Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

 Alfred Hitchcock meets the Marquis de Sade

 Denn Mordhölle ist der Wald, Mordhölle das Meer, Mordhölle der Dschungel, Unterholz, Moor. Alles Leben – unbegreifliches Grauen. (Theodor Lessing, 1933)

Alfred Hitchcock: Nehmen Sie doch noch von der Seezunge, die habe ich extra aus Dover einfliegen lassen!

Marquis de Sade: Einfliegen lassen?! Wir befinden uns im Elysium, da kann man nichts von der Erde einfliegen lassen.

Alfred Hitchcock: Im Kino geht alles. Ich habe immer gegen die Wahrscheinlichkeitskrämer angefilmt, die gemeint haben, jedes Geschehen müsse bestimmte Wahrscheinlichkeitskriterien erfüllen. Pah! Die Wahrscheinlichkeit interessiert mich nicht. Sie ist das Einfachste von der Welt. Es bliebe nur noch eins übrig: Dokumentarfilme zu drehen. Wozu aber bin ich Spielfilmregisseur geworden, wenn ich nicht gegen solche Gesetze verstoßen dürfte? ›Ein Stück Leben‹ filmen, das habe ich nie gemacht. Aber auch den reinen Phantasieprodukten bin ich immer aus dem Weg gegangen. Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat. Ein Filmemacher hat nichts zu sagen, er hat zu zeigen.

Marquis de Sade: Aha, daher weht der Wind! Sie sind ja ein ganz schön Aufsässiger, gerade so wie ich. Das wird aber ein netter Abend werden.

Alfred Hitchcock: Das will ich meinen. Ich darf doch noch einmal nachschenken? In Kalifornien, in meinem Haus, hatte ich einen großen Weinkeller, der nur die ältesten, besten und teuersten Weine beherbergt hat. Inzwischen habe ich aber hier aufholen können, was Sie hier auf dem Tisch sehen, sind alles Flaschen aus eigenen Beständen. Die Unterwelt muß ja nicht immer die Hölle auf Erden sein. Dieser 1964er Château Margaux wird Ihnen munden.

Marquis de Sade: Meinen Weinkeller auf meinem Schloß Lacoste hat der Mob am 17. September 1792 geplündert.

 Alfred Hitchcock: Wie bedauerlich! Und Sie sind dann auch für so viele Jahre eingekerkert gewesen. Das Trauma meines Lebens! Aus dem glücklicherweise niemals Realität geworden ist. Dafür habe ich aber in meinen Filmen dieses Thema in allen grausamen Einzelheiten dargestellt: unschuldig eingesperrt zu sein.

Marquis de Sade: Heute wird das gern zugegeben, daß ich unschuldig eingeschlossen worden bin, aber damals brauchte man einen adeligen Sündenbock, auf dem man alle die Laster und Verbrechen, die die damalige adelige Gesellschaft auf dem Gewissen hatte, abladen konnte.

Alfred Hitchcock: Verlassen wir doch dieses unangenehme Thema! Lassen Sie uns stattdessen über die Möglichkeiten des Kinos sprechen.

Marquis de Sade: Nur zu, obgleich ich damit natürlich keine Erfahrungen machen konnte. Aber ich habe Theater gespielt und spielen lassen, das zählt doch wohl auch.

Alfred Hitchcock: Aber ja, ganz und gar, ohne das Theater wäre das Kino gar nicht möglich. Zum Thema: Da wir gerade so schön tafeln, will ich Ihnen von einem Projekt erzählen, das leider niemals zu einem Film geworden ist, obwohl ich Motive davon in allen meinen Filmen habe unterbringen können. 24 Stunden im Leben einer großen Stadt wie New York. Eine Anthologie der Nahrung. Wie sie frühmorgens ankommt, verteilt und verkauft wird, wie sie zubereitet und gegessen und schließlich wieder ausgeschieden wird. Am Ende ergießt sich der ganze Abfall ins Meer. Und so wie das Gemüse, das Fleisch und das Obst verzehrt und zu Abfall werden, so hätte ich zeigen wollen, wie auch die Menschen wieder zu Abfall werden. Dieser Vorstellung bin ich in dem Film ›Frenzy‹ am nächsten gekommen. Der Film spielt in Covent Garden in London, im Gemüse- und Obstmarktviertel, wo sich ein psychopathischer Mörder aufhält. In einer Szene stopft der Killer sein erwürgtes Opfer in einen Kartoffelsack und deponiert diesen auf einem Gemüselastwagen. Doch kaum hat sich der Wagen entfernt, da bemerkt der Killer, daß die Frau, als sie sich gegen ihn zur Wehr setzte, ihm im Handgemenge seine Krawattennadel abgerissen hatte. Mit diesem Beweisstück hätte die Polizei leicht die Spur zu dem Mörder verfolgen können. Also rast der Killer dem Gemüsetransporter hinterher, springt auf die hintere Ladefläche und versucht, sich die Krawattennadel wiederzuholen. Das aber ist leichter gesagt als getan, denn die Frau liegt in dem Kartoffelsack, ihre Beine schauen daraus hervor. Der Killer greift also in den Kartoffelsack und wühlt darin herum, um an die Krawattennadel zu gelangen. Das stellt sich als schwierig heraus, und obwohl die Frau tot ist, erhält der Killer wegen der Fahrtbewegungen und seinem Wühlen im Kartoffelsack vom toten Körper einen Tritt ins Gesicht versetzt. Als er endlich an einer der Hände der Frau die Krawattennadel ertastet hat, muß er zu seinem Entsetzen feststellen, daß inzwischen rigor mortis eingesetzt hat und es keinesfalls damit getan ist, die Krawattennadel aus der Hand der Toten zu entwinden. Er muß dem Leichnam die Finger brechen, um schließlich das verräterische Objekt aus der Hand zu befreien.

Marquis de Sade: Wirklich eindrucksvoll. Das hätte ich auch gern in einem meiner Romane verwendet. Und diese Ironie, diese Tücke des Objekts, meisterhaft.

Alfred Hitchcock: Vielen Dank. Es geht in dem Film aber noch weiter. Meine Analogie zwischen Essen und Ermorden besteht in einer anderen Szene darin, daß ich den ermittelnden Polizeiinspektor zuhause am Tisch zeige, wo seine sich als Gourmetköchin gerierende Ehefrau ihm Schweinefüße serviert, komplett mit Nägeln. Während er versucht, dieses abstoßende Stück Fleisch mit Messer und Gabel zu zerlegen, wehrt sich auch dieses Opfer. Man sieht den mit den Schweinefüßen kämpfenden Inspektor, der gleichzeitig seiner Ehefrau von seinen Ermittlungen in der Angelegenheit ›Kartoffelsack mit erwürgter Leiche‹ berichtet.

Marquis de Sade: Vorzüglich! Das ist wirklich große Kunst, solche Parallelen zu ziehen und dem Zuschauer sowohl eine Erkenntnis zu vermitteln wie ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Alfred Hitchcock: Das will ich meinen. Aber, wissen Sie, manchmal muß man nachhelfen und darauf bestehen, daß bei der Ausführung einer Handlung auf der Filmleinwand auch alles stimmt. So mußte ich für die Szene, wo Grace Kelly sich gegen den hinter ihr stehenden und sie würgenden Verbrecher zur Wehr zu setzen versucht, die Schere, mit der sie ihn schließlich in den Rücken sticht und damit tötet, aufpolieren, damit die Schere wirklich schön strahlt und glänzt. Denn schließlich ist ein Mord ohne glänzende Schere wie Spargel ohne Sauce Hollandaise.

Marquis de Sade: Sehr witzig! Sie sind ein eigenartiger, sehr interessanter Mann.

Alfred Hitchcock: Vielen Dank, ich tue mein Bestes. Um Ihnen noch ein weiteres Beispiel zu geben: Viele Leute sind in dem Irrglauben befangen, einen Menschen umzubringen sei eine einfache Angelegenheit. Mitnichten! In meinem Film ›Torn curtain‹ habe ich einmal zu zeigen versucht, wie schwierig, mühsam und zeitraubend es ist, einen Mann umzubringen. Ein ostdeutscher Spitzel ist dem Hauptdarsteller gefolgt, einem amerikanischen Wissenschaftler, der in die DDR gekommen ist, um von einem ostdeutschen Professor eine Geheimformel zu entwenden und der auf dem Land einen abgelegenen Bauernhof aufsucht, um dort in Kontakt mit einer geheimen Untergrundorganisation zu kommen, und nun stehen die beiden zusammen mit der Bauersfrau in der kleinen Küche. Zunächst bietet die Bauersfrau dem Spitzel namens Gromek Apfelwein an, aber dann, als sich herausstellt, daß man den Spitzel unbedingt loswerden muß und man ihn nicht einfach erschießen kann, weil das den draußen wartenden Taxifahrer, der den Amerikaner hergefahren hat, mißtrauisch machen würde, vereinbaren die beiden durch bloßen Austausch von Blicken, Gromek auf lautlose Weise zu ermorden. Wie macht man das, wenn man sich in einer Küche aufhält? Nun, man bedient sich der Utensilien, die man auch für die Nahrungszubereitung verwendet. Die Bauersfrau ist ganz pragmatisch und schleudert einen Suppentopf, der gleich zur Hand ist, mitsamt der Suppe gegen den Spitzel, aber der tut den beiden Angreifern nicht den Gefallen und bleibt am Leben. So greift die Bauersfrau zu einem großen Küchenmesser und sticht damit auf Gromek ein. Schwer verwundet, quittiert Gromek mit höhnischem Grinsen diese gleichfalls erfolglose Aktion. Auch das Schlagen mit einem Spaten gegen Gromeks Beine erweist sich als zwar schmerzvoll, aber nicht tödlich. Nun aber wird die Küche, kurz zuvor noch ein Ort, der der Erhaltung des Lebens gedient hat, der Ort der Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme, zu einem Schlachthof. Der amerikanische Professor und die Bauersfrau ergreifen Gromek und schleppen ihn am Boden zum nahegelegenen Ofen, der mit Gas betrieben wird. Die Bauersfrau öffnet die untere Luke und gemeinsam stopfen die beiden Gromek mit dem Kopf voran in den Ofen. Dann dreht die Frau den Gashahn auf und der Zuschauer sieht in Großaufnahme die sich immer noch wehrenden Hände des Opfers, bis schließlich jede Bewegung des Körpers aufhört, und die Hände heruntersinken. Nun erst ist der Mann tot. Sehen Sie, das wollte ich dem Durchschnittsverstand einmal beibringen, sich genau zu überlegen, was man eigentlich alles erledigen und über sich bringen muß, wenn man beschließt, einen Menschen zu ermorden.

Marquis de Sade: Ich bin beeindruckt. Das Theater ist schon ein Instrument, um Menschen zu steuern. Dabei darf man auf die Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. In meinem Romanwerk habe ich das auch nicht getan.

Alfred Hitchcock: Wenn ich Sie etwas fragen darf: Was ich in Ihren Romanen nie verstanden habe, das ist die Tatsache, daß die Mörder ihre Opfer gern quälen, dann aber irgendwann doch ermorden. Danach fühlen sie sich elend, denn der Zauber des Quälens und Folterns ist in dem Augenblick verrauscht, wo die Gequälten nicht mehr am Leben sind. Dann hätte man doch besser die Opfer weiter quälen und weiteren Schmerzen aussetzen sollen, denn nur solange sie leben, können die Opfer doch noch etwas empfinden, während sie als Tote nicht mehr interessant sind und die Folterer sich neue Opfer suchen müssen, was sowohl zeitaufwendig wie mühsam ist.

Marquis de Sade: Das stimmt, aber für die Dramaturgie der Handlung ist es wichtig, daß man immer wieder von neuem ansetzt und neue Opfer heranschaffen muß, denn nur dieser ständige Kreislauf belebt die Lust der Henker. Abwechslung ist auch hier entscheidend, irgendwann sieht man sich die immergleichen Gesichter über, deshalb müssen sie nach einer Weile sterben, um Platz für neue Gesichter und Körper zu machen.

Alfred Hitchcock: Ja, das Kino ist auch ein gefräßiges Medium, ständig sind die Produzenten auf der Suche nach neuen Gesichtern, neuen Darstellern.

Marquis de Sade: Ich will Ihnen einmal am Beispiel meines bekanntesten Romans meine philosophischen Konstruktionsprinzipen erläutern. Dazu habe ich zwei Protagonistinnen erfunden, Justine und Juliette, zwei Schwestern, die verschiedener nicht sein könnten. Justine ist, der Name verrät es schon ein wenig, die Gerechte, die Tugendhafte, die selbst unter größten Qualen noch an das Gute im Menschen glaubt und sich auch unter der Folter und der Unausweichlichkeit ihres baldigen Todes nicht korrumpieren läßt. Diese Leiden haben aber keinen Sinn, weder für sie noch für andere Menschen. Sie glaubt an das Gesetz, auch wenn es ihr keinerlei Schutz gewährt und läßt sich auch nicht dazu bewegen, Gesetze zu übertreten. Sie läßt sich nicht unterkriegen. Dabei ist sie vertrauensselig und das Wesen ihrer Tugend besteht darin, daß sie tut, was man ihr sagt. Sie begehrt niemals auf. Sie hält jede Vergewaltigung aus, weil sie meint, es berühre ihr Innerstes, ihre persönliche Ehre nicht. Diese wird der Aggressor niemals erreichen. Sie lernt nichts aus ihren schlimmen Erfahrungen. Ihre Tugend hat damit dieselbe Abgestumpftheit hervorgebracht wie die der sie folternden Verbrecher. Sie glaubt, die Welt würde sie für ihr tugendhaftes Verhalten belohnen, aber diese Methode befördert weit eher ihr Unglück, weil es Wüstlinge gibt, die genau auf diese Sorte Menschen sich spezialisiert haben. Justine ist für sie das perfekte Opfer. Zwar ist dieses Opfer dem Täter immer moralisch überlegen, nur nützt diese Moral ihr überhaupt nichts. Sie bleibt ein Objekt, das deshalb auch unfähig ist, anderen Gutes zu tun, weil sie selbst ganz außerhalb jedes sozialen Zusammenhangs lebt.

Alfred Hitchcock: Wenn ich Sie hier kurz unterbrechen darf? Die Schriftstellerin Angela Carter hat Justine mit Marilyn Monroe verglichen. »Wie sie sich gleichen! Marilyn Monroe ist das Ebenbild der Justine. Marilyn/Justine ist aufrichtig und zutraulich wie ein Kind und von einem leichten Hauch von Melancholie umweht, der aus der steten Enttäuschung ihres stets unbegrenzten Vertrauens entsteht. Diese Fähigkeit zu vertrauen ist das, was die Sadeschen Wüstlinge am meisten fasziniert. Der Typus der Blondine war der kommerziell vielversprechendste auf dem Markt.« Sehen Sie, und das war auch der Grund für mich, in meinen Filmen den Blondinen den Vorzug vor den Brünetten oder Rothaarigen zu geben. Auch wenn der Typus, den die Monroe verkörperte, für mich nicht in Frage kam, da sie nach meinem Geschmack viel zu offensichtlich den Sexappeal repräsentierte. Aus dramaturgischen Gründen habe ich lieber auf kühle Blonde zurückgegriffen, denken Sie an Grace Kelly, ›Tippi‹ Hedren, Kim Novak, Janet Leigh, Eva Marie Saint, weil man von ihnen erst einmal nichts erwartet, aber dann überrascht wird, wenn man mit ihnen auf dem Rücksitz eines Taxis sitzt und sie plötzlich eine Hand in Ihren Hosenschlitz stecken.

Marquis de Sade: Mmhh, ja, ich verstehe, das ist dramaturgisch durchaus verständlich. Aber lassen Sie mich nun noch das Alter ego von Justine kurz erläutern. Juliette ist ein kaltes Ungeheuer, sie begeht Verbrechen, für die sie niemals bestraft wird, sie genießt Lust und Schmerz gleichermaßen, weil beide für sie identisch sind. Sie ist unglaublich reich und von unglaublicher Grausamkeit.

Alfred Hitchcock: »Sades Figuren verkörpern absolute moralische Werte in einer Welt, die keine absoluten moralischen Werte kennt.« Das sagt jedenfalls Angela Carter.

Marquis de Sade: Ja, das trifft zu. Die damalige Gesellschaft, ob nun vor oder nach der Revolution von 1789, hätte in meinen Beschreibungen leicht ihr eigenes verwerfliches Verhalten wiedererkennen können, doch man hat es vorgezogen, mich exemplarisch dafür zu bestrafen, daß ich ohne Beschönigung dargestellt habe, wozu Menschen fähig sind. Und sie sind zu allem fähig. Ich weiß, daß nach 1945 es Autoren gegeben hat, die die Konzentrationslager der deutschen Nazis mit meinem fiktiven Orten, dem Kloster Sainte-Marie-des-Bois und dem Schloß Silling im Schwarzwald, verglichen haben. Natürlich! Es ging ja immer weiter, nur daß ich diese Erfahrungen nicht mehr machen mußte, da ich den Terror, der nach 1789 in ganz Frankreich wütete, als unfreiwilliger Zeuge miterlebt habe. Und damit kommen wir dann auch gleich auf einen Punkt, der mir damals wie heute vorgeworfen wird, nämlich daß die von mir erfundenen Figuren meine ›Meinung‹ darstellen würden. Wer das behauptet, hat von Literatur keine Ahnung. Selbstverständlich sind Einzelzüge der Charaktere inspiriert gewesen von meiner eigenen Lebensgeschichte, aber nicht alles, was ich meine Figuren habe machen lassen, habe ich auch selbst in Wirklichkeit getan. Ich bin niemals zum Mörder geworden, wiewohl es nach 1789, als ich für kurze Zeit sogar ›Revolutionsrichter‹ war, Möglichkeiten gab, unter dem Schutz des ›revolutionären‹ Gesetzes, Menschen durch mein Urteil in den Tod zu schicken. Als ich die Akte meiner Schwiegermutter, die allein dafür verantwortlich war, daß ich mein Leben für so viele Jahre in Gefängnissen zubringen mußte, auf meinem Richtertisch liegen hatte, habe ich alles getan, damit ihr ein Todesurteil erspart blieb.

Alfred Hitchcock: Das ehrt Sie sehr. Es gehört viel moralische Überwindung dazu, auf Rache zu verzichten, wobei sie wie in Ihrem Fall durchaus einige Berechtigung hätte. Was sie ansprechen, ist von allgemeinem Interesse. Auch mir wurde nachgesagt, ich würde in meinen Filmen meine eigene Grausamkeit ausleben und Ersatzhandlungen begehen. Hätte ich nicht den Film gehabt, wäre ich ein Mörder geworden. Mag sein, man weiß nie, was aus einem werden wird, wenn die Umstände anders liegen. Doch meine privaten Späße, in kleiner Runde den Damen an ihrem Hals zu demonstrieren, daß man einen Menschen mit einer Hand erwürgen kann, machen mich noch nicht zu einem Verbrecher. Das ist schwarzer Humor, der hier zur Geltung kommt. Ich habe mir stets erlaubt, mit den Menschen meiner direkten Umgebung einen kleinen Schabernack zu treiben. Wenn der Psychopath Bruno Anthony in meinem Film ›Strangers on a Train‹ den Vorteil des stillen Erdrosselns auf einer Party einigen älteren Ladys der Gesellschaft zu demonstrieren versucht, erreicht er bei den ihm nicht glauben wollenden Damen ein hysterisches Gekicher, und so ist mir zweierlei gelungen: den krankhaften Wahn eines Geistesgestörten gezeigt zu haben und die häufig belustigende Reaktion der Menschen auf solche Figuren, denen man nicht abnimmt, was sie ganz offen aussprechen. Denken Sie an Hitler, der hat doch auch mit seinen Absichten nicht hinter dem Berg gehalten. Und hat man ihn ernst genommen? Nein, man hat ihn als verrückten Clown gesehen.

Marquis de Sade: Ich lasse einen meiner Massenmörder sagen: »Seit langem stehlen und töten wir nur aus Not. Doch alle diese Taten muß man aus Bosheit, aus Geschmack am Bösen tun. Die Welt muß zittern, wenn sie von den Verbrechen hört, die wir begangen haben. Die Menschen müssen im Bewußtsein, zur selben Spezies wie wir zu gehören, vor Scham erröten.«

Alfred Hitchcock: Da haben Sie es. Sie sind ein Diagnostiker und Prophet zugleich gewesen.

Marquis de Sade: Das hört man heute häufiger, nur habe ich als Toter davon gar nichts mehr. Vor einigen Jahren hat der französische Staat mein verschollen geglaubtes Manuskript ›Die 120 Tage von Sodom‹ für den Preis von sieben Millionen Euro aufgekauft. Als ich lebte, hat man mich nicht nur viele Jahre eingesperrt, man hat mir auch kurz vor meinem Tod ein fertiges Romanmanuskript weggenommen und vernichtet. Das sind die grausamen Kontraste, die mein Leben und mein Werk begleiten.

Alfred Hitchcock: Wechseln wir doch das Thema. Wie ich sehe, sind Sie auch nicht gerade ein athletischer Typ. Waren Sie von Kindheit an schon so — entschuldigen Sie den Ausdruck — fett?

Marquis de Sade: Oh nein, ich war ein zarter Junge mit vollem Haar. Erst das Gefängnis hat mich fett gemacht, denn ich durfte mir auf meine Kosten Speisen meiner Wahl in die Zelle schicken lassen. Vor allem Konfekt aus den besten Pariser Confiserien habe ich mir kommen lassen. Da es damals den heute in Gefängnissen üblichen täglichen Spaziergang im Hof der Anstalt nicht gab, nahm ich schnell zu und da Essen ein Ersatz für Sex ist und einem als Gefangenem sexuelle Betätigung nicht erlaubt ist, sehen Sie hier die Folgen dieser erzwungenen Einsamkeit.

Alfred Hitchcock: Man hat mich einmal gefragt, auf welche Art ich gern ermordet werden würde. Na ja, eine typische Journalistenfrage. Ich habe geantwortet: Essen wäre eine gute Methode. Ich brachte es im Laufe meines Lebens auf zweieinhalb Zentner, das sind immerhin 125 Kilogramm, danach wog ich sogar für einige Zeit 136 Kilogramm. Durch mehrere Diäten habe ich mich dann auf 100 Kilo heruntergehungert. Don’t believe what they tell you: Fat people are not jolly. Im Übrigen gilt für mich, daß das Gefühl des Sattseins mir immer wichtiger war als der Akt des Verzehrens selbst, der mir immer irgendwie wenig delikat vorgekommen ist. Aber wenn gegrillte Lammkoteletts auf dem Teller lagen, eines meiner Lieblingsgerichte, dann mußte es immer auch Kartoffeln dazu geben, denn Kartoffeln habe ich geliebt, gekocht, gebraten, es mußte sie zu jeder Mahlzeit dazugeben. Einmal habe ich ›Tippi‹ Hedren anderthalb Zentner Kartoffeln geschickt und auf einem Zettel angemerkt, daß sie ausreichend Kalorien enthalten, wenn man genug davon esse. Bei unseren Drehbuchbesprechungen hielt ich stets die Reihenfolge der Themen nach ihrer Wichtigkeit ein: 1. Essen 2. Trinken 3. Klatsch aus Hollywood 4. Filme. Übers Essen habe ich immer geplaudert als handele es sich um verschiedene Geliebte.

Marquis de Sade: Sie sind ein lustiger Knabe.

Alfred Hitchcock: Was das zweite Thema, das Trinken, angeht, so muß ich leider eingestehen, daß ich Alkohol nie gut vertragen habe, dennoch aber mit zunehmendem Alter immer mehr davon konsumiert habe. Zuzunehmen begann ich, als ich mir das Trinken angewöhnte. Ein halber Liter Champagner zum Mittagessen gehörte immer dazu, aber dann habe ich auch noch ein ganzes Wasserglas Cointreau oder Wodka hinuntergekippt, auf einen Sitz, aber immer mit einem Seitenblick auf Alma, meine Ehefrau, die durfte davon natürlich nichts erfahren. Am liebsten hätte ich in Wein gebadet, aber man weiß natürlich, was sich gehört, ein schöner Tagtraum ist es allemal.

Marquis de Sade: Und nun sitzen wir hier im Elysium und lassen es uns dennoch gut gehen. Was für eine Überraschung das ist und dann noch mit einem Tischfreund, der mir die beste Unterhaltung gewährt. Merci vielmals, Monsieur.

Alfred Hitchcock: Konversation ist der schlimmste Feind von gutem Essen und gutem Wein. Aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme. (Mit verschmitztem Schuljungengesicht und gesenkter Stimme sich zu de Sade herüberbeugend) Psst! Ich habe hier eine Flasche Brandy, die mit einem starken Abführmittel präpariert ist. Die könnten wir jemandem schenken und dann sehen, was passiert. Das war ein practical joke, den ich einmal einem der Studioarbeiter gespielt habe. Ich wettete mit dem Mann einen Wochenlohn, daß er zu ängstlich sei, eine ganze Nacht im dunklen und verlassenen Filmstudio an eine Kamera angekettet zu verbringen. Ich habe ihn dann persönlich angekettet und ihm noch einen großen Brandy für einen schnellen und tiefen Schlaf offeriert. Der Mann nahm das Glas Brandy und trank es aus. Am nächsten Tag fand man ihn weinend und besudelt vor, das Abführmittel hatte über Nacht seine Wirkung getan.

Marquis de Sade: Was für ein grober und grausamer Schabernack. Herr Hitchcock, Sie sind ein Sadist!