Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Horst Herold meets J. Edgar Hoover

 Horst Herold: Ich begrüße Sie, Mr. Hoover. Es hat lange gedauert, bis ich einen Gesprächstermin mit Ihnen bekommen konnte. Nun ist es soweit. Lassen Sie mich vorab eines klarstellen: Es ist Ihnen hoffentlich bewußt, daß Sie hier ein Sicherheitsrisiko darstellen?

J. Edgar Hoover: What the fuck?! Du german Schweinhund! Nobody fucks with J. Edgar!

Horst Herold: Und schon ist das Eis gebrochen. Was ich gerade gesagt habe, ist nicht aus der Luft gegriffen. Selbstverständlich habe ich mich auf unser Treffen gründlich vorbereitet und ein Dossier über Sie anlegen lassen.

J. Edgar Hoover: Dossier? A set of papers containing information about a person, often a criminal?

Horst Herold: Das ist zutreffend. Sehen Sie, wie Sie sicher aus meinem Dossier, das Sie ganz sicher auch haben anlegen lassen, wissen, war ich von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes der Bundesrepublik Deutschland. Unter meiner Führung habe ich das BKA zu einer modernen Ermittlungsbehörde und zum High Tech-Zentrum der terroristischen Verbrechensbekämpfung entwickelt. Ich bin der Erfinder der Rasterfahndung. Mein Satz »Wir kriegen sie alle« wurde damals während der Jagd auf die Terroristen berühmt. Dieses Selbstbewußtsein konnte ich allein deshalb entwickeln, weil ich die Fahndung auf der Basis von computergestützten Daten durchführen ließ. Natürlich muß man bedenken, daß es zu dieser Zeit noch keine überall verbreiteten Heimrechner gab, sondern klobige Maschinen in großen Räumen, die aber, wenn man sie intelligent fütterte, enorme Erfolge zeitigten. ›Inpol‹ nannte ich das System, mit dem ich viele der deutschen Terroristen festnehmen konnte. Aber dann, nachdem der deutsche Arbeitgeberpräsident entführt worden war, 1977, lagen mir zwar ganz konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort des Entführten vor, doch aufgrund menschlichen Versagens wurde diese Information nicht ins System eingegeben, ein Fernschreiben ging verloren, und so konnten die Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten in ihrem Versteck ermorden. Danach bin ich noch bis 1981 beim BKA tätig gewesen, aber meine Datenbanken wurden zunehmend der öffentlichen Kritik unterworfen, mir wurde gesagt, daß ich mit meinen Fahndungsmethoden den bürgerlichen Rechtsstaat untergrabe, und so ließ mich die Politik schließlich fallen. Ich wurde für »dienstunfähig« erklärt und frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Das war der Dank des Vaterlandes.

J. Edgar Hoover: Well, das tut mir leid, Sie scheinen ja doch ein ganz vernünftiger Mann gewesen zu sein. Man muß als führender Beamter einer Polizeibehörde immer guten Kontakt zur Politik unterhalten. Das ist mir immer gelungen.

Horst Herold: Sie sind von 1924 bis 1972 Direktor des FBI gewesen. Fast fünfzig Jahre an der Macht einer so bedeutenden Behörde verschafft einem doch einen ungeheuren Wissensvorsprung und versetzt Sie in die Lage, jeden Bürger, der Ihnen etwas Böses will, fertigzumachen, und zwar in ziemlich gründlicher Weise.

J. Edgar Hoover: Ich habe lediglich dem amerikanischen Staat meine Dienste zur Verfügung gestellt.

Horst Herold: Was haben Sie wirklich erreicht? Wenn ich mir die Fälle anschaue und die Resultate danebenhalte, so kann man sagen, daß Sie mit den unzähligen Einbrüchen in Privatwohnungen, dem Abhören von privaten Telefongesprächen, der Verwanzung von Privaträumen, der gewaltigen Sammlung von pornographischen Fotos von Personen, die sie jederzeit damit erpressen konnten, zwar eine ungeheuer umfangreiche Sammlung von Dossiers haben zusammentragen lassen, aber das Ergebnis ist dagegen mehr als bescheiden. Ja, im Falle der fast schon von Besessenheit erfüllten Jagd auf die amerikanische kommunistische Partei, die in der politischen Öffentlichkeit keine Rolle gespielt hat, stelle ich fest, daß Sie vielen Angehörigen dieser Partei die Lebenschancen zerstört haben.

J. Edgar Hoover: Das ist alles kommunistische Propaganda. Ich habe in vielen Artikeln und Büchern auf die kommunistische Weltgefahr hingewiesen und vor dem Untergang der amerikanischen Zivilisation gewarnt.

Horst Herold: Die Bücher, die Sie erwähnen, tragen Titel wie ›Persons in Hiding‹ (1938), ›Masters of Deceit‹ (1947) und ›A Study of Communism‹ (1962). Die haben Sie aber nicht selbst geschrieben, das haben Ghostwriter für Sie erledigt. Und die Einnahmen aus dem Verkauf dieser Titel hat Sie sogar reich gemacht. ›Masters of Deceit‹ ist im Verlag eines sagenhaft reichen texanischen Ölmagnaten erschienen, auf dessen Anwesen in Kalifornien haben Sie und Mr. Tolson häufig Urlaub gemacht, eine anrüchige Angelegenheit, denn Staatsdiener dürfen sich eigentlich nicht von Multimillionären einen extravaganten Bungalow-Urlaub spendieren lassen. (Ich habe diese und andere Details der sehr aufschlußreichen Studie von Tim Weiner über das FBI entnommen.) In fünf Städten der USA standen ständig fünf gepanzerte Cadillacs als Ihre Fahrbereitschaft zu Ihrer Verfügung. Täglich haben Sie sich in Washington im exklusiven Mayflower Hotel eine Mittagsmahlzeit servieren lassen. Sie haben einen recht luxuriösen Lebensstil gepflegt.

J. Edgar Hoover: Was wollen Sie mir vorwerfen? Daß ich wie jeder Amerikaner die Chancen ergriffen habe, die sich mir boten? Soll das kriminell sein? Ich werde Ihnen sagen, was kriminell ist: Wenn Kommunisten versuchen, diese Gelegenheiten für ein schönes Leben systematisch zu bekämpfen und uns alle unter ihre totalitäre Herrschaft zu bringen versuchen.

Horst Herold: Nochmal zurück auf die Erfolgsbilanz Ihrer Jahre beim FBI. Sicher haben Sie in Ihrer Anfangszeit den einen oder anderen Gangster dingfest machen können, doch verblaßt das meines Erachtens im Vergleich zu dem teuren und eigentlich völlig nutzlosen Überwachungskampf gegen einen imaginären inneren Feind. Immer wieder wurde auch deutlich, wie schlecht organisiert das FBI war, ja, daß es Zeiten gab, nach Ihnen, wo der Direktor des FBI sich weigerte, mit dem amtierenden Präsidenten zu sprechen. Als die Anschläge auf die Twin Towers in New York geschahen, bemerkte man hinterher, daß das FBI über viele Informationen verfügt hatte, die zur Verhinderung dieses Verbrechens hätten führen können, aber die Koordination innerhalb des Systems versagte, nicht zuletzt auch deshalb, weil völlig veraltete Computer dies verhinderten.

J. Edgar Hoover: Wie können Sie so etwas behaupten?! Ich habe unter sechs amerikanischen Präsidenten gedient und alle waren sie mit mir mehr als zufrieden. Lyndon B. Johnson hat mir per Präsidialerlaß ermöglicht, daß ich auch nach Erreichen des Rentenalters weiter an der Spitze des FBI stehen konnte. Lyndon B. Johnson und Richard Nixon haben mich häufig mehrmals am Tage angerufen und meinen Rat gesucht.

Horst Herold: Das ist richtig, aber 1973, ein Jahr nach Ihrem Tod, wurden die ›COINTELPRO‹-Papiere publiziert, die das ganze Ausmaß Ihrer seit Jahrzehnten betriebenen verdeckten Ermittlungen gegen unbescholtene amerikanische Staatsbürger offenlegten. Allein von 1956 bis 1971 haben Sie mindestens zweitausend illegale Maßnahmen gegen zivile Organisationen befohlen. Das hat Ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung Ihrer Person sehr geschadet. Sie fielen tief, von dem allseits verehrten Herold der Sicherheit zum heimlichen Erschaffer eines Überwachungsstaates.

J. Edgar Hoover: Ich lasse mir doch nicht von Ihnen meinen überaus erfolgreichen Kampf für Recht und Ordnung durch solche Redereien kaputtmachen. Im übrigen: Sie sind bereits nach zehn Jahren von Ihrem Posten als Präsident des BKA entbunden worden.

Horst Herold: Auch das ist richtig, aber ich habe nie versucht, das demokratische Gemeinwesen zu untergraben mit den von Ihnen praktizierten zweifelhaften Methoden, die am Ende nicht einmal irgendeinen Erfolg erbracht haben. Im Vergleich zu Ihrer Machtstellung, bei der Sie vorgesetzte Minister, wenn Entscheidungen anstanden, einfach übergangen haben, war meine Position als Präsident des BKA mehr als bescheiden. Es gab natürlich Kritik an meiner Amtsführung, so von einem bekannten Schriftsteller und Essayisten — den werden Sie jetzt nicht kennen — Hans Magnus Enzensberger, der hämisch über mich gesagt hat: »Seine Macht ist aus der Software eines Computers gewachsen. Von seinem Wiesbadener 40-Millionen-DM-Hauptquartier aus gebietet er über das modernste polizeiliche Datenverarbeitungssystem der Welt. Von diesem ›Lagezentrum‹ aus erreicht er, bei kürzesten ›Zugriffszeiten‹, die Rechner der Landeskriminalämter und das Datennetz der Interpol. Die Gestapo konnte von technischen Mitteln dieser Reichweite nur träumen. Horst Herold will uns einen sozialdemokratischen Sonnenstaat bescheren.« Ja, schön wär’s gewesen oder besser gesagt: das habe ich gar nicht angestrebt. Vieles ist in infamer Weise mißdeutet worden, so die Versuche der Mustererkennung. Wir verfolgten ein System des ›technischen‹ Datenschutzes, das den Computer so konstruiert, daß Mißbräuche von Personendaten bereits physikalisch-technisch ausgeschlossen werden. So wurden zum Beispiel Vorkehrungen getroffen, daß ›Bewegungsbilder‹ schon deshalb nicht entstehen können, weil die Protokollier- und Aufzeichnungsmöglichkeiten für solche Bilder auf Magnetplatten physikalisch unterbrochen wurden. Das BKA ist nur eine Verteilungsstelle der parallel geführten Informationen an die Rechner der Landeskriminalämter, die die Anfragen beantworten. Wer wann über wen anfragt, erfährt das BKA gar nicht. Dies schließt aus, daß das BKA ›Bewegungsbilder‹ erstellen und zentrale Macht gewinnen kann. Die Kriminalpolizei hat in sämtliche Polizeirechner das Prinzip der ›Spurenlosigkeit im System‹ hineinprogrammiert. Dies bedeutet, daß weder Anfragen noch Antworten vom INPOL-System aufgezeichnet werden, sie werden sofort wieder vergessen. Entgegen den Behauptungen der gegen den Begriff ›Rasterfahndung‹ gerichteten Kampagnen ist diese die einzig mögliche Form einer polizeilichen Fahndung, die Unschuldige und Nichtbetroffene dem Fahndungsvorgang fernhält.

J. Edgar Hoover: Mmhh, das scheint mir nicht effektiv zu sein, man will doch alles das, was man aufnehmen kann, auch im Gesamtüberblick vor sich liegen haben.

Horst Herold: Ich glaube, Ihr Impuls, alles aufnehmen und kontrollieren zu wollen, läßt sich zurückführen auf Ihre Zeit in der Library of Congress in Washington, als Sie für eine Weile in der Titelaufnahme beschäftigt waren. Der Schritt von der Erfassung eines Buches mit allen seinen typischen Merkmalen zum Menschen als Objekt der totalen Datenerfassung ist nicht weit. Es kam ihrem instinkthaften Trieb nach absolutem Wissen und der freien Handhabung über dieses Wissen nahe.

J. Edgar Hoover: Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Der englische Philosoph Jeremy Bentham hat die Konstruktion eines perfekten Gefängnisses beschrieben. Er hat es ›Panopticon‹ genannt. In der Mitte dieses Panopticons steht ein Wachturm, von dem aus die dort stehenden Wächter die rundherum angeordneten offenen Gefängniszellen einsehen können. Die Konsequenz dieser Konstruktion ist die, daß alle Gefangenen diesen Überwachungsblick in ihr aktuelles Verhalten einbauen. Sie nehmen in Gedanken die zu befürchtende Bestrafung vorweg und orientieren sich an dem Blick des Wächters auf dem Turm. Das ist doch einfach großartig, denn so verringert sich das strafbare Verhalten, einfach durch Selbstkontrolle und die Angst, bei einer Straftat erwischt zu werden. Damit aber auch die Wächter sich an die gesetzlichen Vorschriften halten, hat Bentham vorgesehen, diese Konstruktion zu erweitern, indem weitere Wächter hinzugezogen werden, die wiederum die vor ihnen stehenden Wächter beobachten. Und natürlich wissen die Primärwächter, daß sie von den Sekundärwächtern beobachtet werden, und das kann dann immer weiter fortgeführt werden mit einer dritten und vierten und fünften Dimension, so daß am Ende jeder jeden kontrolliert und für die Einhaltung des Gesetzes sorgt.

Horst Herold: Das ist genau die Gesellschaft, die ich nicht haben will und die ich während meiner Zeit beim BKA auch niemals angestrebt habe. Auf für mich persönlich tragisch-ironische Weise habe ich allerdings nach meiner Versetzung in den Ruhestand von 1981 bis 2017, sechsunddreißig Jahre lang, auf dem Gelände des Bundesgrenzschutzes in einem auf meine Kosten errichteten Haus wohnen müssen, da die Bundesrepublik Deutschland sich nicht in der Lage sah, mich polizeilich vor Terrorangriffen zu schützen. Ich war der letzte Gefangene der ›Rote Armee Fraktion‹ (RAF). Ich wollte ein Buch über die RAF schreiben, aber der zuständige Minister hat mir keine Akteneinsicht gestattet. So bin ich dann ein Jahr vor meinem Tod mit 95 Jahren nach Nürnberg gezogen, wo ich früher als Polizeipräsident gewirkt hatte.

J. Edgar Hoover: Eine traurige Geschichte. Das ist mir erspart geblieben, aber ich hatte auch jederzeit alle Trümpfe in der Hand. Das hätte einer der Politiker wagen sollen, mir Akteneinsicht zu verwehren! Ich habe denen Akteneinsicht verwehrt, natürlich nur aus Sicherheitsgründen, im Interesse des Landes. Sie glauben nicht, was ich mit Kongreßabgeordneten und Senatoren alles erleben mußte. Unsere Behörde hatte aber ausreichend Belastungsmaterial in der Hinterhand, Tonbandmitschnitte von Sexparties und die dazugehörigen Fotos von Politikern in äußerst kompromittierenden Stellungen. Da wagte keiner, mir vor den Karren zu fahren. Den hätte ich zerquetscht wie eine Laus.

Horst Herold: Ich habe einen ganz anderen kriminalsoziologischen Ansatz gehabt. Es ging mir weder um die Erpressung von Politikern noch um die Jagd nach einem imaginären Feind, sondern um eine präzise Bestandsaufnahme einer gegebenen Situation. Wissen Sie, ich war als Kind Teil der kommunistischen Jugendbewegung und als Student Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und da habe ich auch viel gelesen, Marx zum Beispiel. Das haben längst nicht alle damals gemacht, die sind teilweise nur mitgelaufen, weil sie ein Gemeinschaftserlebnis fühlen wollten. Mein Marx-Studium hat mir gezeigt, daß der sogenannte dialektische Materialismus der wichtigere Teil des Marxismus ist. Das bedeutete für meine polizeiliche Arbeit: Man mußte das Weltbild der Gegenseite kennen und dann die kriminalistischen Grundrechenarten anwenden. Man mußte sich gedanklich in den Gegner hineinarbeiten. Wenn man das machte, und das habe ich gemacht, dann wußte man, daß er so und nicht anders handeln würde. Man mußte den dialektischen Materialismus als Analysehilfsmittel benutzen. Es nutzt nämlich gar nichts, wenn man sich wie die durch die Massenmedien paralysierten Politiker und Wähler von den oberflächlichen Schlagzeilen über die Terroristen verrückt machen läßt, das führt nur zu Gegenterror, nein, indem man sich der anderen Seite anschmiegt und versucht, wie sie zu denken, kommt man ihnen näher, und nur so erzielt man dann auch Fahndungserfolge.

J. Edgar Hoover: So tief wie Sie denke ich nicht. Mir hat es stets gereicht, daß ich wußte, auf welcher Seite ich stand: auf der richtigen.

Horst Herold: Das ist ein schlimmer Fehler. Sie ahmen damit nur die andere Seite nach, auf der gefühlsmäßigen Ebene, erreichen aber niemals ihre Mentalität, die sie vorantreibt. Sie sind damit eigentlich auch nichts anderes als diejenigen, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Aber wenden wir uns doch der Seite Ihres Wesens zu, die nach Ihrem Tod bis heute sich gegenüber Ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit stark in den Vordergrund geschoben haben. Was ist mit Clyde Tolson? Sie haben mit ihm zusammengelebt. Waren Sie ein Paar?

J. Edgar Hoover: Wir haben eine Wohnung miteinander geteilt und sind auch auf vielen sozialen Veranstaltungen gemeinsam aufgetreten. Ein spirituelles Band führte und hielt uns zusammen.

Horst Herold: Tolson war ihr Protégé und stellvertretender FBI-Direktor. Sie sind mit ihm verreist und waren für viele Jahre gemeinsame Bewohner eines Apartments. Er hat nach Ihrem Tode eine halbe Million US-Dollar von Ihnen geerbt, das sind in heutiger Umrechnung immerhin fast vier Millionen US-Dollar. Das alles sieht doch sehr nach einer eheähnlichen Verbindung aus. Präsident Nixon nannte Sie im privaten Rahmen »that old cocksucker«.

J. Edgar Hoover: Was hat Nixon nicht alles gesagt?! Sie kennen doch gewiß die Watergate-Tapes. Das von Ihnen zitierte Wort ist in den Vereinigten Staaten im übrigen weit verbreitet und wird bei vielen Gelegenheit gebraucht, damit ist nicht immer und unbedingt etwas Sexuelles verknüpft.

Horst Herold: Von Ihnen und Ihrem Mitbewohner Clyde Tolson gibt es ein Foto aus dem Jahr 1939, wo Sie beide in Lounge Chairs sitzen, beide mit identischen zweifarbigen Schuhen.

J. Edgar Hoover: Das war ein Sonderangebot, da hat Mr. Tolson zugegriffen. Zwei Paar zum Preis von einem. Sowas hat er sich nie entgehen lassen.

Horst Herold: Was mich an der ganzen Sache sehr irritiert, ist die Tatsache, daß sie beide für viele Jahre eine gemeinsame Wohnung unterhielten und sich auch als Paar in der Öffentlichkeit ungeniert gezeigt haben. Sie haben auch keine Zeit damit verschwendet, eine heterosexuelle Fassade aufzubauen und sich mit Frauen in der Öffentlichkeit gezeigt. Könnte es nicht sein, daß es niemals zu einem von den Medien lancierten ›Outing‹ gekommen ist, weil niemand im Washingtoner Pressekorps es gewagt hätte, Sie öffentlich bloßzustellen? Die Konsequenzen für den Journalisten wären vielleicht sogar letal gewesen. Sie hätten vielleicht etwas veranlaßt, wie es Cary Grant in Alfred Hitchcocks Film ›North by Northwest‹ (1959) geschah, der zuerst mit Whisky abgefüllt und dann in einen Wagen ans Steuer gesetzt wurde, dessen Bremsen vorher außer Funktion gesetzt worden waren?

J. Edgar Hoover: Das sind Hollywood-Phantasien. Wer meine Arbeit im FBI kennt, wird niemals solchen Unsinn vermuten.

Horst Herold: Nun, wenn Sie sich heute über Ihre Person informieren wollen, tauchen diese Geschichten immer wieder auf, sogar Spielfilme handeln davon. Sie sind zu einer Art Frankenstein geworden. Und man zeichnet Sie als eine ›Drag Queen‹, die High Heels trägt und künstliche Wimpern.

J. Edgar Hoover: Wie ich eben schon sagte, das sind Hollywood-Phantasien, das ist die Rache an meiner Person durch diese Liberalen und Linken, die in der Scheinwelt ihrer Filme leben und mich schon zu Lebzeiten immerzu diskreditiert haben.

Horst Herold: Verlassen wir diesen Themenkomplex einfach und lassen die Dinge auf sich beruhen. Ihre Beziehungen zu den amerikanischen Kirchen haben sich einer ganz besonderen Aufmerksamkeit erfreut. Mir liegt eine Studie vor, die gerade erst publiziert wurde, basierend auf vielen bisher unbekannten Dokumenten aus den Archiven des FBI. Die Studie heißt ›The Gospel of J. Edgar Hoover. How the FBI Aided and Abetted the Rise of White Christian Nationalism‹, geschrieben von Lerone A. Martin, Princeton University Press 2023. Darin werden viele bislang unbekannte Dokumente zitiert, zum Beispiel Briefe von Kirchenmitgliedern, die sich an Sie gewendet haben in der Hoffnung, daß Sie ihnen spirituellen Rat geben, aber auch, daß Sie Ihnen vertraulich mitteilten, ihren Pastor zu verdächtigen, ein heimlicher Kommunist zu sein. Das waren praktisch Denunziationen. Sie sind auf solche schriftlichen Anfragen immer gern eingegangen und haben es nicht versäumt, den Fragestellern neben ein paar persönlichen Worten auch, ähem, ›Informationsmaterial‹, per Post zuzustellen, Aufsätze und Artikel, die Sie geschrieben haben oder haben schreiben lassen.

J. Edgar Hoover: Das waren alles gottesfürchtige Menschen, die in ihrer Not sich an mich wandten, um einen Ausweg zu finden.

Horst Herold: Hinter diesen gottesfürchtigen Menschen standen aber weiße Evangelisten, die zusammen mit ihren mächtigen Organisationen einen nicht unerheblichen Einfluß auf das Meinungsklima in den USA ausübten. Sie standen doch nicht nur in Verbindung mit diesen Kirchenleuten, sondern haben für Ihre Agenten alljährliche religiöse Tagungen arrangiert, die auf mich wie ein militärisches Trainingslager für fanatische Christen wirken. Das FBI war auch ein ausschließlich weißer, männlich dominierter Verein. Sie sahen sich als Soldaten in der Armee Gottes, und dieser Soldat kämpft sein Leben lang dafür, daß Amerika eine weiße christliche Nation bleibt. Wer da nach Ihrer Einschätzung nicht dazugehörte, der war Teil der Blasphemie und Subversion und mußte unnachsichtig überwacht und, wenn nötig, ausgeschaltet werden. So entstand dann der Glaube, daß es bei der Ausübung des täglichen Dienstes als FBI-Agent nicht so sehr darauf ankam, das Gesetz nicht zu brechen, sondern vor allem Gott zu folgen. Das war praktisch ein Freifahrtschein für alles das, was man dem FBI später an illegalen Aktionen nachweisen konnte.

J. Edgar Hoover: Wenn es aus den richtigen Gründen geschieht, sind alle Mittel erlaubt, die zu einem gesetzten Ziel führen. Die christlichen Werte hatten immer Vorrang vor den legalen Prinzipien. My help cometh from the Lord. Das war mein Grundsatz. Amerika mußte gerettet werden vor der weltkommunistischen Flutwelle. Das FBI war die legitime Erweiterung des christlichen Staates.

Horst Herold: Sie haben das FBI als Ihre eigene Kirche mißbraucht, und das alles auf Kosten des Steuerzahlers. So wurde Ihr Buch ›Masters of Deceit. The Story of Communism in America and How to Fight It‹ von einem Team ihrer Mitarbeiter verfaßt, und das während der Dienststunden. »Alles was wir brauchen ist Glaube« — solche Allgemeinplätze stehen in diesem billigen Machwerk. Es verkaufte sich phänomenal, stand auf Platz 1 der New York Times-Bestseller-Liste für zehn Wochen. Ein pseudoreligiöses Pamphlet, das Ihnen den Ruf eines evangelikalen Kalten Kriegers eintrug. Einer Ihrer Gefolgsleute formulierte es so: »What the Communist party is in the vanguard of the world revolution, the evangelical movement must be in the world revival.«

J. Edgar Hoover: Was Sie da alles vorbringen, berührt mich ganz und gar nicht. Ich kenne Leute wie Sie, ich habe sie mein ganzes Leben lang beobachtet und beobachten lassen.

Horst Herold: Wie schade, ich hatte doch ein wenig gehofft, daß Sie nun, nachdem Ihr weltliches Leben seit langem beendet ist, in der Unterwelt vielleicht doch in manchen Dingen ein Einsehen haben und sogar manche Dinge, die Sie in Gang gesetzt haben, aus der Distanz kritisch betrachten könnten.

J. Edgar Hoover: Diese Rhetorik ist mir nur zu gut bekannt. Vergessen Sie’s. Es handelt sich um ein welthistorisches Ringen zwischen den Kräften des Guten und des Bösen. Da gibt es keinen Mittelweg.

Horst Herold: Ja, ich verstehe. Dann leben Sie wohl, Mr. Hoover. Bei Ihnen ist Hopfen und Malz verloren.

J. Edgar Hoover: Ich muß zu meinem Bibeltreffen. Wir haben ein wöchentliches Treffen aller ›Hooverites‹. Sie waren ja als Kind dem Kommunismus ausgesetzt. Kommen Sie doch mit, es ist nie zu spät für eine Umkehr, wir können auch Jugendsünden vergeben. Das kriegen wir hin. Wir drehen Sie um. Es ist immer Zeit für eine Entscheidung. Finden wir nicht den Weg zurück zu Gott, so werden wir vom Virus der Sünde zerstört werden. Jede individuelle Seele kann gerettet werden. Amen and Hallelujah!