werbesprüchen für eine Stadt besteht darin, daß der Aussagegehalt in allen Fällen notwendigerweise willkürlich und sinnfrei sein muß. Nicht nur, daß man die Aussagen auf jede beliebige andere Stadt anwenden kann, nein, der Vorsatz, für eine Stadt einen Satz zu finden, der sie beschreibt, ist von vornherein zwecklos, es sei denn, man ist bereit, das zu glauben, was in dem Satz ausgesagt wird. In allen Fällen ist es heiße Luft, oder wie man jetzt auch gern sagt: Bullshit. Den Vogel hat die Industrie- und Handelskammer mit dem Satz ›Zukunft ist Programm‹ abgeschossen. Nicht einmal eine politische Partei, die das Wort Zukunft schon häufig auf Wahlplakaten hat pinseln lassen, würde diesen Satz, der ohne irgendeinen Bezug zu einer Wahrheit oder einer Wirklichkeit ist, übernehmen. Bullshit ist auch der Satz: ›Hannover, überraschend anders‹. Dem steht auch der Satz ›Hannover? Richtig gut!‹ nicht nach. Man braucht zur Probe nur statt Hannover einen anderen Stadtnamen einzusetzen, und schon wird die völlige Sinnleere deutlich.
Theodor Lessing hatte recht. Da er als kleiner Junge nicht die von der Mutter zubereitete Erbsensuppe essen wollte, brachte sie die Suppe unter anderen Namen auf den Tisch. So nannte sie die Erbsensuppe nun Schillersuppe, Lenausuppe, und als sie herausfand, daß ihr Kind für Johannes Scherr schwärmte, hieß die Suppe immer gelbe Scherrsuppe, und »dann aß ich alles in Begeisterung«. Als es mit der Verdauung nicht klappte, mußte das Kind einen aus Sennesblättern zubereiteten Tee trinken, aber die Mutter nannte das Abführmittel ›Blumentee‹. Der altgewordene Theodor Lessing zog daraus seine Lebensbilanz. »Man hat mir stets Sennesblätter vorgesetzt unter dem Namen Blumentee, Dummköpfe unter dem Namen Professor, Bösewichter unter dem Namen Landgerichtsdirektor, Menschenmörder unter dem Namen Medizinalrat. Ja, die Verblödung nannte sich immer Logik und die Entsinnlichung kam immer im Namen der Ethik. Und ich habe gläubig meine Sennesblätter getrunken, denn der Zweck heiligt die Mittel, und habe immer an die Blumen geglaubt, unten im Grunde der Tasse. Erst jetzt sehe ich allmählich ein: Es ist doch eigentlich alles nur der Zauber der Worte.« (Theodor Lessing: Zauber der Worte, 1929).