Musikalisches
Dr M, Blues Bitch, bookwitch
Seit 40 Jahren forsche und schreibe ich über das Leben und Werk Theodor Lessings. Eigentlich wäre ich lieber Gitarrist in einer Band geworden, ich hatte auch als Schüler eine akustische Gitarre von meinen Eltern geschenkt bekommen, doch merkwürdigerweise gab es dazu keinen Gitarrenunterricht, und so blieb das Instrument irgendwann ungenutzt in der Ecke stehen während eine mechanische Schreibmaschine an dessen Stelle trat. So begann ich statt des Notenlernens das Tippen auf der Tastatur und später trat eine elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf und dann eine mit Typenrad an die Stelle der ›Monica‹, und schließlich, bis heute, verschiedene Modelle des Apple Macintosh.
Als Ersatz für das Spielen auf der Musikbühne, schreibe ich seit 2013 unter dem nom de plume ›Dr M‹, und seit 2016 auch (auf Englisch) unter dem Namen ›Blues Bitch‹ Konzertkritiken über Veranstaltungen in dem Musikclub ›Blues Garage‹ in Isernhagen: https://bluesgarage.de Hier finden Sie alle meine Gästebucheinträge auf einen Blick. Außerdem bespreche ich gelegentlich unter dem Namen ›bookwitch‹ Liveauftritte amerikanischer Bands, diese Beiträge sind ebenfalls hier zusammengetragen: https://archive.org/search?query=bookwitch&sort=creator
Denn auch Musik ist, wie Religion, eine alogische, irrationale, gefühlsmässig-unmittelbare Lebensmacht. Sie hat, genau wie die Religion, das bunte Narrenkleid des wirklichen Lebens von sich gestreift. Sie bietet nie etwas Bestimmtes, Einzelnes, Glatt-Umschreibbares. Sondern in ihr reduplizieren sich alle die tragenden Grunderlebnisse der Seele; all ihr Fluten und Ebben, Gehemmtsein oder Emporsteigen, Gesteigert- oder Bedrücktsein, alles Spannen, Entspannen, Zögern, Straucheln, Eilen, Stürmen; alles Stauen, Angleichen, Ausgleichen, Verwickelt- oder Befreitwerden, in dessen Formen unsre Willens- und Gefühlserregungen sich abspielen. (Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, 1908)
Ty Taylor
Dr M schrieb am Montag, 26. Juni 2017:
Der kleine Diktator im dunklen Anzug, feiner Weste und schwarzen Lackschühchen ist ein bereits am New Yorker Broadway aufgetretener Dreikäsehoch, ein Animateur und Charmeur, der agil wie ein Grashüpfer auf der Bühne herumturnt und in die hellauf begeisterte, dicht stehende Menge ruft: Ich kann euch nicht hören! Ich kann euch nicht hören! Jetzt machen wir die Welle! Linke Seite! Rechte Seite! Jetzt ihr in der Mitte! Und hoch! Die Lampen eurer Smartphones einschalten! Schwenkt sie hin und her! Jetzt steige ich zu euch herab! Jetzt gehe ich in die Kniebeuge! Jetzt geht ihr alle in die Hocke! Klatscht in die Hände! Zeigt die Faust! Stemmt sie nach oben! Jetzt die flache Hand! Sagt Hallo zu jemanden neben euch, den ihr nicht kennt! Ha! Ich sehe genau, wer es nicht tut! Jetzt müßte er ›Puppet on a String‹ singen, den 1967er Hit von Sandie Show, was wäre das schön. Er jongliert mit den Gefühlen der Masse. Und sie läßt es willig mit sich geschehen. Sie liebt ihn. Sie jubelt ihm zu. Sie leistet bedingungslosen Gehorsam. Ty Taylor ist der schwarze Frontmann der aus Hollywood stammenden Band Vintage Trouble. Als junger Mann singt er in einem Baptistenchor, heute wird er frenetisch gefeiert von einem vorwiegend sehr jungen Publikum. Sie kennen die Songs, sie sind bestens vorbereitet. Er ist der Auslöser von Schlüsselreizen. Er macht das perfekt. Ty spricht und singt von Deutschland, nicht von Germany, er findet die richtigen Worte über die Atmosphäre der Blues Garage, er übt sich in der bescheidenen Demutsgeste vor dem Publikum und sagt, wie dankbar er ist und daß er dessen Sympathie nicht als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Er zieht an der Posaune so wie Dolly Parton über ihre Gitarre streicht, als Showeffekt. Er ist ein Chamäleon, das sich an die Umgebungsfarbe anpaßt. Er redet nebulös von der Energie, die er im Raum fühlt und die durch kollektiven Wunsch jetzt durch die Mauern in die Welt hinausdringen soll, um Frieden und Verständnis unter den unfriedfertigen Menschen zu verbreiten. Als Tele-Evangelist wäre er längst Millionär. Politische Parteien würden haushohe Siege mit ihm erzielen, denn er hat echtes Charisma. Er ist ein schwarzer Tausendsassa und ein mit allen Wassern gewaschener amerikanischer Geschäftsmann. Er springt von der Bühne auf eine vertrauensvoll auf ihn wartende Menschenwoge, er ist der kühne stage diver, der gefahrlos auf den helfenden Händen der Fans surft und eine spektakuläre Runde dreht. Nach eineinhalb Stunden endet das Konzert ohne Zugabe. Die Zugabe ist es, die den deutschen Konzertbesucher erfreut und die er erwartet. Wir warten immer auf einen Nachschlag, nicht nur in der Kantine oder vor der Gulaschkanone. Wir durften Ty berühren. Das war das höchste der Gefühle. Einen Nachschlag gibt er nicht. Er ist das Fertigprodukt, das abgepackt im Ganzen konsumiert muß. Er ist the whole package. Zu einem Pfeifkonzert der vierhundertfünfzig Konsumenten kommt es nicht, wir schreiben das Jahr 2017, nicht 1967 (Flower Power & Protest) oder 1977 (Punk & Protest). Nächstes Jahr werden sie alle wiederkommen.