Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Andy Warhol meets Thomas Mann

Wer nicht faßt, daß das Leben eine Wiederholung ist und daß darin des Lebens Schönheit besteht, der hat sich selbst gerichtet. Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem. (Søren Kierkegaard: Die Wiederholung, 1843)

Andy Warhol: Hi, mein Name ist Andy Warhol. Wir sind uns im Leben niemals begegnet, da Sie 1875 geboren und 1955 gestorben, ich 1928 geboren und 1987 gestorben bin. Sehr geehrter Herr Mann, ich würde Sie gern für meine Zeitschrift ›Interview‹ interviewen. Ich habe Ihnen zur Ansicht einige Exemplare meines Magazins mitgebracht. (Reicht Thomas Mann drei Hefte von ›Interview‹, auf deren Titelseite lauter junge, gutaussehende Männer abgebildet sind). 

Thomas Mann (mit kennerischer Miene): Mmhh, ja, die sehen aber gut aus. Dieser hier (zeigt auf einen Jüngling vom Tadzio-Typus) gefällt mir ausnehmend gut. Welche hübschen Augen und Zähne! Der ist etwas fürs Herz. Noch einmal also dies, noch einmal die Liebe, das Ergriffensein von einem Menschen, das tiefe Trachten nach ihm — seit 25 Jahren war es nicht da und sollte mir noch einmal geschehen. Muß etwa 25 Jahre alt sein, kein Knabe, sondern ein junger Mann.

Andy Warhol: Wow! Das freut mich aber, daß Ihnen meine Zeitschrift gefällt. (Holt aus seinem mitgebrachten Rucksack eine Polaroid-Kamera heraus) Darf ich ein Foto von Ihnen machen? Sie müssen wissen, ich habe zu Lebzeiten viele Prominente aus der ganzen Welt fotografiert und anhand der Polaroids dann daraus Porträts gemacht, die alle den gleichen Preis kosteten. In Ihrem Fall und weil wir uns ja im Elysium befinden, würde ich Ihnen nichts berechnen.

Thomas Mann:  Schießen Sie los! (Setzt sich in Pose) Starke Sexualität zur Zeit. Volle Potenz!

Andy Warhol: Okay, ich nehme mal an, das Interview hat schon begonnen, mein Tonbandgerät läuft auch schon. Mein Tonbandgerät ist meine Frau. Ein Problem ist immer nur ein gutes Tonband, und sobald sich ein Problem in ein gutes Tonband verwandelt, ist es kein Problem mehr.

Thomas Mann: Kann keine Diskussion vertragen. Habe zuviel Diskussion in mir selbst.

Andy Warhol: Gee, Ich will nicht mit Ihnen diskutieren, ich will Sie interviewen. Sie kennen schon den Unterschied? Ich muß aber auch nicht unbedingt Fragen stellen, falls Sie auch das stören sollte. Fangen Sie doch einfach an zu erzählen.

Thomas Mann: Als ich mit meiner Frau Katia auf einer Reise in der Schweiz war, bemerkte ich die dortzulande unglaublich verbreitete Homosexualität. Dann sah ich im Hotel einen jungen Kellner, sah sein Gesicht, das es mir sofort angetan hat, einmal flüchtig bei der Herabkunft im Lift. Weltruhm ist mir nichtig genug, aber wie gar kein Gewicht hat er mehr gegen ein Lächeln von diesem Jüngling, den Blick seiner Augen, die Weichheit seiner Stimme! Man leidet noch mit 75 Jahren an der Liebe. Noch einmal, noch einmal! Die Eroberung, die er an mir gemacht, muß seinem Selbstvertrauen zuträglich sein, vielleicht zu sehr. Der Gedanke einer ›letzten Liebe‹ erfüllt mich bis heute dauernd, ruft alle Unter- und Hintergründe meines Lebens wach. Im Halbschlaf träumte ich daß ich von Franzl, dem Letztgeliebten, als von dem Repräsentanten der ganzen angebeteten Gattung mit einem Kuß Abschied nähme. Mein Gott, wie anziehend sind junge Leute, ihre Gesichter, wenn sie auch nur annähernd hübsch sind, ihre Arme und Beine! Wie der damals auf dem Tennisplatz. Auf dem Tennisplatz wieder eine erfreuliche Gestalt in Rot mit bloßen Beinen und hübschen Bewegungen. Empfand, wie notwendig sinnliche Beteiligung und Freude für die Produktion sind. Auf meine Jahre wirkt Jugend unbeschreiblich rührend, bedingt auch neiderweckend. Mein wahnhafter und doch leidenschaftlich behaupteter Enthusiasmus für den unvergleichlichen, von nichts in der Welt übertroffenen Reiz männlicher Jugend, die von jeher mein Glück und Elend, nicht auszusagen, enthusiastisch und stumm. Krankhafter Enthusiasmus für den ›göttlichen Jüngling‹. Der Kult des männlichen Körpers in der italienischen Kunst entzückt mich. Selbstverständlich fielen meine Augen auf einen Adonis in der Badehose; vollkommen schön, sogar die Gesichtszüge. Aber zweifellos ist mein Enthusiasmus für das Jung-Männliche in letzter Zeit, vielleicht aus Torschluß-Gefühl, stürmisch gewachsen, mein Auge ungeheuer wach und schmerzlich-begierig für alle dergleichen Schönheit, die Nicht-Empfänglichkeit dafür mir bis zur Verachtung unbegreiflich. Gestern hübscher junger Photograph, dem ich gern in die Augen sah. Sah auf einem Lastwagen einen blonden, blühenden Jüngling mit nacktem Oberkörper, was einen großen Zauber für mich hat. Daß die Bewunderungswürdigkeit des ›göttlichen Jünglings‹ alles Weibliche weit übertrifft und eine Sehnsucht erregt, vergleichlich mit nichts in der Welt, ist mir Axiom. Las eine englische Broschüre, wissenschaftlich-psychoanalytisch über Homosexualität, die das Ergebnis der Inzestangst in Beziehung auf die Mutter sein soll. Die gelehrte Unwissenheit selbst.  Armin Martens, meine erste Liebe, und eine zartere, selig-schmerzlichere war mir nie mehr beschieden. Nur zu begreiflich, daß er mit meiner Schwärmerei nichts anzufangen wußte. Ich habe ihm im ›Tonio Kröger‹ ein Denkmal gesetzt. Klaus, der Geliebte von einst, wird mich besuchen. Unruhe nachts durch Rektalbeschwerden.

Andy Warhol: Sex ist auf dem Bildschirm und auf dem Papier erregender als unter der Bettdecke. Für mich ist Sex einfach zu viel Arbeit. Jeder hat auch eine andere Vorstellung von Liebe. Ich kannte ein Mädchen, das gesagt hat: »Wenn er nicht in meinem Mund gekommen ist, dann habe ich gewußt, daß er mich liebt.« Ich kenne eine Frau, die jeden Nachmittag jemanden anruft und sagt: »Ich zahle dir hundert Dollar, wenn du mit mir bumst.« Haben Sie von den Damen gehört, die junge Männer ins Theater mitnehmen und ihnen einen runterholen, damit sie sich das alles aufs Gesicht machen können? Sie massieren das Ejakulat wie Gesichtscrème ein. Irgendwie macht das glatter und läßt sie an dem Abend jünger aussehen. Wäre es nicht toll, einen Film nur mit gutaussehenden Jungen zu drehen — der Metzger, der Bäcker – nur Models. Einmal hat mich ein gutaussehender Kellner zum Dinner eingeladen, doch ich bekam kalte Füße. Es ist schwierig, Mädchen auszuführen, weil man sie aufreißen muß. Da ist es schon leichter, mit Jungs zu gehen, die dich aufgerissen haben. Die alten Schachteln wollen immer noch mit Männern ins Bett. Alle steinreich, mit dicken Klunkern, richtig vulgär und lustig. Geschieden und auf Abenteuer aus. Jede könnte deine Mutter sein. Auf der Party tanzen die ganzen alten Männer mit ihren neuen jungen Frauen die sie für alte eingetauscht hatten. Hier traf ich die schönsten und berühmtesten Models. Und alle sehen aus wie Barbie-Puppen: Keine Hüften und große Titten, und die Titten schwirren nur so durch den Raum. Bianca Jagger und Dr. Giller hatten beim ›Erotik-Bäcker‹ zwei große Marzipankuchen gekauft: der eine geformt als Schwanz, der einen Arsch fickt, der andere nur als Schwanz. Bianca trug den Kuchen herein und posierte für die Fotografen mit Schwanz und Eiern. Sie lief mit heraushängenden Titten rum. Sie ist nun mal eine Nutte. Beim Essen zog Bianca ihren Slip aus und reichte ihn mir. Sie sah untenrum ein bißchen dick aus, ihr Hintern ist ziemlich fett geworden. Sie hat wirklich einen breiten Arsch, sagte aber, sie sei dünn. Und man sah ihr auch ihr Alter an. Ich weiß nicht, wie alt sie ist, aber genau so alt sieht sie aus. Sie und Tom Sullivan vögelten praktisch im Stehen vor allen Leuten. Sly Stallone machte sich an Bianca ran, und allem Anschein nach sind sie in den Keller zum Bumsen gegangen. Bob Colacello sah, wie Bianca Poppers nahm, und sagte zu Diana Vreeland: »Hier geht’s täglich mehr zu wie im alten Rom.« Diana antwortete: »Ja, hoffentlich – das ist es doch, was wir wollen!« Alle versuchten Jerry Hall ins Bett zu kriegen. Sie weihte mich in ihre Philosophie ein, wie man einen Mann hält: »Selbst wenn du nur zwei Sekunden Zeit hast, laß alles stehen und liegen und blase ihm einen. Dann will er Sex mit keiner anderen mehr.« Jerry Hall trug eine Schürze. Wenn man den Reißverschluß aufmachte, kam ein großer Schwanz zum Vorschein. Ich machte lustige Fotos, wie sie mit einem Schwanz in der Hand den Truthahn zubereitete. Jerry erklärte, wie man Schwänze lutscht und Mösen leckt. Und dann erzählte sie Witze. Es war lustig. Marisol Escobar hatte eine wunderschöne Geburtstagstorte gebacken – schöne Marzipanfiguren, die miteinander bumsten. Roy Halston fragte Liza Minelli, ob er ihr das Paradies zeigen solle, und als sie ja sagte und fragte, wo das denn sei, sagte er, in seinem Zimmer. Also gingen sie hin und bumsten. Der Oberkellner zeigte uns endlich sein wahres Gesicht. Er war in hohem Grade schwul. Brooke Shields war auch da. Sie ist die hübscheste lebendige Puppe, die ich je gesehen habe. Machte Fotos von betrunkenen Frauen, die auf Parkbänken schliefen, und das Leben kam mir schrecklich vor. Aus nächster Nähe betrachtet, sehen alle Menschen fürchterlich aus. So animalisch.

Thomas Mann: Nähe des Wunsches zu sterben, weil ich die Sehnsucht nach dem ›göttlichen Knaben‹ nicht länger ertrage. Las André Gides Journal, verstimmt gegen ihn durch sein allzu direkt sexuell aggressives Verhalten gegen die Jugend, ohne Achtung, Ehrerbietung vor ihr, ohne sich seines Alters zu schämen, unseelisch, eigentlich lieblos. Ich – und einem geliebten Jungen irgend etwas zumuten! Undenkbar! Seine Verehrung durch Niederträchtigkeiten zu stören! Ein halbwegs hübscher junger Kellner im Speisesaal, nach dem ich zufällig ausgeblickt, reagierte sofort mit bereitwilligem Schauen. Sah aber, daß weiter nichts zu hoffen. 17jähriger Gärtnerjunge mit schönen Beinen, im Garten beschäftigt. Nickte ihm zu. Das letzte Vergessen und Verschmerzen von allem ist der Tod. Oft Gedanken an mein Hinweggehen. Zum Haarschneiden nach Westwood. Gefühle über Wollust und Tod. Trank zu gewöhnlicher Zeit meinen Kaffee. Zum Haarschneiden und Rasieren nach Westwood im offenen Wagen. Kräuterkäse zum Frühstück. Zu Hause Chokolade. Nach Westwood zum Haarschnitt (erfrischend). Nach Westwood gestern zum Haarschneiden. Mittags nach Westwood zum dringlich gewordenen Haarschneiden.

Andy Warhol: Okay, sehen Sie auch das Muster? Zum Haarschneiden nach Westwood. Sie sagen das in ihren Tagebüchern immer wieder. Das ist eine Serie, mein Kunstprinzip. Das Leben ist wirklich eine ständige Wiederholung.

Thomas Mann: Zum Haarschneiden und Rasieren nach Westwood im offenen Wagen. Nach Westwood zum Haarschneiden. Mittags nach Westwood zum Haarschneiden.

Andy Warhol: Meine Coca Cola-Bilder habe ich aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Die Flaschen wurden teils in Vorderansicht, teils in Seitenansicht gezeigt.  Der Durchschnittswert Ihrer Sätze zum Haareschneiden ergibt dann: Zum Haarschneiden nach Westwood. Man muß Banalitäten oft genug wiederholen, dann verlieren sie alle Banalität und werden Merksprüche. In meinem Tagebuch wiederholt sich ein Satz immer wieder: »Wir gingen ins ›Studio 54‹.« Der russische Schriftsteller Nabokov hat Ihnen vorgeworfen, daß Ihre Figuren klischeehaft gebaut seien. Ideen als Personen. »Sie wollen eine rührende Figur? Vier Zutaten reichen: Frau, alt, klein, arm. Da haben Sie sie. Sie wollen einen stolzen Aristokraten? Bitte sehr – Monokel, Gamaschen, Schnurrbart, Hund.«

Thomas Mann: Der Neid unter Schriftstellern ist grenzenlos und unauslotbar. Man würde heute anders schreiben, wenn Nietzsche und ich nicht gelebt hätten. Eine überlebensgroße Büste wird von mir hergestellt. Nachdenken über die Aufstellung meiner Büste in Stein auf einem städtischen Platz in Deutschland. Dauer in Sonne, Regen und Schnee. Eigentümlich beruhigend über den Tod und die Existenz festigend. Ich sollte aufhören, dieses nutzlose, leere Tagebuch zu führen, aus Scham vor meiner gegenwärtigen elenden Existenz. Trank im Eßzimmer Orangensaft und rasierte mich dann. Sehr gute Gänseleber vor der Suppe. Halsentzündung. Gurgeln mit Natron. Die Verdauung sehr schwierig. Hartnäckige Konstipation. Fast unkorrigible Verstopfung. Schwere Konstipation und Gemütsleiden. Gestern stark abgeführt ohne böse Folgen. Glück des Zuhause, des Gerettet- und vor der Welt Geborgenseins, die draußen schreien mag. Abgeführt und gebadet und im Eßzimmer das Gewohnte. Trage Hemd und Hose. Nachmittags rasiert. Schlechtes Befinden. Brand des Zeppelin; sehr eindrucksvoll. Die Verdauung sehr schwierig. Die Öl-Creme, die den Verdauungstrakt schmeidigt, das Beste, das mir in diesem Punkt je empfohlen. Öl und Laxativ bekommt mir schlecht, aber ohne sie verhärtet der Stuhl sich in gefährlicher, verwundender Weise. Gemeindeschwester Anna mit Einlauf. Nachher, wie zu erwarten, Juckreizung der Aftergegend.

Andy Warhol: Was ist schon das Leben? Man wird krank und stirbt. Das ist alles. Also muß man sich beschäftigen.

Thomas Mann: Spezial-Audienz bei Papst Pius XX. Die weiße Gestalt des Papstes vor mich tretend. Bewegte Kniebeugung und Dank für die Gnade. Hielt lange meine Hand. Durch die Audienz im Stehen erinnert an Napoleon mit Goethe in Erfurt. 

Andy Warhol: Ging in die Kirche. Ich bleibe immer nur fünf oder zehn Minuten. Während ich kniete und Gott um Geld anflehte, kam eine Stadtstreicherin herein und wollte welches von mir. Ich gab ihr 5 Cent. Roy Halston zeigte mir meine Geburtstagstorte. Sie war mit Geld bedeckt. Halston wollte das Geld verbrennen, aber ich war dagegen. Ich schlug vor, die Torte so anzuschneiden, daß jeder mit seinem Stück Kuchen einen Geldschein bekam. 

Thomas Mann: Gehobener Laune durch die bevorstehenden reichen Einkünfte. Es kommt jetzt viel Geld von allen Seiten, und große Summen stehen aus fürs nächste. Wir sind sehr reich und müssen hohe Steuern zahlen.  Wie nahe steht der Tod! Ängstigendes Gefühl einer solennen Auflösung. Gefühl der Auflösung, der Ratlosigkeit, des Abstiegs und Ruins erschüttert mehr und mehr meinen Nervenzustand, – nicht des Todes, leider, da meine Physis aushält. Oft Sehnsucht fort aus dieser verrückten, geifernden Welt. Dies seltsame Leben. Bald ist es aus und wird nie wieder gelebt werden. Mein Leben ist ausgelebt.  Angenehm war es nicht. War nicht das ganze Leben peinlich? Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz. Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dieses Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Verdauungssorgen und Plagen. Nach dem Kaffee mit dem elektrischen Apparat den Bart entfernt. Nach Santa Monica zur Fußpflege. Zufrieden mit der zeitsparenden Akquisition des elektrischen Shavers. Zum Haarschneiden nach Westwood. Fahre fort mit dem elektrischen Rasieren. In der ›New York Sunday Times‹ ein Geburtstagsartikel, wie man es anfängt 75 Jahre alt zu werden. Sollte antworten: indem man nicht lebt wie ich. Mangelhafter Nervenzustand. Bedrückt, melancholisch, angewidert. Der Körper hält sich bei, wie mir scheint, schwindenden, Geisteskräften, jung für 76 Jahre. Bin ich wirklich am Ende? Und doch meine ich nach der Schweiz zu gehen, nicht um dort zu leben, sondern um dort zu sterben. Oft aufsteigende Angst, daß ich nicht mehr schreiben kann, während der Körper verhältnismäßig jugendlich aushält. So ist es, wenn man sich überlebt. Was ich jetzt führe, ist ein Nachleben, das vergebens nach produktiver Stütze ringt. Mein einziges Behagen ist Rauchen und Kaffee trinken, was beides schädlich. Das Verlangen nach Alleinsein zielt schließlich auf die Ruhe im Grabe. Nach Santa Monica zur lange vernachlässigten Fußpflege. Lange Nägel überaus lästig und für die Haut gefährlich.

Andy Warhol: Die Maniküre kostete $ 46,80. Der kubanischen Lady gab ich $ 10.00 Trinkgeld, weil sie mir alles über sich erzählte. Aber meine Nägel hat sie versaut. Die Bauarbeiter auf der Straße pfiffen mir nach. Ich sah mich im Schaufenster eines Ladens. Ich glaube, ich falle auf wie ein bunter Hund.

Thomas Mann: Seit Wochen vollständiges und ungewohntes Versagen der geschlechtlichen Potenz. Nähr- und Stärkungsmittel gehen am Geschlechtlichen aus. Drastischste (und betrüblichste? Der Teufel hol’s!) Äußerung des seit der Europareise spürbaren Altersschubs. Da ich es ablehne, ohne Voll-Erektion zu masturbieren, scheint das Ende meines physischen sexuellen Lebens gekommen. Schmerzliche sexuelle Anfechtung, die zu erdulden, da die Potenz endgültig hinter mir zu liegen scheint. Wer da meint, das meine den ›Frieden‹ ist sehr im Irrtum. Zur Nacht, nach einigem Schlaf, masturbiert und zweites Sekonal genommen.

Andy Warhol: Pierre erzählte uns, daß man heute bereits Silikon in Schwänze spritzt, damit sie dauernd steif bleiben. Jemand gab mir das Sexvideo von Leo Ford. Ich ließ es laufen, als ich zu Bett ging. Er massierte sein schlaffes Würstchen, und das dauerte lange, und da war noch ein anderer Typ, der dasselbe mit seinem schlaffen Würstchen machte. Ich schlief ein, und als ich wieder aufwachte, waren sie immer noch dabei. Als ein anderer Typ bei mir war und er aufstand und an mir vorbeiging, hatte er einen Riesenständer, der wie ein Baseballschläger in seiner Hose steckte. Ich glaube, das heißt jung sein. Ich vergesse solche Dinge. Ich ging in sein Zimmer und fotografierte, wie er mit einem Steifen aus dem Bett stieg. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis war da, die Märchenprinzessin. Gloria wollte, daß ich ihr einen Schwanz auf ein Exemplar meiner Zeitschrift ›Interview‹ zeichne. Die Geburtstagtorte der Thurn-und-Taxis-Party war eine von diesen altmodischen ›Schwanz‹-Torten aus den siebziger Jahren, eine Torte mit Hunderten von Schwänzen, und jeder bekam einen Schwanz für sich. Gloria war auf der Pirsch für ihren schwulen Ehemann. Madonna kam und sie sah fabelhaft aus. Sie zeichnete Schwänze auf Futuras Hosen. Mrs. Astor sagte, sie wünsche sich einen Schwanz, dann könnte sie gleichzeitig Hände schütteln, den Cocktail halten und Lippenstift auftragen. Ein Typ sprach mich an und meinte, er habe den größten Schwanz von ganz L. A. Ich bot ihm an, das Glied zu signieren. Marisa Berenson war so erregt, daß sie sich hinüberbeugte, um den Schwanz zu sehen. Dabei fing ihr Haar an einer brennenden Kerze Feuer – die Strafe folgte also auf dem Fuße.  Wie lange kann man an einem Schwanz lutschen? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe vieles im Leben verpaßt – ich habe nie Straßenbekanntschaften gemacht oder so was. Ich habe das Gefühl, das Leben ist an mir vorübergegangen.

Thomas Mann: Nächtliche Heimsuchung. Das Erlöschen der ›Potenz‹ – Voreilige Bemerkung. Die Sexualität – unglaublich. Heftiges Geschlechtsleben in letzter Zeit. Nachts Erregung und Auslösung. Zuweilen ist meine Brunst noch von der Hengste Brunst, und das mit 78 Jahren. Ich ordnete mein Bett. Keilkissen für mein Bett: wichtige Verbesserung. Hormon-Injektionen. Nachts sexueller Anfall, den Injektionen zuzuschreiben. Im erregten Halbschlaf  Vollerektion und sonderbar hoffnungsvolles Liebesgefühl. Morgens starke Erektion. Lächerlich, die Genugtuung. Nachts Überfall bei starkem Vermögen und heftiger Lust. Was soll man machen? Lebhaft vorhaltende Männlichkeit erwies sich bei Nacht. Nachts heftigste Wollust. Morgens Voll-Erektion, was schon lange nicht mehr vorkam. Schreibe eine gewisse Belebung meines Lebensgefühls ›meiner Jahreszeit‹, dem Frühling, zu, die nun beginnt. Gerötetes Geschwür an Eichel und Vorhaut. Zum Haarschneiden nach Westwood.

Andy Warhol: Wenn man aufhört, etwas zu wollen, bekommt man es. Stuart Pivar ist ganz vernarrt in junge Körper. Seiner Ansicht nach sind es die Hormone, die einen jung halten. Er ist scharf auf Siebzehnjährige, aber er bekommt sie nicht. Und dann war da noch Debra Winger. Sie war großartig. Sie sprach mit mir über ihren Dickdarm und daß sie voller Scheiße steckt.

Thomas Mann: Gestern Nacht, nach tagelanger Lähmung durch die Infektion, heftige Darm-Entleerung. Hautentzündung der Rectum-Gegend, behandelt. Furchtbare Verhärtung des Stuhles. Nachts geplagt von Rektal-Leiden und verstimmten Magen. Rektal-Beschwerden. Die Rektal-Angelegenheit ziemlich bedenklich. Das Rektal-Leiden störend. Recht schlimmer Zustand des Rektal-Leidens. Meine Sorge sind hämorrhoidale Beschwerden. Hämorrhoidal-Knoten, entzündlich und sehr belästigend. Durchfall vom Öl und Rektal-Jucken.  Wundheit der Rektalgegend. Erregter Darm. Angegriffen von Abführmittel. Heute keine Abführmittel.  Meine Darmverhältnisse sehr ungehörig. Vegetabilisches Laxativ genommen mit übertriebener Wirkung.  Abgeführt und gebadet. Wo ich bin, ist die deutsche Kultur. Nun ja, ganz genau so habe ich das nicht gesagt, mein Bruder Heinrich hat dieses Statement in seiner Autobiographie so kolportiert. Ich gab einer amerikanischen Zeitschrift nach meiner Emigration in die USA ein Interview und sagte: »Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me.« Es spricht für mich, daß ich mich mit der Größe so gern beschäftige.

Andy Warhol: Wir gingen in die Parfümerieabteilung von ›Bloomingdale’s‹ und eine alte Dame neben mir sagte: »Ich stehe neben ihm. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich stehe tatsächlich neben ihm.« Als wir gingen, sagte mein Begleiter. für heute hätte ich mein Quantum Ruhm weg.

Thomas Mann: Katia berichtet von dem Fund einer Menge obszöner Zeichnungen in meines verstorbenen Bruders Heinrich Manns Schreibtisch. Die Nurse wußte davon, daß er jeden Tag gezeichnet, dicke nackte Weiber. Das Sexuelle in seiner Problematik bei uns Geschwistern, Lula, Carla, Heinrich und mir. Vergafft sein in allerlei Jugend. Meine praktische Unfähigkeit, verstärkt durch Verwöhnung, beschämt mich. Völlige Präokkupation durch Leidenschaften, Liebeskummer, die nur durch Dichtung leidlich zu erlösen. Diese ist es aber schließlich, die uns alle ernährt. Werde wohl im Laufe des Tages leidend sein. Ordnete selbst meine Toiletten-Gegenstände und wechselte das Hemd. Weh und schwer. Erinnerungen glimmen an erschaute und geliebte Jugend. O Dio! O Dio! O Dio! Wundes Herz. Das will mir nicht mehr aus dem Sinn, Augen, Hermesbeine, la forza d’un bel viso. Zuviel gelitten, zuviel gegafft und mich entzückt. Mich zuviel von der Welt am Narrenseil führen lassen. Wäre alles besser nicht gewesen? Warum schreibe ich dies alles? Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten? Oder wünsche, daß die Welt mich kenne? Alle Tagebücher in irgend einem sich empfehlenden Augenblick zu verbrennen. Gebadet, rasiert und fertig angezogen.

Andy Warhol: Ich leimte mich zusammen.

Thomas Mann: Gebadet, rasiert und fertig angezogen.

Andy Warhol: Ich leimte mich zusammen.

Thomas Mann: Alles hat angefangen und wird aufhören, es wird wie vorher raum- und zeitloses Nichts sein. Das Leben auf Erden eine Episode, so wie vielleicht alles Sein ein Zwischenfall zwischen Nichts und Nichts.

Andy Warhol: Das Nichts ergreift von dem Planeten Besitz. Ich glaube, wenn ich in den Spiegel schaue, werde ich NICHTS sehen. Ein Kritiker hat mich mal das »personifizierte Nichts« genannt. Dann habe ich festgestellt, daß Existenz selbst NICHTS ist, und da ging es  mir gleich besser. Wie kommt es, daß ich zu den berühmtesten Persönlichkeiten der Welt gehöre? Sehen Sie mich doch nur mal an. NICHTS ist perfekt. Eigentlich ist NICHTS das Gegenteil von NICHTS. Der Trick ist eben, an NICHTS zu denken. NICHTS ist aufregend. NICHTS ist sexy. Es gibt nur einen Fall, in dem ich ETWAS sein will, und zwar dann, wenn ich zu einer Party keine Einladung bekommen habe, aber unbedingt dabeisein will. Steve Rubell, der Besitzer von ›Studio 54‹ holte einmal eine Mülltonne aus der Garage – vollgestopft mit 2000 Eindollarscheinen – und leerte sie über mir aus, das war wirklich das beste Geburtstagsgeschenk. Das amerikanische Geld ist wirklich gut gemacht. Es gefällt mir besser als jedes andere Geld. Am liebsten habe ich mein Geld irgendwo lose dabei.

Thomas Mann: Geld ist die letzte Sorge. Niedergang und Verfall einer Voll-Erektion. Zum Haarschneiden nach Westwood. Voll-Erektion! Voll-Erektion!

Andy Warhol: Eine Freundin stellte mir einmal die richtige Frage: »Was hast du am liebsten?« So fing ich an, Geld zu malen. Dollarnoten und Dollarzeichen: $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ !  »Was hast du am liebsten?« $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ !

Thomas Mann: Voll-Erektion! Voll-Erektion! Voll-Erektion!

Andy Warhol und Thomas Mann: Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!

Thomas Mann: Tagebücher 1949–1950, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1991; Tagebücher 1951–1952, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1993; Tagebücher 1953–1955, (Hg.) I. Jens, Frankfurt/M. 1995
Andy Warhol: The Andy Warhol Diaries (ed.) P. Hackett, New York 1989; dt. Das Tagebuch, (Hg.) P. Hackett, München 1989