Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Fritz J. Raddatz meets Fritz J. Raddatz
Sein Geist war in einer beständigen Gärung; er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihm etwas Außerordentliches begegnen. Nichts würde ihn befremdet haben, am wenigsten sein eigener Untergang. (Friedrich Schlegel: Lucinde, 1799)
(Fritz J. Raddatz sitzt vor einem großen Stand-Spiegel, schaut hinein und beginnt, sich mit seinem Gesprächspartner zu unterhalten)
Fritz J. Raddatz: Beginn meiner neuen TV-Serie ›Dialog‹. Kultur im Fernsehen geht gar nicht, es ist das Medium für die Message, für Nachrichten. Viele der TV-Shows sind eben Shows und haben ja mit Literatur nix zu tun. Zurück von einer TV-Quassel-Tour, die sich ›Philosophisches Quartett‹ nennt, aber mit Philosophie (was wohl im TV auch nicht ginge) nichts zu tun hat. Warum ich an derlei teilnehme? »It’s the money, honey.« sagte Marlene, als man sie fragte, warum sie…
Fritz J. Raddatz: Zeitweise kam es mir vor, als sprächen zwei Spiegel miteinander. Entdecke mehr und mehr eine unangenehme Eigenschaft bei mir: Wie aus lauter kleinen Kaleidoskop-Spiegelchen setze ich mir aus Lese-Bildern mein eigenes Portrait zusammen. Jeder spricht nur noch mit seinem Spiegel. Das ist der letzte Partner geworden. Wie gegenüberliegende Spiegel, deren Optik respektive Perspektive sich ins Unendliche bricht. Bin – war – ich zwei Menschen? Ich bin nur ein »Spiegel meiner Zeit«. Endlich weiß ich, was ein Tagebuch ist, nämlich niedergeschriebener Monolog. Das Tagebuch widerspricht, nein: widerlegt sich selbst. Ursprünglich als nächtlich-einsame Beicht- und Klagekladde angelegt, monologisch und ohne Publikum, schiele ich nun nach Publikation und gehe nun mit diesen Splittern meines Lebens hausieren. Sinnlos, Tagebuch übers Tagebuch zu führen; zumal’s mehr und mehr ein Nachtbuch wird – also Spiegel einsamer Schwärze. Ein Tagebuch ist keine Talkshow.
Fritz J. Raddatz: Schon mein Kindermädchen brach in Tränen aus über mein ›Geplapper‹. Wenn die Leute wüßten, wie mir eigentlich zumute ist. Jener Moment, der mein ganzes Leben bestimmt und zerstört hat, nämlich als mein Vater mich verführt hat und ich mit seiner Frau ficken mußte.
Fritz J. Raddatz: Fühle mich am Ende meines Lebens angekommen. Unaufhaltsam auf den Tod zu. Wie einsam und un-gebadet wird man bloß mal verrecken? Ach, wenn man bloß den Moment noch erwischt, das alles ›reinlich‹ und mit korrekter Kraft ›selber zu erledigen‹. Ich habe ja keine Angst vor dem Tode, nur vorm Sterben. Als ich im FAZ-Magazin-Fragebogen seinerzeit – immerhin – ›bekannt gab‹, ich werde mich eines Tages umbringen, hieß es nur und ganz allgemein: »Das war der witzigste Fragebogen seit langem.« Habe fest vor, demnächst nach Zürich zu fliegen und mich nach den dortigen Möglichkeiten (der Sterbehilfe) zu erkundigen. Da ich demnächst 1 Woche allein auf Teneriffa sein werde, genügte es ja, unbeobachtet weit hinauszuschwimmen. Da lüge ich mir dann vor »Aber so fände man ja die Leiche nicht« – als wäre das dann noch wichtig! Ein Raddatz im Altersheim? Wie nur schafft man den Abgang vorher, rechtzeitig? Hängt man erst mal an den Schläuchen, geht’s ja nicht mehr. Ich weiß gar nicht, ob ich das ›Alter‹ erreichen will: dieses Regredieren in die Kindheit. Das Glied allmählich zurückschrumpfend in die Bedeutungslosigkeit der Vorpubertät. Dieses Schlaffwerden geht doch weit hinaus über die Heinrich-Heine-Frivolität, der beklagte, daß der Körperteil, der früher fast immer steif war, nun schlaff, und der (der Rücken), der früher immer elastisch, nun immer steif sei. Gestern habe ich mir meine ›Seniorenkarte‹ für die Bahn gekauft. Gott sei dank sagte die nette Verkäuferin: »Für wen ist die? Doch nicht für Sie? Sie müssen nämlich 60 sein.« Als ich an der Garderobe des ›Vier Jahreszeiten‹ nach meinem Mantel fragen wollte, kam mir die Garderobenfrau zuvor und kramte ihn unter den Hunderten hervor: »Solche Herren wie Sie gibt es nicht so oft, die merkt man sich.«
Fritz J. Raddatz: Die Bepflanzung meines Grabes in Keitum wird nun endlich erledigt [1982, da war ich 51 Jahre alt; 2015 habe ich mit 83 Jahren mir in Zürich das Leben nehmen lassen]. Das Grab, by the way, ist sehr ›schön‹ – zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man wohl nicht verlangen… Die Absurdität des ›schönen Grabs‹. Habe mir eine weiße Rose von meinem Grab gebrochen. Also Krebs. Gestern kam der endgültige Befund. Abschied von der Welt? Trotz tagelangen Grübelns weiß ich noch nicht, wie und wo. Inzwischen habe ich 50% ›jenes‹ Medikaments – und graule mich prompt, mir die fehlenden 50% zu verschaffen. Nun stellt sich heraus: ich habe keinen Krebs! Da hatte ich nun fast täglich die Pläne des Suizids, wann, wo, wie hin und her erwogen, weil ich einen wachsenden Krebs nicht hätte weiter wuchern lassen und nach wie vor jeden jeglichen Eingriff verweigert hätte. Und nun ›April, April‹. 78. Geburtstag. Nachmittags an meinem Grab. Konnte es nicht mehr frivol und mit ›Hat noch Zeit‹ ansehen. Ertappe mich, wie ich bei Strandspaziergängen, wenn die Sonne von hinten scheint, den eigenen Schatten aufschlürfe, beim Betrachten desselben nur denke: »Wann gibt’s den Schatten nicht mehr?« »Wann bin ich nur noch ein Schatten?«
Fritz J. Raddatz: Resultat meines Lebens ist ein Stapel Bücher (von dem niemand, auch ich nicht weiß, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden). Geburtstag. Ich werde den Abend mit einer herrlichen Flasche Krug und 1/2 Pfund des besten Caviar traurig ›feiern‹. Wie lange noch…? Sehr alt werde ich auch doch nicht. Altwerden ist nur mit sehr viel Selbstironie zu ertragen. In meinem Leben war nichts Freudiges – war vielleicht viel Genießerisches.
Fritz J. Raddatz: Seit meinem 15. Lebensjahr hatte ich eine vollkommen ausgelastete, täglich ausgeübte Sexualität. Die 20 Frauen, mit denen ich geschlafen habe, besagen doch numerisch nichts gegenüber den doch gewiß 1000 Männern (One-Night-Stands und One-Hour-Stands mitgezählt), mit denen ich Sex hatte? Eigentlich bin ich schon tot, leergeliebt, ohne Freudigkeit. Das letztlich Unheimliche der Sexualität, vermutlich wird sie immer unerklärlicher, je mehr man sich im Alter aus dem Bannkreis dieser Lust entfernt. Wozu lebe ich eigentlich noch? Testament gemacht. Komischer Vorgang. Beerdigung bis ins Detail, welche Musik, festgelegt. »Es ist getan«: der nächste große Schritt aufs Ende zu. Nun habe ich alles bis zur Lächerlichkeit ›vorbereitet‹, Grab gekauft, Testament gemacht, und bin innerlich trotzdem nicht vorbereitet, weiß nicht, wie mich vorbereiten auf den Abschied von der Welt, an der ich mehr hänge, also am Leben, als ich wahrhaben will und mir bisher selber zugab. Angst, zu lange zu leben (weil eventuell das Geld nicht reicht), als auch Angst, zu bald zu sterben (weil’s mir doch eigentlich gutgeht).
Fritz J. Raddatz: Ich lebe in Suiten, fresse Austern, saufe Champagner, kaufe bei Yves Saint Laurent und bin ›berühmt‹. Bin ich glücklicher? 60. Geburtstag. Ich muß mich schon fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich Bedeutung, nicht enorm überschätze. Was bleibt, ist offenbar der geistreiche Mann, der schnelle und zu schnellen Fehlern neigende Journalist, der gebildete Anreger. Die Hurenhaftigkeit dieses Berufs. Die Albernheit der Journalisten. Sie sind stolz (in anderen Zeitungen) zitiert zu werden. Sie sind wie Schauspieler, die der Kollegin, deren Rolle nur ein »Ihr Tee, Madame« hergab, hinterher in der Garderobe sagen »Irmchen, du warst großartig!«
Fritz J. Raddatz: Diese Autoren, ihre Narzißhaftigkeit und Eitelkeit ist zu schlimm. Sie sind ja alle absonderlich, die Herren Schreiberlinge, eitel. Unsere armen hungernden Dichter sind ja immer entweder auf einer ihrer Datschen oder zu Vorträgen in Amerika. »Ach, Herr Raddatz, ich leide so unter dem Ruhm. Sie wissen ja nicht, wie das ist.« Sie erzählen einem von ihrem Liebeleid und auch ›anderes‹; wenn ich nun Geschichten vom Knabenstrich erzählte? Wie immer sind unsere lieben Intellektuellen mehr an sich interessiert als am ›Weltgeschehen‹.
Fritz J. Raddatz: So hat mich ein Satz in einem Fassbinder-Nachruf besonders geschockt: Er habe nie in seinem Leben auch nur einen Tag Urlaub gemacht. Was für mich ja nun auch zutrifft – ob nun Sylt, auf Sardinien oder in Fuerteventura: Ich habe doch stets ein Buch vor der Nase oder kritzle an etwas.
Fritz J. Raddatz: Ich bin zu bunt und zu ›outwayish‹. Ich versinke wie eine Beckett-Figur im Sand. Was ist nur an meinem Leben, daß alles so spektakulär, so angriffig ist? Da ich ja wahrscheinlich nicht ›richtig‹ begabt war und bin, habe ich wohl diese Leere aufgefüllt, durch Energie, durch Schnelligkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Schlagfertigkeit. Wir versinken alle miteinander im Beckett-Sand. Und es wird von mir bleiben: Nichts.
Fritz J. Raddatz: Tiefpunkt der Woche: Hans Mayer. Der Egoismus des Mannes hat nun endgültig krankhafte Züge angenommen. Hob schon im Hotel den Hörer ab mit dem Satz: »Ich sehe mich gerade im Fernsehen.« Ich glaube kein Wort von ihm, nichts, was er schreibt, nichts, was er sagt. Verlogen ist auch jede Zeile in seinen Memoiren. Er lügt sich seine eigene Biographie zurecht (tun wir das alle?). Kaum war Adorno tot, gab’s den Essay ›Adorno und ich‹. Wie ein Schüler, der mit Eins versetzt wird, berichtete er stolzgeschwellt: »Es tun sich große Dinge in Sachen Hans Mayer – aber ich kann sie noch nicht erzählen.« Die Sucht, anerkannt zu werden, führt den Mann zu seltsamen Bahnen. »Hauptsache gedruckt«. Es muß schöner sein als ein Koitus. »Ich bin ein Klassiker« – das muß man auch von sich sagen können; jedenfalls sagte es Hans Mayer eben in einem einstündigen Bedeutungs-Duschen-Telefonat. Was für ein seltsamer Mensch dieser Hans Mayer! Hans Mayer, der bei seinem Zahnarzt Hans Meier beleidigt aus dem Zahnarztstuhl, Gebiß in der Hand, aufspringt und die Praxis verläßt, weil die Assistentin ihn mit »Guten Tag, Herr Mayer« begrüßt. Niemand war schon in der DDR, dann später in der BRD so geldgierig wie Hans Mayer. Meine Stasi-Akte. Mitschnitt eines Telefonats mit Hans Mayer: »Ein Professor Meier, unbekannt.« Müßte man ihm zusenden. Besuch – letzter? – beim 90jährigen Hans Mayer; nach langjähriger ›Pause‹. Er ist seine eigene Anekdote, die so geht: Hans Mayer hat Besuch. Er redet 2 Stunden ohne Unterlaß, wo er alles Vorträge gehalten hat. Nach langem betäubten Schweigen wird der Besucher gefragt: »Und nun zu Ihnen – haben Sie mein neuestes Buch gelesen?« Dann: »Mein Grab wird sehr schön«. Er hat es sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gesichert. »Da gehöre ich schließlich hin, ich werde neben Brecht und Eisler und Arnold Zweig und Hermlin liegen, das wird sehr schön.«
Fritz J. Raddatz: Da ja nichts in meinem Leben ohne ›Pointen‹ ist… Und nichts in meinem Leben geht ohne Pointe.
Fritz J. Raddatz: Die Bepflanzung meines Grabes in Keitum wird nun endlich erledigt. Das Grab, by the way, ist sehr ›schön‹ – zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man wohl nicht verlangen… 70. Geburtstag. Grabstein gekauft. Gestern das Zielband namens »Näher mein Tod zu dir« erreicht: 75 geworden. Mit 30 dachte ich: »Na ja, mach’s mal bis 45« – wohl ein reichlich albernes Tucholsky-Plagiat. Gibt es überhaupt noch Glück mit 75 Jahren? So sah mein heutiger Einkaufszettel aus: 1. Sarg kaufen 2. Wein bestellen 3. Brot besorgen. Manchmal ertappe ich mich halt doch bei dem Gedanken: »Eigentlich schade, daß es bald vorbei ist.«
Fritz J. Raddatz: Ich hatte doch ernsthaft über viele Jahre hinweg geglaubt, man könne mit Schriftstellern befreundet sein. Während in Wahrheit doch die Berührungsfläche etwa der von zwei Quecksilberkügelchen entspricht: Jeder rollt den Sisyphusstein seines kleinen Rühmchens vor sich her. Die Monologisierung unserer Gesellschaft oder Die Ferne der Intellektuellen untereinander. Wenn ich doch lernte, daß niemand an niemanden interessiert ist. Literaten sind grotesk, egal bei welcher Leichenfeier: Sie lesen vor. »Darf ich Ihnen meinen Namen buchstabieren?« – »Aber ich habe ein Essay über Sie geschrieben.« Günter Grass stellt demnächst sein neues Buch vor – eingeleitet von Marcel Reich-Ranicki. Sein Todfeind, der Mann, den er angeblich tief verachtet – »Dem gebe ich nie wieder die Hand« –, der ihn von ›Blechtrommel‹ bis ›Unkenrufe‹ auf das verächtlichste angegriffen hat, über dessen letzten geradezu berserkerhaften Verriß er bei mir am Telefon tatsächlich weinte: Dem übergibt er zur Taufe sein neues Kind. Wieder einer weniger. Ich will Grass vorerst und wohl für lange nicht sehen. Verkommenheit des Kulturbetriebs. Gestern abend Grass zum Essen. Fortsetzungsroman ›Verkommenheit des Kulturbetriebs‹. Nobelpreis für Grass. Grass-Lesung. Ovationen, das Publikum stand auf! Als käme ein Heilsbringer. Weiheschrift für Reich-Ranicki. Günter Grass mit einer ›Seid umarmt!‹-Anschmiererei, derselbe Grass, der mir schwor, »dem Manne gebe ich nie mehr die Hand«. Immer weiß einer über den anderen, nein: über alle anderen möglichst Negatives zu sagen – aber privatim. Und öffentlich wird duftende Narde verteilt. Sie dinieren, korrespondieren und loben einander. Die Selbstenthüllung von Freund Grass in seinem neuen Buch, er sei freiwillig bei der SS gewesen. Warum ›enthüllt‹ er das erst jetzt? Berechnung, weil SS-Mann Grass natürlich nie den Nobelpreis erhalten hätte? Die perfekt inszenierte Reklamemaschine, die er mit diesem Geständnis verbindet und anwirft. Er war kürzlich bei mir zum Abendessen, brachte ein Vorabexemplar des Buches mit freundlicher Widmung mit – – – und sagte kein einziges Wort in Sachen Waffen-SS. Grass nennt mich in seinem Tagebuch einen »Scharfrichter« (was, genau genommen, ein Mörder ist). Das Tischtuch ist zerschnitten.
Fritz J. Raddatz: Sonntags-nach-Frühstück-Spaziergang, den Leinpfad entlang. Dort sitzt auf einer Bank eine einsame alte Frau in schäbiger Jacke und Pullover, mit einem Stock am Boden stochernd, erloschenes Gesicht; genau gegenüber von Augsteins Führerbunker-Villa. Es war Rudolf Augstein. Fast hätte ich ne Mark hingelegt. Die letzten zehn Jahre seines Lebens war er ein lallender Trunkenbold. Gestern schockiert vor dem Grab von Rudolf Augstein in Keitum, unweit dem meinen: Es ist kein Grab, sondern eine schlecht geharkte Sandstelle, als hätte man eine Katze verscharrt. Vor dem Stein mit seinem Namen eine verpißte Primel. Kein Strauch, keine auch nur winzigste Hecke. Die Grabstelle geht nahtlos über zum nächsten Grab. Ich habe etwas derart Liebloses, ein solches Wegwerfen eines Verstorbenen noch nie in meinem Leben gesehen. Da sind nun alle diese Söhne, Halbsöhne, Töchter, Halbtöchter, Witwen, geschiedenen Damen, die in ihren von ihm bezahlten Villen wohnen. Und keiner von all denen fühlt sich bemüßigt, dem Vater, dem ehemaligen Mann eine auch nur ordentliche, ihm gemäße Ruhestätte zu schaffen.
Fritz J. Raddatz: Was mache ich falsch? Es kann ja nicht nur die Schuld der anderen sein – irgendwas muß auch an mir liegen. Aber was bloß? Ich würde ja versuchen, es zu ändern – aber ich weiß einfach nicht, was es ist. Erwarte ich immer ›mehr‹, also zu viel von den Menschen? Schade, daß ich nie mein Stück ›Die Journalisten‹ geschrieben habe – sie wollen die ganze Welt belehren und sind doch (meist) ganz kleine Leute. Schreibende Stricher. Die verliehene Macht – die kommt immer vom Inhaber; also vom Geld. Wie schade, daß ich so gar keine scenische Begabung habe, daß ich das geradezu sich aufdrängende Stück ›Die Journalisten‹ (besser als Gustav Freytag) nicht schreiben kann. Neben mir Joachim Fest, der ja gebildet und verklatscht ist, also eine angenehme Mischung.
Fritz J. Raddatz: Dabei komme ich mir auch lächerlich vor in dieser Thomas-Mann-Nachäfferei, es ist frivol und unangemessen, ich Winzig-Talent in den zu großen Schuhen der Allüren dieses Genies. Leicht lächerlich, daß ich in meinem Alter gelegentlich noch ›geschlechtliche‹ Träume habe, wie Thomas Mann das wohl nannte. Thomas-Mann-Traum: Er flirtete mit mir (und mehr, was ich indiskret fände, hier niederzulegen; man beschreibt nicht, nicht einmal als Traum-Mutmaßung, die Schwanzmaße von Thomas Mann). Erwische mich aber bei grotesken Parallelen, z. B. dem An- und Nachstarren schöner Knaben- oder Männerkörper, kräftig-muskulös oder elfenhaft schmal, behaart oder blond nur mit Flaum am Körper. Komme mir impotent und voyeuristisch vor, mache mich vorzeitig zum Greis. Es knistert nirgendwo – wo doch früher an jeder Ecke und … zigmal am Tag es sich ereignete. Meine Kraft läßt in einem erschreckenden Maße nach, meine Sexualität – noch lange nicht her, wo ein Tag ›ohne‹ mich ganz nervös machte – auch. Mehr Genuß als aus irgendeinem Coitus zog ich aus der Lektüre der Thomas-Mann-Tagebücher. Die übliche morgendliche Erektion ist in dem Moment weg, in dem ich wach werde – d. h. zu denken anfange. Neulich im Bad ein ca. 14jähriger mit heftiger Erektion sich nicht nur provozierend neben mich unter die Dusche stellend, sondern mich dreimal in die Umkleidekabine verfolgend, jedesmal kokett das Hös’chen ausziehend und stolz-bewußt den sehr schönen jungen Schwanz zeigend. Ein Glück, daß ich kein Päderast bin. Aber ich werde wohl immer sonderbarer. Ich gehe ein bißchen spazieren und ertappe mich, wie ich tatsächlich wie ein alter schwuler Professor aus nem billigen Film einem muskulösen Bauarbeiter offenen Mundes nachstarre. Nicht, daß man mit so was wirklich ins Bett wollte – es ist eben nur das ganz Andere. Mein erster Ausflug in die schwulen Dünen erfolggekrönt, Verlockung, Lockung durch einen palmschönen Knaben. Aber ich laufe davor weg. Thomas-Mann-Tagebücher beendet, die dann doch aus dem Manicure-Pedicure-Pudel-unleidlich-Niederungen in abgründige Tiefen tauchen: eine rührend-intensive Verliebtheit in einen Hotelkellner. Die Einsicht, daß er seine (fast) ungelebte Erotik/Sexualität immer in sein Werk ›investiert‹ habe, dabei skurril, daß er einen nächtlich-steifen Schwanz als »Ermächtigung« bezeichnet und die Ejakulation als »Auslösung«. Welcher moderne Autor würde mich so faszinieren? Ich strahle, obwohl ein 80jähriger Greis, im Moment irgendeine sexuelle ›Strahlung‹ aus. Wieso beschäftigt mich das, als wäre ich Thomas Mann und lechzte nach dem kleinen Kellner im Hotel, um dann in Gedanken an den zu onanieren, was er ja detailliert in seinen Tagebüchern beschreibt?
Fritz J. Raddatz: Ich mag meinen Porsche nicht mehr, zu hart, zu laut, zu robust. Überlege allen Ernstes, einen Mercedes zu kaufen. Sitze in tiefer Depression. Die eigene Bizarrerie erstickt mich: Ich umgebe mich, um mich zu ›trösten‹, mit immer mehr Luxus – – – aber der tröstet mich nicht. Eigentlich ist mein Leben unfreudig. Nun habe ich das neue Super-Auto, einen Jaguar, und es ist auch so wunderbar, daß ich mich frage, warum ich eigentlich dieses Wasserski-Laufen mit dem Porsche die Jahre gemacht habe, statt so ein bequemes, komfortables Ding anzuschaffen; und irgendwie genieße ich’s ja auch – leise, weich, elegant, Mahagoni und Leder: Aber ich genieße es auch wieder nicht. Ich habe summa cum laude in Hypochondrie promoviert. Vergnügt ist halt nicht meine Lebenstemperatur.
Fritz J. Raddatz: Stolz, weil ich alles in meinem Leben aus eigener Kraft geleistet habe; keine reiche Heirat, kein Erbe, keine Eltern, keine ›Beziehungen‹.
Fritz J. Raddatz: Ich will das Tagebuch von jetzt an anders führen: nur stating facts, kein raisonnement, keine Kommentare (keine Weinerlichkeit). Am besten wäre ein Tagebuch (aber wozu überhaupt ein Tagebuch?), das ausschließlich notiert. Alle möglichen Wirrnisse finde ich nun in 10 Jahre alten Tagebüchern: Ich habe mich nicht geändert, nicht ›gebessert‹, bin nicht klüger, sondern allenfalls wirrer geworden. Die Tagebücher der Jahre 1969–1970 habe ich verbrannt, weil ›zu intim‹ wegen der erotischen Finsternisse.
Fritz J. Raddatz: Kunst wird in Hamburg so begriffen: Eine der fein geföhnten Damen fragt mich: »Und was machen Sie beruflich?« Ich: »Ich bin Schriftsteller.« »Huch, wie interessant. Ach, ist es nicht herrlich, so kreativ zu sein, ich liiiiiiebe kreative Menschen.« Mich interessiert ›mein Publikum‹ nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten.
Fritz J. Raddatz: Kunst stülpt mich ganz tief um, auch deswegen siedelt so früh und so oft Tod in meinen Gedanken, in meinem Gefühl. Ich wiederhole so oft Platens Vers »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen / ist dem Tode schon anheimgegeben…« Eine geradezu panische Schönheits-Sucht. Je älter, faltiger, weißhaariger und häßlicher ich werde, desto unstillbarer das Verlangen nach schönen Blumen um mich, schönen Möbeln, Objekten, Bildern – eine riesige Ersatzhandlung. Ringsum Blumen und Blüten und ich wie die Hummel in der Hortensie mit dem Champagner-Glas in der Hand: und dennoch miesepetrig. Ich bin eine Absurdität. Eben habe ich mehr als 20 Minuten damit verbracht, Bananenblüten in die neue riesige Jugendstil-Vase zu arrangieren. Während ich selber, Dorian-Gray-haft, immer ›künstlicher werde‹ – morgens brauche ich inzwischen eine volle Stunde, wenn nicht mehr, mit allen Magentees, Salben, Augentropfen, Hauttinkuren, Fußpilzgels etc. Kann mir nur einen schrecklichen Dorian-Gray-Spiegel vorhalten: Immer und immer mehr werde ich zu einer grotesken, lächerlichen Figur, einem Mann wie eine Attrappe: vor Blumen, Kerzen und auserlesenem Mobiliar alleine zum Abendessen sitzend bei Mozart oder Hanns-Eisler-Platten, bei Weinen oder Champagner aus ichweißnichtwievielen Gläsern – – – und zugleich ein zurechtgeschminktes Gespenst.
Fritz J. Raddatz: Ich ging in Nizza an die Plage, da, wo der Paillon-Fluß ins Meer strömt und warf meinen schönen Strohhut hinein. Er trudelte fröhlich auf den Wellen, drehte sich wie zu einer Abschiedsmusik und ging dann langsam unter.
Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982–2001, Reinbek bei Hamburg 2010; Tagebücher 2002–2012, Reinbek bei Hamburg 2014