(Mit einer Verbeugung vor Kurt Tucholsky)

Kinder, nun gebt doch endlich mal Ruhe, wir sind hier der Kultur wegen. Eure Mutter wollte das so. (Herr Wendriner und seine unartigen Kinder betreten die Ausstellung ›Kleider. Geschichten. Der textile Nachlaß von Arno und Alice Schmidt im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg) Aahh, nun seht euch das mal an. (Zeigt auf die von Arno Schmidt selbstgefertigten Holzsandalen) Das ist noch handwerkliches Können, das sieht man heute auch nicht mehr oft. Fabelhaft, nicht ohne. Entspricht nicht irgendeiner Mode, aber gehen konnte man in diesen Brettersandalen schon. Ehre dem deutschen Handwerk. Sehr schön. Ich muß schon sagen, wer hätte das gedacht, daß dieser Arno Schmidt so arm gewesen ist. Und dabei doch so ein großer Künstler, obwohl das ja häufig ein und dasselbe gewesen ist, groß und arm. Jedenfalls bei den meisten Künstlern. Es gibt natürlich auch die ganz großen Verdiener, die können sich einen Porsche leisten und noch viel mehr. Eure Mutter hat mir erzählt, daß es einen italienischen Künstler gibt, der schimpft sich Piero Manzoni, der hat doch tatsächlich in Konserven abgefüllte ›Künstlerkacke‹ als Kunst ausgegeben, und der Kunstmarkt hat gesagt: Jawoll, das ist Kunst. Und was glaubt ihr, was man für eine mit dreißig Gramm Scheiße befüllte Dose auf einer Versteigerung bekommen hat? 110. 000 Euro! Ja, den Seinen gibts der Herr im Schlaf. Was würde die Nachbarschaft sagen, wenn euer Papa so was mit seinen Fäkalien anfangen würde, vielleicht mit einem Stand auf dem Bauernmarkt. Da käme in nullkommanichts die Polizei. Und mit Recht. Aber genug davon, nun laßt uns mal diese Ausstellungstücke genießen. Nun sehen Sie sich das hier an, haben Sie das gesehn, Herr Nachbar, dieser tiefblaue Wolldeckenmantel, den Arno seiner Alice gekauft hat. Beeindruckend in seiner Leuchtkraft und intensiven Schlichtheit. Wundern Sie sich nicht, Herr Nachbar, über solche Ausdrücke, das habe ich alles bei meiner Frau ausgeborgt, die kennt sich aus und kann sich gewählt ausdrücken. Und vielen Dank, Herr Nachbar, daß Sie mitgekommen sind, denn ohne eine zweite Aufsichtsperson könnte ich diese Rasselbande, die sich meine Kinder nennen, nicht im Zaum halten. (Ruft einem der Kinder zu) Leg’ das sofort wieder zurück, du bist wohl blödsinnig geworden, man faßt hier doch keine Ausstellungsstücke an! Oh, oh, kommt mal hier herüber, hier habense die ganze Wand als offenen Kleiderschrank aufgebaut. Nicht ohne, da gibts nichts. Mäntel, Hosen, Sakkos, Jacken, und hier unten, guckt mal, Dutzende von Schuhen, sowas habe ich zuletzt im Holocaust-Museum gesehen, als ich mit eurer Mutter drüben war, die Amerikaner kennen da ja nichts, die haben die Schuhe von ehemaligen KZ-Bewohnern auf einen Haufen getan, als kleine Erinnerung an vergangene Zeiten. Es hätte natürlich noch besser und übersichtlicher ausgesehen, wenn man sie wie hier schön ordentlich in Reih und Glied aufgestellt hätte. Da stand wohl irgendeine politische Absicht dahinter, weiß man’s? Mein Gott, das ist nun auch schon wieder fast hundert Jahre her, daß man die Juden umgebracht hat. Wie die Zeit vergeht.  Aber diese vielen Gedenkstätten, die man in Deutschland jetzt überall besuchen kann, und alle auf allerhöchstem technischem Niveau, mit allen Schikanen, beste Elektronik, Touchscreen und solchene Sachen, also man muß schon sagen: Respekt! Es geht doch nichts über eine tadellose Ordnung, nicht? Wie man alle Opfer des Naziregimes säuberlich registriert und mit nachlesbaren Lebensläufen elektronisch aufgereiht hat, das hat schon was. Das macht den Deutschen auch keiner nach, da müssense nur mal nach Italien gucken, da gibt es noch Sachen aus der faschistischen Zeit, da gehen Ihnen die Augen über, daß es die Sau graust. Man bekommt am Bahnhofskiosk sogar Rotweinflaschen mit Mussolini- und Hitlerfotos drauf. Das wird alles ganz legal verkauft, das würde sich hier doch keiner mehr trauen, aber die Italiener haben eben ein ganz entspanntes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit, das ist für sie alles Teil ihrer Geschichte und darum auch bewahrenswert. Oh, oh, hier, Kinder, nun schaut euch das an! Hemden, zum Teil noch originalverpackt! Die könnte man heute noch anziehen. Das würde auf dem Kunstmarkt sicher einen schönen Preis erzielen, gerade weil sie originalverpackt sind. Für den einzelnen Fan eine Nummer besser wäre allerdings dann das von Arno wenigstens einmal getragene Hemd, da käme man dem Meister noch näher. Man würde ihn praktisch hautnah erleben, erspüren, nicht? Für mich wäre das aber nichts, aber es gibt ja sone und solche Menschen. Nun schau mal einer an, sogar die Nachtnegligées der Madame Schmidt habense hier, pikant, aber ein bißchen große Kleidergröße, also mein Geschmack ist das nicht, aber Arno mochte es wohl eher füllig. Oh, oh, nun seht euch das an, Kinder, das ist was für euch. Eine Videowand, die alle zirka tausend Ausstellungsstücke per Zufallsgenerator zeigt. Nun kommt doch mal her, da könnt ihr euch noch genauer informieren, was die beiden Schmidts ihr Leben lang so anhatten. Natürlich, wenn ich im Laufe meines Lebens alle meine Sachen aufgehoben hätte, das hätte ein Theater mit eurer Mutter gegeben, nicht auszudenken wäre das gewesen, was die mir gekommen wäre von wegen alles aufheben. Sie sagt dann immer: Das trägt man heute nicht mehr, das ist völlig heruntergerissen oder: Diese Puddingflecken, mit denen du dich bekleckert hast, bekomme ich nie wieder raus, das Hemd gehört in den Müll, so kannst du dich nirgendwo mehr sehen lassen. Und so bin ich dann immer treu und brav zum Container getrappelt und habe die Textilien in die Klappe getan. Ja, von eurem Vater wird es keine Textil-Ausstellung nicht geben, aber ich bin ja auch nicht berühmt und deshalb ist es auch kein Schade, daß das Zeug weg ist. Was weg ist, wächst nicht nach, hat meine Mutter immer gesagt. Oh, still, Kinder, ich sehe gerade, daß der Vorsitzende der Arno-Schmidt-Stiftung ans Rednerpult tritt. Der will eine Rede halten. »Bei der Inventarisierung des Kleiderbestandes haben wir festgestellt, wie überraschend komplett und gut erhalten dieser Teil des Nachlaßes erhalten war.« (Herr Wendringer spricht im Flüsterton zu seinen neben ihm stehenden Kindern) Habt ihr das gehört? Ist das nicht ein feiner Zug von dem Herrn Vorstandsvorsitzenden, daß er aus den hinterlassenen Textilien eine Ausstellung zu Ehren des Schriftstellers Arno Schmidt gemacht hat? Textilien statt Text. Er hätte das alte Glump ja auch an einen fanatischen Schmidt-Anhänger für viel Geld verscherbeln können. Na ja, er hat selber Geld genug, da kann man auf eine weitere Einnahmequelle auch einmal nobel verzichten, nicht? So, das war sehr schön, nun haben wir aber genug gesehen, dann laßt uns mal gehen. Ob ich an den Vorstandsvorsitzenden herantreten sollte, um ihm eine Anregung für eine weitere Ausstellung zu geben? Denn Arno Schmidt hat sich ja auch ernähren müssen, da dürften doch noch einige Dosen Büchsenfleisch im Nachlaß zu finden sein. Und was ist mit dem Alkohol? Der war doch bestimmt kein Kind von Traurigkeit, eine auch nur halbgeleerte Flasche Kümmel macht sich doch prächtig in einer Ausstellung zum Thema ›Essen und Trinken bei Arno Schmidt‹. Na, ich laß es lieber, da können die von der Stiftung auch selber drauf kommen. Der absolute Knaller wäre aber, wenn man eine Ausstellung hinbekäme, die Arno Schmidt selbst zeigt, verstehnse, Herr Nachbar, also die Person, die echte Person, einbalsamiert praktisch, das wäre schon… könnense sich denken, was das für einen Skandal gäbe, obwohl es ja vor Jahren diese Leichenschau von diesem Kunstprofessor gegeben hat, da sind die Leute scharenweise hingeströmt, die konnten gar nicht genug kriegen von diesen wirklich sehr gut präparierten Leichen, die sahen wie lebensecht aus, warn sie aber nicht, alle schon tot, aber eben recht gut erhalten. Naja, man kann nicht alles haben. Und glaubense mir, Herr Nachbar, es ist letztendlich wie inner Ehe, nachher guckt man garnich mehr hin, was?