Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Marlene Dietrich meets Nikita Sergejewitsch Chruschtschow
Diese Fähigkeit nun, die Phantasie der Massen in Gang zu bringen, dadurch, daß sie Gelegenheit hat, aus bestimmten Personen ›sich etwas zu machen‹, bezeichne ich mit dem Wort ›Illusionsfassade‹. Bedenken wir, daß der Mensch, wo immer er liebt und haßt, kein anderes Mittel hat als die sinnbildliche Verpersönlichung. Die Aufhebung des Gegensatzes von Persönlichkeitskult und Massenseele und die Apotheose der Person zugunsten der Gruppenvertreterschaft ist die ewige Leistung der Geschichte. (Theodor Lessing, 1927)
Hören Sie ergänzend dazu den Text ›Geständnis eines Filmstars‹ (1928):
https://theodorlessingedition.de/edition-und-herausgeber/audio-hallo-hier-spricht-theodor-lessing/
Marlene Dietrich (mit fest umwickeltem Kopftuch und umgebundener Schürze, eine Zigarette im linken Mundwinkel, ruft aus ihrer Küche, in der sie eifrig zugange ist, in das gegenüberliegende geräumige Wohnzimmer ihrem Gast zu, der völlig durchnäßt in der Mitte des Raumes steht): Gehen Sie doch in das Zimmer gleich rechts von Ihnen, ins Bad, und legen Sie Ihre nassen Sachen dort auf den Rand der Badewanne, und dann gehen Sie in das danebengelegene Zimmer, da habe ich Ihnen einen halbwegs passenden Bademantel hingelegt. Es hängen in meinem begehbaren Kleiderschrank noch eine ganze Reihe Sachen von meinen ehemaligen Männern. Schauen Sie einmal hinein, vielleicht finden Sie ja etwas, obwohl ich es bezweifle, in Ihrer Größe. Sie müssen unbedingt aus ihren nassen Kleidern heraus. Der Regen hat immer noch nicht aufgehört. Solche Schauer kommen hier öfter vor als man annimmt, man sollte immer einen Regenschirm dabeihaben.
Nikita Chruschtschow: Oh, da bin ich Ihnen aber sehr verbunden, vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen. Man trifft auf der sogenannten ›Insel der Seligen‹ nicht so viele hilfsbereite Seelen. Der Kommunismus ist hier noch nicht Realität geworden.
Marlene Dietrich (die mit einem dampfenden Topf Suppe den Raum betritt): Hören Sie doch damit auf, das ist doch alles Quatsch. Das Meiste im menschlichen Leben ist Quatsch. Lassen Sie uns dieses Thema gar nicht erst vertiefen. Das verdirbt die Stimmung. So! Jetzt wird aber gefuttert! Lassen Sie es sich schmecken, das ist eine meiner Kraftbrühen, die haben noch jedem Kranken auf die Beine geholfen. Und Sie sind ja nur von einem Regenschauer überrascht worden, also das wird schon wieder. Wir werden keinen Doktor brauchen.
Nikita Chruschtschow (nimmt einen Löffel Suppe): Mmhh! Das schmeckt aber gut. Sie haben mich wieder ins Leben zurückgebracht.
Marlene Dietrich: Na na, nun machen Sie mal keine große Sache daraus, das ist doch nur meine Kocherei, das habe ich zeitlebens betrieben, das mußte sein. Es war allerdings meist eine flankierende Maßnahme, um meine Liebhaber bei der Stange zu halten. Liebe geht durch den Magen, auch wenn die Männer meinten, erst wenn sie ihr ›Ding‹ in mich gesteckt hatten, sei es die ›wahre‹ Liebe geworden. Dieses ewige Getue um den Sex. Sex, Sex, Sex! Was hat es damit denn schon auf sich? Steck ihn rein, zieh ihn raus — und das müssen wir studieren wie dieser Kinsey? Ich bin Romantikerin und da ich aus Erfahrung weiß, daß leider Gottes Sex dazugehört, um den Mann glücklich zu machen, habe ich immer nachgegeben. Ich mußte häufig die Männer erhören, wenn sie darum baten, ›es‹ tun zu dürfen, weil sie so schüchtern und süß fragten. Um ihnen eine Freude zu machen, habe ich mich ihnen dann hingegeben. Es gab aber auch andere Dinge, die ich anwandte, um sie aus der Fassung zu bringen. Ich hatte da einen Trick, mit dem ich jeden Mann verrückt gemacht habe, eine Art Aneinanderpressen der Körper im Stehen. Dabei legt man dem Gegenüber die Arme um den Nacken und schiebt, die Füße fest auf dem Boden, das Becken nach vorn, bis es die Beckenregion des anderen berührt, dann verharrt man in dieser Position und zieht den übrigen Körper nach.
Nikita Chruschtschow: TMI! TMI!
Marlene Dietrich: Was sagen Sie?
Nikita Chruschtschow: Ach, als ich zu Besuch in Amerika war, 1959, habe ich einige Redewendungen aufgeschnappt. TMI ist eine davon. Too much information! Sie müssen ihr Privatleben nicht unbedingt vor mir in allen Einzelheiten ausbreiten.
Marlene Dietrich: Ach, Gottchen, Sie sind aber empfindlich!
Nikita Chruschtschow: Sagen Sie das nicht: My baby does the hanky-panky.
Marlene Dietrich: Na so was! Sie sind ja ein drolliges Dickerchen!
Nikita Chruschtschow: Am 14. Oktober 1964 wurde ich gestürzt.
Marlene Dietrich: Gestürzt! Wem sagen Sie das. Das fing irgendwann in meinen fortgeschrittenen Jahren auch bei mir an, und nicht nur einmal, sondern immer wieder bin ich in den Orchestergraben gefallen. Meine Tochter Maria meint in ihrem Buch ›Meine Mutter Marlene‹ (1992), das sei darauf zurückzuführen, daß ich betrunken auf die Bühne gegangen und dann am Bühnenrand umgekippt bin.
Nikita Chruschtschow: Der Genuß und Mißbrauch von Alkohol war und ist in Rußland ein großes Problem. Einer meiner späteren Nachfolger, Genosse Gorbatschow, hat versucht, den ständigen Verzehr von Wodka abzuschaffen, aber das hat ihm alle Sympathien des russischen Volkes gekostet. Danach hat ihn eine Schnapsdrossel namens Jelzin im Amt beerbt. Mit ›Sturz‹ meinte ich aber nicht das unbeabsichtigte Hinfallen, sondern die politische Entmachtung meiner Person.
Marlene Dietrich: Richtig, das ist natürlich etwas anderes, obwohl mit meinen Stürzen dann auch das Ende meiner Gesangskarriere eingeleitet wurde. Ironisch, nicht wahr, daß ich meinen Beinen so viel zu verdanken habe, daß sie so oft photographiert wurden und zu meinem Ruhm beigetragen haben, und dann haben sie auf einmal ihren Dienst verweigert und mich im Stich gelassen.
Nikita Chruschtschow: Als Kind lehrte man mich, mit den Erwachsenen in der Kirche vor den Ikonen zu knieen und zu beten.
Marlene Dietrich: Da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Ich bin eine Ikone, und was für eine. Eine Zeit lang lag mir die halbe Welt zu Füßen. Wissen Sie, ich habe im Mai und Juni 1964 in Moskau und Leningrad gesungen und ich muß Ihnen sagen, daß ich schon immer die Russen geliebt habe, und zwar wegen ihrer großen Schriftsteller und Komponisten, aber auch wegen der russischen Seele, weil die Russen keine lauwarmen Gefühle kennen. Sie sind entweder sehr traurig oder sehr glücklich. Ich bin stolz darauf, sagen zu dürfen, daß ich selbst eine russische Seele habe. Ich wollte unbedingt den Schriftsteller Konstantin Paustowskij kennenlernen und als er bei meinem ersten Moskauer Konzert im Publikum war, bat ich ihn auf die Bühne, küßte seine Hand und kniete vor ihm nieder, denn leider kann ich kein Russisch und so war es diese Geste der Bewunderung, die das ersetzen sollte.
Nikita Chruschtschow: Die meisten Ausländer glauben, es gäbe eine ›russische Seele‹. Wir lassen sie in dem Glauben. Da rühren Sie an eine schmerzliche Erinnerung. Stalin fand es unterhaltsam, Leute in seiner Umgebung zu beobachten, wenn sie in Verlegenheit gerieten oder sich gar in entwürdigenden Situationen befanden. Er brachte sie aber auch gern in solche Situationen. Einmal forderte er mich auf, vor einigen hohen Parteileuten den ›Gopak‹, einen ukrainischen Volkstanz, zu tanzen. Ich mußte also in die Hocke gehen und die Füße hochwerfen, das fiel mir gar nicht leicht. Ich habe dazu ein vergnügtes Gesicht gemacht, denn wenn Stalin sagt: Tanze! — dann tanzt ein kluger Mann. In dem Buch ›Anatomie der menschlichen Destruktivität‹ (1973) von Erich Fromm wird Stalin als »ein klinischer Fall von nichtsexuellem Sadismus‹ beschrieben. Es war der Wunsch, den Menschen zu zeigen, daß er absolute Macht und Gewalt über sie besaß. In meinen auf Tonband gesprochenen Erinnerungen, die später als Buch auch auf Deutsch erschienen sind, habe ich viele Beispiele für dieses grausame Verhalten angeführt. Fjodor Burlazki hat in einem »politischen Porträt« 1990 über mich gesagt: »Stalin ist unter uns und lebt in uns. Wir müssen den Stalinismus Tropfen um Tropfen aus uns herauspressen.« Wenn man bedenkt, daß heute, im Jahre 2023, in Rußland eine Figur wie Putin das Land beherrscht, so ist das immer noch ein Auftrag, den das russische Volk nicht erfüllen konnte.
Marlene Dietrich: Ich habe mein ganzes Leben lang Huren gespielt. Orson Welles hat einmal über mich gesagt: »Ein Schauspieler ist dann am besten, wenn er seinen eigenen Typ spielt.« Na, was für ein Früchtchen, aber ich habe ihn sehr gemocht. Sie gehen aber auf gar keinen Fall von hier weg, ehe Sie mir nicht die ›Schuhgeschichte‹ erzählt haben.
Nikita Chruschtschow: Ach, das war 1960 auf der 15. UNO-Vollversammlung, da habe ich einen Delegierten als Speichellecker, Fatzke und Imperialistenknecht beschimpft. Der Sitzungsleiter hat ständig mit seinem Hämmerchen auf den Tisch geklopft, um die Ruhe im Saal wiederherstellen zu lassen. Aber ich habe niemals einen meiner Schuhe ausgezogen und damit auf das Rednerpult gehauen. Das ist eine Erfindung der westlichen Presse gewesen. Eine UNO-Angestellte hat später behauptet, ich könne den Schuh gar nicht ausgezogen haben, dazu sei ich viel zu dick gewesen, um in den engen Sitzreihen der UNO mit der Hand an meine Füße zu gelangen. Tatsächlich habe ich einen meiner Schuhe auf den vor mir stehenden Tisch gelegt. Hätte ich wirklich den Schuh als Schlagwerkzeug benutzt, gäbe es ein Foto davon, bei der Anwesenheit so vieler Photographen wäre das unvermeidlich gewesen. Es gibt aber keins. Das Ereignis ist eine Erfindung der westlichen Presse. Ich galt in den Augen der westlichen Welt als russischer Bauerntölpel und Rabauke. Da paßte dieser erfundene Zwischenfall gut ins Klischee.
Marlene Dietrich: Ja, unsere Freunde von der Presse! Wir sind auf sie angewiesen, denn ohne sie weiß die Welt nichts von uns, aber wir verabscheuen ihre Vertreter zugleich auch wegen der Aufdringlichkeit und wegen ihrer vielen auf Lügen basierenden Geschichten, die sie über uns verbreiten.
Nikita Chruschtschow: Im Mai 1960 habe ich ein amerikanisches Spionageflugzeug abschießen lassen. Ein völlig legitimer Akt der Staatsnotwehr gegenüber einer feindlichen Macht. Daraufhin habe ich dann veranlaßt, daß der geplante Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Eisenhower abgesagt wurde. Zur Erklärung habe ich damals gesagt: »Präsident Eisenhower möchte uns besuchen und unser Gast sein. Ein Mensch sollte nicht dahin scheißen, wo er gleich essen will. Das ist eine Grundregel. Wie kann der Präsident der Vereinigten Staaten auf die Sowjetunion scheißen und dabei hoffen, als Gast an Chruschtschows Tisch Platz zu nehmen?«
Marlene Dietrich: Sie sind ein ganz schönes Lästermaul, das muß ich schon sagen. Mit Billy Wilder habe ich mich immer gern über andere lustig gemacht. Schauspieler eignen sich am besten dazu. Ich als Person war natürlich mehr als nur das Berliner Kind, ich wurde zu einem Star, man liebte und verehrte mich. Was haben mir meine vielen Verehrer, auch die, mit denen ich ins Bett gegangen bin, nicht alles geschickt. Wie oft las ich: »Du, meine Göttin!«
Nikita Chruschtschow: Es ist unzulässig, eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln. Eine solche Vorstellung über einen Menschen, war bei uns viele Jahre lang verbreitet.
Marlene Dietrich: Menschenskind, Sie verkennen aber das Wesen des Showgeschäfts gründlich. Die Bühne, egal ob auf ihr Theater gespielt oder gesungen wird, die große Leinwand braucht ihre großen Stars, ihre Idole. Ohne diese ist die Masse der Leute doch hilflos und ohne Orientierung. Die Masse will verehren und sich gläubig unterwerfen. Ich habe Ihnen dabei geholfen, daß sie dieses Bedürfnis befriedigen können. Ich war eine schöne Maske.
Nikita Chruschtschow: Verehrte gnädige Frau, ich rede nicht von Ihnen, ich rede von Josef Stalin. Mit diesen Worten, die Sie eben von mir gehört haben, leitete ich am 25. Februar 1956 meine Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU ein. Damit begann das, was man später ›Entstalinisierung‹ genannt hat.
Marlene Dietrich: Du liebe Zeit, Sie sind mir vielleicht einer! Jetzt haben Sie mich aber ganz schön reingelegt. Ja, Stalin, und Hitler, die beiden Dämonen des 20. Jahrhunderts, unseres Jahrhunderts. Wieviel Unglück und Leid haben sie über die ganze Welt gebracht. Ich bin deshalb auch, als die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Hitler eingetreten sind, an die Front gefahren und habe die amerikanischen Soldaten mit meinen Liedern und mit kleinen Sketchen unterhalten und ihnen Mut gemacht, gegen diesen Tyrannen unerschrocken zu kämpfen. Und wir haben dann auch gemeinsam den Zweiten Weltkrieg gewonnen, dafür habe ich später die höchste militärische Auszeichnung der USA erhalten, die ›Medal of Freedom‹.
Nikita Chruschtschow: Es scheint mir fast, als müßte man bei Ihnen eine ›Ent-Dietrichisierung‹ durchführen. Der Ruhm ist Ihnen ganz schön zu Kopf gestiegen. Stalins negative Eigenschaften entwickelten sich immer weiter und nahmen in den letzten Jahren einen absolut unerträglichen Charakter an.
Marlene Dietrich: Ach, und Sie meinen, das auf mich übertragen zu können? Das hat meine Tochter in ihrem Buch über mich schon erledigt. An allem war ihre Mutter schuld, aber das kennt man ja, die Kinder wissen es immer besser und es wird einem nicht gedankt, was man als Mutter alles für sie getan hat und welche Opfer man bringen mußte, damit sie ein schönes Leben haben. Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen, die hat sich abgespielt, als meine Tochter inmitten eines dramatischen Monologs auf der Bühne stand und plötzlich draußen an der Straßenkreuzung eine dort angebrachte Sirene losging. Da bin ich aus dem Theatersaal herausgestürmt und habe einen Tankwart veranlaßt, eine Leiter an den Laternenmast zu stellen, an dem die Sirene angebracht war. Dann bin ich hinaufgeklettert und habe meinen Nerzmantel in den Trichter der Sirene gestopft. Die Sirene verstummte, ich kletterte mit hochgerafftem Rock den Mast herunter und begab mich zurück in den Theatersaal, wo ich den Schauspielern zurief: »Fangt da an, wo er sagt: ›Liebling – was soll das alles?‹ Dann kann Maria ihren Monolog noch einmal von Anfang an sprechen. Okay, Licht aus! Ihr könnt anfangen!«
Nikita Chruschtschow: Sehr lustig und wie schön, daß Sie mit so viel Temperament Ihrer Tochter geholfen haben. Doch Stalin und der Stalinismus haben einen ernsten Hintergrund. Stalin handelte nicht mit dem Mittel der Überzeugung, der Erklärung, der geduldigen Arbeit mit den Menschen, sondern durch das Aufzwingen seiner Konzeptionen, indem er die absolute Unterordnung unter seine Meinung forderte. Wer sich dem entgegenstellte oder versuchte, seinen eigenen Gesichtspunkt und die Richtigkeit seines Standpunktes zu begründen, war zum Ausschluß aus dem Leitungskollektiv und in der Folge zur moralischen und physischen Vernichtung verurteilt. Wir hatten uns alle auch nach Stalins Tod noch nicht von unserer sklavischen Abhängigkeit befreit.
Marlene Dietrich: Ja, ich verstehe schon, was Sie sagen wollen. Ich habe mich aber nicht mit Stalin verglichen und ich glaube, das hat auch keine der mir nahestehenden Personen getan. Was die ›sklavische Abhängigkeit‹ angeht, so sollten Sie einmal in die Dietrich-Biographie meiner Tochter schauen, da begegnen Ihnen alle meine Männer, die sich mir in vielen Briefen zu Füßen warfen und um meine Gunst bettelten. Das empfand ich als natürlich, es war aber auch widerwärtig. Erst wenn die Männer sich von mir abwandten und so taten, als hätten Sie gar kein Interesse mehr an mir, wurde meine Neugier und Lust wieder geweckt.
Nikita Chruschtschow: Dann sind Sie eine femme fatale gewesen, ein Vamp.
Marlene Dietrich: Na, Sie beherrschen die Terminologie ja ganz gut. Ja, doch war das eben auch meine Lebensrolle auf der Leinwand, verstehen Sie, ich spielte das, war es aber auch. Mein Leben war auf Treibsand gebaut.
Nikita Chruschtschow: Als ich 1956 die Rede über Stalin und den Personenkult gehalten hatte, wurde mir danach ein Zettel heraufgereicht, auf dem geschrieben stand: »Und was tatest Du, als Stalin diese Verbrechen beging?« Ich habe diese Frage laut vorgelesen und sagte dann: Ich bitte den Fragesteller, aufzustehen. Niemand stand auf. Da habe ich in den Saal gerufen: Das, genau das tat ich, als Stalin an der Macht war.
Marlene Dietrich: Sehr mutig! Das hätte ich aber auch sagen können. Über die Idioten in Hollywood konnte ich mich immer aufregen.
Nikita Chruschtschow: Wissen Sie, es ging mir damals doch darum, das Leben der Sowjetmenschen zu verbessern, das Angebot an Konsumgütern zu erhöhen. Das war doch der Sinn meiner Rede vom ›Gulaschkommunismus‹. 1959 war der damalige Vizepräsident Nixon zu Gast auf der Amerikanischen Nationalausstellung in Moskau. Wir standen vor einer amerikanischen Musterküche. Diese sollte die Überlegenheit der amerikanischen Konsumkultur über die sowjetische beweisen. Die Küche wies zahlreiche Neuheiten auf, wie beispielsweise Küchenmaschinen. Dann verhakte ich mich an einer elektrischen Zitronenpresse. Bei uns in Rußland schneidet man eine Zitrone mit einem Messer in der Hand auf und drückt mit den Händen ein paar Tropfen auf das Essen. Ich fragte damals: Haben Sie nicht eine Maschine, die das Essen in den Mund schiebt? Die russischen Besucherinnen der Ausstellung sollten sich davon überzeugen, daß die amerikanische Hausfrau in wenigen Minuten ein mehrgängiges Menü auf den Tisch bringen kann. Als Beispiel dafür, wie das gelingen kann, verwies man auf die Tiefkühlkost.
Marlene Dietrich: Tiefkühlkost! In wenigen Minuten! Ich bin gelegentlich von Billy Wilder und seiner Frau Audrey in ihr Haus eingeladen worden. Und was glauben Sie, haben die getan, wenn Essenszeit war? Die hockten beide vor dem laufenden Fernseher und stopften Tiefkühlkost in sich hinein. So ergeht es brillanten Männern, wenn sie Frauen aus der Unterschicht heiraten. Traurig!
Nikita Chruschtschow: Für die Werktätigen ist der Gulaschkommunismus die beste Lösung. Gehaltvoll und schmackhaft und für jede Familie erschwinglich.
Marlene Dietrich: Ein lustiges Wort: Gulaschkommunismus. Ich habe für Josef von Sternberg häufig ein Gulasch zubereitet. Aber nach dem siebten gemeinsamen Film hat er mir den Laufpaß gegeben.
Nikita Chruschtschow: Wie ich schon erwähnte, hat man mir im Oktober 1964 den Laufpaß gegeben. Ich habe dann die erzwungene Untätigkeit als Pensionär dazu genutzt, mich den Neuerungen in der Landwirtschaft zu widmen. Aber manchmal hatte ich solche Langeweile, daß ich hätte heulen können. Aus reiner Langeweile begann ich sogar Pilze zu sammeln.
Marlene Dietrich: Als ich aufgrund meiner Leiden nicht mehr auftreten konnte und ganz allein in meinem Pariser Appartement lebte, konnte es vorkommen, daß ich stundenlang nach einem verlegten Chanel-Kostüm die Wohnung abgesucht habe.
Nikita Chruschtschow: Seit ich auf der ›Insel der Seligen‹ bin, langweile ich mich aber weiter, es ist totlangweilig hier. Es gibt keine Konflikte und nichts, wogegen man vorgehen und auch nichts, für das man sich einsetzen kann.
Marlene Dietrich: Sie könnten mein Manager werden und eine Konzerttournee für mich organisieren. Im Elysium hat man einen Wunsch frei, nämlich sich das Alter und die im wirklichen Leben dazu entsprechende Körpergestalt wählen zu können. Nun schauen Sie mich an: Sehe ich nicht fabelhaft aus? Mit Mitte dreißig sieht man doch immer noch am besten aus, und das wird hier auch ewig so bleiben. Na, was sagen Sie? Ich würde auch einige russische Lieder ins Repertoire aufnehmen, das konnte ich damals in Rußland noch nicht. Mit ein bißchen Tingel Tangel mischen wir das Elysium auf!
Nikita Chruschtschow: Nein, das ist ganz ausgeschlossen, dafür eigne ich mich nicht. Zwar bin ich aufgrund meines großen Organisationstalents innerhalb der Sowjetunion rasch bis nach oben aufgestiegen, aber für eine einzelne Person zu arbeiten, das liegt mir nicht.
Marlene Dietrich: Wie schade! Aber schön, daß Sie so viel von meiner Kraftbrühe ausgelöffelt haben. Wenn Sie vor dem Weggehen noch das Badezimmer benutzen sollten, so darf ich Sie um pflegliche Behandlung des Raums bitten. Auch wenn ich immer Lysol und Ajax parat habe, damit das Badezimmer tadellos sauber bleibt. Man kann den Menschen im Bad nicht trauen, sie entleeren sich, was sonst? Und meist hinterlassen sie eine saubere Schweinerei. Man muß bei Gästen ständig hinterherputzen. Die Menschen sind Schweine.