Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ja, lieber Herr Professor, was stehen Sie denn da in der Kälte in Ihrem Gärtchen inmitten der vielen schneebedeckten Tannenbäume? Da muß ich gleich an das Kinderlied denken. Wie geht das noch mal? (sinniert). Ach ja: Ein Männlein steht im Walde / Ganz still und stumm, / Sagt, wer mag das Männlein sein, / Das da steht im Wald’ allein?
Prof. Friedrich Lensing: Die erste Woche im neuen Jahr ist jedesmal schwer für mich, denn dann komme ich unvermeidlich an dem Platz vorbei, wo die Nachbarn ihre Weihnachtsbäume auf einem Haufen abgelegt haben, an manchen kann man noch etwas Silberhaar, Lametta, sehen, sogar etwas vertropftes Wachs auf einzelnen Zweigen, was mich immer wieder wundert, da doch die meisten Leute elektrische Kerzen inzwischen aufstecken und nicht die Wachskerzen, die stets das Potential eines Zimmerbrandes in sich tragen. Dieser Anblick der abgelegten und aufgegebenen Tannenbäume macht mich jedes Jahr traurig. Die Bäumchen hätten doch noch weiterleben können, entweder draußen in der freien Natur oder drinnen, indem man sie weiter mit Wasser versorgt. Wir hatten früher, als die Kinder noch im Haus waren, auch einen Weihnachtsbaum, obwohl das in einem jüdischen Haushalt nicht unbedingt vorgeschrieben war, aber wir waren ja keine Orthodoxen, sondern freie Geister, die aber dem Drängen der Kinder nach einem Weihnachtsbaum nachgegeben hatten. So durfte der Weihnachtsbaum dann Familienglück markieren, Stimmungszauber, Menschenliebe und frischen Waldesduft.
Frau Pannemeyer: Das tut mir furchtbar leid. Alles hat seine Zeit und die Weihnachtszeit ist ebenso begrenzt wie die Osterzeit oder der Sommerurlaub. Aber besser etwas als gar nichts, sage ich immer. Man muß die Feste feiern wie sie fallen.
Prof. Friedrich Lensing: Ihr sprichwörtliches Wissen in allen Ehren, aber das hilft mir auch nicht über meinen Schmerz. Als wir der Kinder zuliebe so einen Weihnachtsbaum in die Stube stellten, habe ich gleich zur Bedingung gemacht, daß er in einen Topf mit Wasser gestellt wurde, so blieb er nicht nur länger frisch, die Zweige sprießten in den Tagen und Wochen nach dem Fest munter weiter und wenn es Februar wurde, konnte man an vielen der Zweige hellgrüne Triebe erkennen. Das machte mich froh. Sicher, es gab auch Exemplare, die es kaum über Weihnachten hinausschafften, da rieselte es schon zu Silvester gewaltig und man mußte unter dem Baum die herabgefallenen Nadeln zusammenkehren. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Von wegen. Aber man hatte dem Baum doch eine Chance zum Weiterexistieren gegeben inmitten einer völlig fremden Wohnzimmerstubenatmosphäre.
Frau Pannemeyer: Ja, das ist manchmal eine Wirtschaft, das kann ich auf den Tod nicht haben, wenn der Baum nadelt und man dann die Nadeln ständig wegfegen muß. Irgendwann habe ich dann auch zu meinem Mann gesagt: Jetzt ist Schluß damit, ich kann diese Waldschweinerei in meiner Stube nicht mehr ertragen. Der Baum kommt weg und zwar ein für allemal. Dann haben wir im folgenden Jahr eine Plastiktanne gekauft und mit einer elektrischen Lichterkette geschmückt, also das war eine saubere Sache. Und der Baum wurde dann, wenn er seinen Dienst getan hatte, in die Abstellkammer gebracht und im nächsten Jahr wieder hervorgeholt.
Prof. Friedrich Lensing: Nein, nein, nein, nein! Diese Sitte aus Amerika, alles zu verkünsteln, ist mir ganz zuwider. Dann besser gar keinen Weihnachtsbaum als so eine Unkultur. Vor Jahren besuchte ich in Rom den seit 1821 bestehenden ›Cimitero acattolico‹ im Stadtteil Testaccio. Es ist der Friedhof der in Rom verstorbenen Ausländer. Es ist eine der schönsten Ruhestätten, für mich aber die einzige Stelle im neuen Rom, wo ich mich ganz daheim fühlte, ganz mir selber gehörig. Doch wenn diese seit langem verstorbenen Menschen auferstehen und die Umgebung betrachten könnten, diese entseelten toten Straßenzüge, die sechs- bis achtstöckigen Arbeiterkasernen, die Lichtreklamen, Autohallen, Kinoschilder, was wäre für sie wohl noch lebendig von dem Traum, der sie einst nach Rom in das selige Italien führte? Und so sehe ich diese aufgehäuften Weihnachtsbaumleichen nach Ende jeden Jahres in meiner Nachbarschaft auf dem Marktplatz liegen und denke an die Anverwandten der Tannen und Fichten, die von der Axt verschont blieben und in den Wälder weiterwachsen und zu großen schönen Gebilden werden, nur dazu da, der Erde gute Luft zu verschaffen und dem Spaziergänger ein Bild des Wohlgefallens.
Frau Pannemeyer: Ach, Herr Professor, Sie müssen sich das nicht so zu Herzen nehmen. Gegen die Tradition des Weihnachtsbaums kommen Sie nicht an. Unsere Tochter Biggi hat mir einmal erzählt, daß es diese Tradition schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts gibt. Das ist schon eine recht lange Zeit.
Prof. Friedrich Lensing: Aber eben doch nicht seit allen Zeiten, das bedenken diejenigen, die sich auf Traditionen berufen, nicht. Im 17. oder 16. oder 15. Jahrhundert gab es keine Weihnachtsbäume. Es ist eine protestantische Erfindung. Man wußte, daß man mit Sentimentalität und Lichterglanz die Menschen unter eine Religion zwingen könnte. Und sie haben Erfolg damit gehabt. Eine Unnatur ist es gleichwohl. Aber lassen wir das, mir wird kalt, es ist doch wieder ganz schön frostig geworden. Kommen Sie, ich lade Sie zu einer heißen Tasse Tee in mein gutgeheiztes Studierzimmer ein. Dann werden die Lebensgeister uns schon wieder besuchen.