Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Gisela Schlüter meets Niklas Luhmann
Luhmann war wahrscheinlich einer der größten Humoristen seiner Zunft, wenn nicht der Wissenschaft überhaupt. Aber niemand hat das gemerkt, weil sein Witz haarscharf war und nur von denen verstanden werden konnte, die in der Lage waren, sich selbst zu verstehen. Und sein Witz traf auf eine Zunft, die sich nicht vorstellen konnte, über irgendetwas in der Gesellschaft einen Witz zu machen. In diesem Punkt jedoch steht Luhmann in der Tradition der französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhundert, die ihren Rabelais kannten und selbstverständlich davon ausgingen, daß das große Gelächter eine nicht zu unterschätzende erkenntnisstiftende Kraft hat. (Dirk Baecker: Nachruf auf Niklas Luhmann. In: Berliner Zeitung, Nr. 264, 12. November 1998, 11)
Gisela Schlüter: Obwohl ich nur ungern jemand zu Wort kommen lasse, mache ich bei Ihnen eine Ausnahme, lieber, verehrter Herr Professor Luhmann! Wir sind uns zu Lebzeiten nicht über den Weg gelaufen, obzwar unsere Lebensläufe sich doch fast parallel entwickelt haben. Sie sind Jahrgang 1927, ich bin Jahrgang 1914, Sie sind 1998 gestorben, ich 1995. Es wäre also schon möglich gewesen, sich irgendwo in einem Café begegnet zu sein, aber unsere Interessengebiete sind dann doch zu unterschiedlich gewesen. Ich war Schauspielerin und Kabarettistin, Sie sind ganz in dem Fach Soziologie aufgegangen und haben schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit erlangt, die man in diesem Fach nicht unbedingt erwarten würde. Ich habe zwar auch Bücher veröffentlicht, aber ich bin keine Schriftstellerin, sondern eine Sprachstellerin. Sie müssen sich beim Lesen meine Stimme vorstellen, dann haben Sie das literarische Produkt, das mir vorschwebte. Ach, wissen Sie, ich war doch mal beim Arzt, und was glauben Sie, was der mir für eine Diagnose gestellt hat? »Hemmungsverfall im Zungenmuskel«. Na, dem habe ich es aber gegeben, der ist für eine halbe Stunde nicht mehr zu Wort gekommen. Sie glauben gar nicht, wie oft mir ›Redeschwall‹ vorgeworfen wurde, also sowas, Leute gibt’s, die gibt es eigentlich gar nicht. Da fragt mich doch neulich jemand: »Reden Sie eigentlich privat auch so viel?« Ich habe dieser Person dann Bescheid gegeben: »Nein, ich rede gar nicht viel, ich rede nur dauernd, und nun lassen Sie mich mal ausreden!«
Niklas Luhmann: Ich kenne Sie gar nicht. Wer sind Sie?
Gisela Schlüter: Das macht doch gar nichts. Sie müssen mich nicht kennen, aber ich kenne Sie. Seit ich hier auf ewig festsitze, habe ich mein Lesepensum stark erweitert, und da bin ich dann auf Ihre Bücher gestoßen. Es erschlägt einen erst einmal allein schon wegen der Menge, Sie haben ja einen gewaltigen Ausstoß hingelegt, das muß man schon sagen. Mein lieber Scholli, sagenhaft, worüber Sie alles geschrieben haben. Da bleibt kein Auge trocken. Jetzt kommt’s: ich lese Sie nicht wegen dieser unglaublich schwierigen Konstruktionen, dieser vielen Begriffe, mit denen Sie wie ein Artist jonglieren und dem Leser das Leben schwer machen. Nein, das ist wie Schwarzbrot ohne Butter, also ungenießbar. Aber dann habe ich entdeckt, daß Sie immer wieder in Ihre fast unverständlichen Sätze plötzlich etwas Alltagshumor hineinwerfen. Und das ist umwerfend! Ein Brüller nach dem anderen! Fangen wir doch gleich hiermit an: Die Wilden sehen die Welt durch ihre Sinnlichkeit und erfahren sie deshalb als Vielfalt des Verschiedenen. Die Barbaren sind auf Vernunft abonniert. Sie sind diejenigen, die der Einheit der Vernunft einen unbedingten Vorrang geben vor der Vielfalt und Individualität der Erscheinungen. Barbaren sind die, die die Eisen im Feuer haben. Sie pflegen sozusagen eine Monokultur der Vernunft. Es mag politisch suggestiv sein, diese Begriffsdisposition fortzusetzen; aber es empfiehlt sich nicht, weil man heute dann nicht mehr an Robespierre denken würde, sondern an Habermas. Robespierre hatte eine Guillotine zur Hand. Ein Brüller! Ein Brüller! Nur, kurze Zwischenfrage: Wer ist dieser Habermas?
Niklas Luhmann: Ach, der wird hier über kurz oder lang erwartet und wird mich dann auf einen Kaffee einladen und mich zu Tode langweilen mit seiner Diskurstheorie, diesem Ladenhüter, den er sein ganzes Leben lang aufpoliert hat. Man redet, ohne Informationen auszutauschen, ohne Kontroversen zu haben, einfach nur, weil das eine angenehme Art ist, die eigene Ungefährlichkeit und die eigenen guten Absichten expressiv zum Ausdruck zu bringen. Man schwatzt. Der Endzustand des Habermas’schen Universums wäre eigentlich Geschwätz. Mmhh, eigentlich paßt das gut zu einem Kaffeehaus. Na, man wird sehen.
Gisela Schlüter: Geschwätz? Interessant, dann werde ich mir diesen Habermas mal vormerken, ich bin nämlich, müssen Sie wissen, eine Quasselstrippe. Das ist mein Markenzeichen. So kannten mich die Leute, was ich privat war, muß das Publikum nicht interessieren. Doch an Ihnen ist ein Kabarettist verloren gegangen.
Niklas Luhmann: Ja, ich weiß nicht… Guter Geist ist trocken, das ist immer meine Lebensmaxime gewesen.
Gisela Schlüter: Hier! Hier habe ich ein weiteres Beispiel für Ihren trockenen Humor: So wurden in früheren Zeiten für hervorragende Gelehrte an Universitäten Professuren geschaffen, während heute eher umgekehrt für Versager, die man nicht entlassen kann, Stellen geschaffen werden müssen, auf denen sie keinen Schaden anrichten können und wo man Auskühlungszeiten für Versager einzuplanen hat. Professor Luhmann, you have a way of cutting through the baloney that knocks me out cold. Oh, Entschuldigung, nun bin ich doch glatt ins Englische hinübergerutscht. Es ist aber auch zu lustig, daß man unwillkürlich an den trockenen englischen Humor denken muß. Sollen wir mal eine Pause einlegen? Strengt Sie unsere Unterhaltung zu sehr an? Pausen sind wichtig für Zuschauer und Akteure. Der Akteur füllt seine Pausen mit beredter Mimik, der Zuschauer seine mit Sekt und oder warmen Würstchen. Fragt sich jetzt nur, wie ich als Sprachstellerin die Pausen, die dringend zu Ihrer Erholung notwendig sind, ausfülle. Du meine Güte, ich hoffe, ich habe Ihnen jetzt nicht zu viel vorgequatscht!
Niklas Luhmann: Nein, durchaus nicht …
Gisela Schlüter: Dann ist es ja gut, Sie glauben gar nicht, was man mir schon alles nachgesagt hat. Wir haben viel gemeinsam. Meine alte Gesangslehrerin ließ mich einmal die Mozart-Arie ›Bald schon naht sich die Stunde, wo ich dich, oh Geliebter, bald ganz besitzen werde‹ singen. Das tat ich dann und sie sagte zu mir: »Ich kann mir nicht helfen, Fräulein Schlüter, das klingt bei ihnen wie ›Komm Du mir nach Hause!‹« Oder nehmen Sie den Schauspieler und Intendanten Erich Ponto, dem ich sinnigerweise ›Iphigenie‹ vorsprach. Er lachte Tränen und riet mir, mich aufs komische Fach zu verlegen. Sehen Sie, und das hätte ich Ihnen auch geraten, wenn Sie bei mir in die Schauspielschule gegangen wären. Sie sind ein großer Komiker.
Niklas Luhmann: Vielen Dank, aber als man mir vor der Drucklegung meiner soziologischen Abhandlung ›Zweckbegriff und Systemrationalität‹ sagte, daß dem Lektor die witzigen Beispiele am besten gefallen hätten, habe ich ihn erschrocken gefragt: Wo stehen sie? Das muß sofort beseitigt werden!
Gisela Schlüter: Dann war es Ihnen also vollkommen ernst, als Sie in einem Ihrer Bücher den Satz Ohne Thesenanschlag keine Reformation, ohne Preisschildchen kein reibungsloser Verkauf in einer Fußnote folgendermaßen erläuterten: Bei einem Versuch, mit einer Ladeninhaberin längere Verhandlungen über den Preis einer Tafel Schokolade zu führen, habe ich die Erfahrung gemacht, daß sie anstelle von Argumenten immer wieder auf das Preisschildchen verwies, auf dem der Preis deutlich sichtbar aufgeschrieben war.
Niklas Luhmann: Aber natürlich, was ist daran denn komisch? Zum Thema Schokolade könnte ich Ihnen aber ein Geheimnis verraten: Schokolade enthält alle gesundheitsnotwendigen Nahrungs-Komponenten und läßt sich ohne Schwierigkeiten in den täglichen Ablauf des Lesens und Schreibens integrieren. Eigentlich esse ich nur noch Schokolade, man kann dann so gut weiterblättern.
Gisela Schlüter: »Ich will keine Schokolade / Ich will lieber einen Mann!« Kennen Sie diesen Schlager ihrer Jahrgangsgenossin Trude Herr? Oje, ich komme vom Thema ab. Also zurück zu Ihrem Verkaufsgespräch mit der Ladeninhaberin. Sie haben völlig recht, das Selbstverständliche muß verfremdet werden und jede Selbstverständlichkeit ist eigentlich gar keine. Huch, jetzt fange ich ja schon an, wie Sie zu reden. Sie verpacken Ihre Sachen aber auch ganz fein, und erst einmal kommt es ganz dicke: Einerseits muß ein Sinn des Ereignisses identifiziert werden, damit man die Wiederholung als Wiederholung erkennen kann. Andererseits geschieht dies in jeweils anderen Situationen, so daß ein Hinzulerneffekt eintritt: Und dann setzen Sie die überraschende Schlußpointe: Man kann nicht nur im Schlafzimmer, sondern, seitdem es Fernsehen gibt, auch im Wohnzimmer einschlafen.
Niklas Luhmann: Vielleicht habe ich diesen Lapidarstil eingeführt, um nicht nur die Theoriemasse aufzulockern, sondern auch dem Leser vorzuführen, wie Theorie ein wichtiger, ja wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens sein kann. Das Wort Theorie habe ich niemals mit ironischer Brechung verwendet. Theorie kann ein ganzes Leben ausfüllen. In ein Buch gebracht, bedeutet es, daß die Theorieanlage eher einem Labyrinth denn einer Schnellstraße zum frohen Ende gleicht. Ihre Funktion ist es, Vergleiche zu ermöglichen. Vielleicht aus diesem Grund finden Sie in meinen Texten diese amüsanten Vergleiche aus der Lebenswelt.
Gisela Schlüter: Ganz genau, das stimmt. Sie haben es erfaßt. Und es ist auffallend, wie Sie aus dem Miteinander der Menschen gern Beispiele aus dem ehelichen Alltag herausgreifen. Es genügt ein leichtes Verziehen der Miene oder eine Veränderung der Lage von Gegenständen: Man schiebt die nicht ganz gar gekochte Kartoffel an den Rand des Tellers – und die Hausfrau versteht! In nur zwei Sätzen stellen Sie dar, wie man auch ohne Sprache auskommt und dennoch vom Anderen verstanden wird. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt, um mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Kommunikation jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt, leugnen, eine Mitteilung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt er nonverbale Kommunikation. Oder: Man tritt ins Haus ein, dreht den Hausschlüssel um, die Frau ist in der Küche. man möchte natürlich jetzt erst einmal zum Schreibtisch gehen und sehen, was die Post gebracht hat, aber wenn man das tut, weiß man genau, daß Sie darin eine Vernachlässigung sieht, also geht man in die Küche. Sie aber weiß, daß man deswegen in die Küche sieht, weil Sie andernfalls annehmen würde, Sie würde vernachlässigt werden. Und das wiederum führt in die typische Familientherapiesituation einer nicht ausgesprochenen Paradoxie: Ich tue das was Du willst, mit dem Bewusstsein, daß Du siehst, daß ich das deshalb tue. An diesem Beispiel sieht man auch, wie Sie die soziologische Beobachtung als therapeutisches Mittel, ja sogar als Präventionsinstrument zur Rettung einer angeknacksten Ehe einsetzen. Als Kabarettistin habe ich natürlich viele Ehe-Sketche spielen müssen, das gehört quasi zum Pflichtprogramm, weil der eheliche Alltag für die allermeisten Leute das größte Erfahrungsfeld darstellt. Sie lachen, wenn sie sich auf der Bühne wiedererkennen.
Niklas Luhmann: Ich glaube, daß man die moderne Liebe erst vom 17. Jahrhundert aus beurteilen kann, wo es plötzlich Exzeß gibt, völliges Sichhingeben an den anderen, völliges Einverstandensein mit allem, was auch immer er oder sie tut, inklusive unmoralischer Angelegenheiten. Die passionierte, exzessive Liebe ist nur bis zu ihrer Erfüllung geplant und muß nachher ausgekühlt werden. Danach gibt es tausend gute Gründe, nicht zu heiraten, und tausend bessere Gründe, eine bestimmte Person nicht zu heiraten. Aber es gilt mit Napoleon der Satz: On s’engage, puis on voit. Intelligent ist ein Verhalten, das auch in den Trümmern der Bedingungen für Rationalität, auch im Mülleimer noch Ordnung zu finden vermag.
Gisela Schlüter: So machen Sie aus dem Satz von Friedrich Schiller: Drum prüfe, wer sich ewig bindet! ein soziologisches Experiment. Wer sich darauf einläßt, könnte vielleicht sogar etwas von dem Humor mitbekommen, den Sie dezent offerieren und so die Entscheidung über gewisse Lebenssituationen erleichtern helfen.
Niklas Luhmann: Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück.
Gisela Schlüter: Ja, wunderbar! Von solchen Konflikten leben doch das Theater und das Kabarett.
Niklas Luhmann: Man spannt den Regenschirm auf und läßt es abtropfen. Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, daß man durch Regen naß wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen.
Gisela Schlüter: Diese schönen Banalitäten des Alltags, die einem manchmal das Leben zur Hölle machen oder es wenigstens so erscheinen lassen. Hier habe ich noch eine Bemerkung mir aufgeschrieben: In dem Maße, als das Heiraten und im weiteren: das Sicheinlassen auf Intimbeziehungen sozial freigegeben wird, taucht das Scheitern in diesen Beziehungen als Risiko auf, und das Sicheinlassen bzw. Sichlösen muß sozial erleichtert werden. Man hält Blumen für die Hochzeit und Kleenex für die Scheidung bereit, aber letztlich kann jeder in die Lage kommen, sich sagen zu müssen, daß das nicht gut war, was er selber gewollt hatte. Ja, die Dinge des Lebens sind nicht immer leicht in dieser Welt. Das Leben ist ungerecht. Mehr von ihm zu erwarten, wäre naiv.
Niklas Luhmann: Man will Tee zubereiten. Das Wasser kocht noch nicht. Man muß also warten. Die Differenzen Tee/andere Getränke, Kochen/Nichtkochen, Wartenmüssen/Trinkenkönnen strukturieren die Situation, ohne daß es nötig oder auch nur hilfreich wäre, die Einheit der jeweils benutzten Differenz zu thematisieren.
Gisela Schlüter: Gott, wie Sie die größten Banalitäten zu großen Problemen der Soziologie aufblasen können, das muß man Ihnen lassen, das gelingt nicht jedem.
Niklas Luhmann: Ich hatte immer das Bedürfnis, in jedes meiner Bücher mindestens einen Unsinn hineinzubringen. Ich will damit sagen: Nehmt mich bitte nicht zu ernst oder versteht mich bitte nicht zu schnell. Jedoch auch ›Unsinn‹ kann nur im Medium Sinn, nur als Form von Sinn gedacht und kommuniziert werden.
Gisela Schlüter: Wie raffiniert! Das zwingt zum langsamen Lesen und dem skeptischen Beäugen jedes Satzes, ob sich in ihm nicht ein Osterei versteckt, ein kleiner Scherz, den man entziffern muß. Auch ich falle ja in die Kategorie des Unsinns, oder eigentlich des Blödsinns, des höheren Blödsinns, nie war er so wertvoll wie heute. Kalauer, Klamotte und Klamauk sind mein Metier. Sie haben ja auch die humoristische Kommunikation durchweg von oben bis unten bespielt, von der ein gebildetes Publikum voraussetzenden Verballhornung von Klassikerzitaten bis hin zu dem Kalauer, den man dann meist bringt, um sich zugleich von ihm wegen seines flachen Niveaus zu distanzieren. Beispiel: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern!«
Niklas Luhmann: Auch eine familientherapeutische Praxis der ›Verschreibung‹ erfaßt dieses Problem, wenn sie etwa angesichts von unüberwindlichen Schwierigkeiten der ehelichen Verständigung und angesichts allzu großer Rücksichtnahme und Ausweglosigkeit der ›doppelten Kontingenz‹ verordnet: immer freitags, ob man Lust hat oder nicht.
Gisela Schlüter: Immer freitags? Sie sprechen doch von Sex, oder?
Niklas Luhmann: Unsicherheit läßt sich, im Unterschied zu Sicherheit, auf Dauer stellen. Man sieht, daß man nicht sieht, was man nicht sieht, und diese Beobachtung ist für das Bewußtsein viel reizvoller als die platte Ansicht der Dinge. Man denke nur an pornographische Filme, wo man nichts zu sehen bekommt, was man nicht zu sehen bekommt.
Gisela Schlüter: Ich glaube, Sie wollen mich wohl verladen, mmhh?
Niklas Luhmann: Ganz und gar nicht, das entspricht gar nicht meiner Art. Es gibt auch Situationen, wo man meint, das sei erfunden, ist es aber nicht. So gibt es die Möglichkeit des falschen Alarms mit katastrophalen, irreversiblen Folgen. Es wird zwar kaum vorkommen, daß die Bevölkerung der Stadt Hannover nach Ostfriesland evakuiert wird, obwohl die Russen gar nicht einmarschieren. Entsprechende Pläne gab es in den 50er Jahren.
Gisela Schlüter: Die typische Überreaktion, die man nicht nur aus der Politik kennt, sondern auch im privaten Bereich. Da liegt eine Paradoxie verborgen.
Niklas Luhmann: Die Paradoxie ist eine sehr vernachlässigte und unterbewertete Denkkategorie. Wenn man Gäste hat und ihnen Wein einschenkt, wird man nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Gläser seien unerkennbare Dinge an sich und möglicherweise nur als subjektive Synthese vorhanden. Vielmehr gilt: Wenn schon Gäste und wenn schon Wein, dann auch Gläser.
Gisela Schlüter: Man schaltet den Fernseher ein, um abzuschalten. Wir bewegen uns auf einer Ebene. Haben Sie eigentlich mal eine meine Fernsehsendungen gesehen, die ›Zwischenmahlzeit‹ war ja die bekannteste von allen.
Niklas Luhmann: Ich habe nie ein Fernsehgerät besessen.
Gisela Schlüter: Waas? Das gibt’s doch gar nicht. Sie haben ›Die Realität der Massenmedien‹ geschrieben und hatten keinen Fernseher zuhause? Wie haben Sie sich denn da überhaupt ein Urteil bilden können?
Niklas Luhmann: Außer im Hotel, vor allem im Ausland, um in die Sprache, um in den Sprachduktus reinzukommen. Und weil in den Momenten, wo ich Zeit habe, nie irgendetwas kommt, was mich interessiert. Was nachteilig ist, ist, daß es alles sequentiell läuft. Wenn man also irgendwo in eine Sequenz einsteigt und irgendwann wieder abschaltet, während man bei Zeitungen ja sich raussuchen kann: Ich lese jetzt nur die Börsennachrichten, und ich lese Sport auf keinen Fall, aber vielleicht Firmennachrichten aus der Wirtschaft oder ich lese Politiknachrichten, aber nicht das, was in den Parteien vor sich geht. Man kann dann also Schwerpunkte wählen und auch den Zeitpunkt bestimmen, in dem man etwas liest. Das ist eine sehr persönliche Teilnahme an Kommunikation entgegen allem, was man von Massenmedien hört. Man wählt sehr persönlich aus, den Zeitpunkt, den Ausschnitt und so weiter, und das ist nicht vorgegeben durch die Drucktechnik. Aber es ändert nichts daran, daß man, was immer man auswählt, wieder in die Konstruktion einer Welt hineingesogen wird. Bei Unterhaltung im Fernsehen geht es um die Erzeugung und Auflösung von Ungewißheit. Ohne Massenmedien wäre Kultur als Kultur allerdings nicht erkennbar, aber die Massenmedien legen Wert auf Verständlichkeit…
Gisela Schlüter: Womit wir wieder bei mir wären. Ich war hundert Prozent verständlich und die Leute haben sich kaputtgelacht über meine Figur, denn natürlich habe ich nicht mich selbst gespielt, das waren Texte, die jemand anderes, in diesem Fall mein lieber Lebensgefährte Hans Hubberten, geschrieben hat. Als ganz junges Ding, das war ich Mitte Zwanzig, habe ich auch Texte von dem später so berühmt gewordenen Kritiker Friedrich Luft gespielt, in einer Reihe von Kurzfilmen mit dem Titel ›Liese und Miese‹. Das war in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkriegs, da hat das deutsche Propagandaministerium diese Filmchen produzieren lassen, um der deutschen Bevölkerung die Kriegsangst zu nehmen. Ich war die linientreue Liese und meine Kollegin Brigitte Mira spielte die Miese, also das Negativbild, diejenige, die unbekümmert drauflos redete, ›meckerte‹, wie man damals sagte und auch Lebensmittel hamsterte, die Dinge also, die man aus der Sicht des damaligen Regimes als verachtenswert ansah. Aber was glauben Sie! Nach nur zehn Folgen wurde die Herstellung der Kurzfilme, die in allen Kinos des Landes im Vorprogramm gezeigt wurden, eingestellt! Die Zuschauer hatten, das ergaben Befragungen, die Figur der Miesen in ihr Herz geschlossen und waren auf ihrer Seite, nicht auf der Seite der das Regime verteidigenden Liese, die leider ich dargestellt habe.
Niklas Luhmann: In den Anfangsjahren macht man Erfahrungen, die man im späteren Leben manchmal revidieren möchte, aber das geht natürlich nicht. Realität ist nicht konsenspflichtig.
Gisela Schlüter: Sie können aber auch bis an die Grenze des Zynischen gehen, wenn Sie an einer Stelle schreiben: Wer vom Eiffelturm herunterspringt, kann aber den Sturz nicht wirklich genießen, weil er weiß, wie es ausgehen wird.
Niklas Luhmann: Wer das Kommende ohne Zeichen des Entsetzens in Aussicht stellt, wird als Zyniker abgelehnt. Mich interessiert als Soziologe daran, wie man damit eigentlich das Abenteuer, auf das man sich einläßt, vorweg ausschließt, denn in praktisch allen Fällen geht derartiges Handeln in vorhersehbarer Art und Weise aus. Das macht den Selbstmord eigentlich uninteressant. Der Tod ist kein Ziel. Das Bewußtsein kann nicht an ein Ende gelangen, es hört einfach auf. Alles Leben überhaupt steht in jedem Moment vor der Alternative: Aufhören oder Weitermachen.
Gisela Schlüter: Ich habe dazu ein weiteres Zitat aus Ihrem ersten Hauptwerk, ›Soziale Systeme‹ (1984): Der Gag heiligt die Mittel – und auch das kann man noch sagen, wenn einem das Recht zur Ironie bestritten wird. Witz kann solidarisierend wirken, und zwar dadurch, daß er heimliche Verständnisvoraussetzungen, also Bewußtsein in Anspruch nimmt, ohne daraus soziale Strukturen zu bilden. Eben deshalb ist dafür die Form des Einzelereignisses unerläßlich: Ein Witz muß neu sein und unwiederholbar. Er muß überraschen, darf aber nicht belehren. Als Kabarettistin kann ich da nur sagen: So ist es.
Niklas Luhmann: Das freut mich, da kommen wir also überein. Jede Kommunikation setzt sich selbst der Rückfrage, der Bezweifelung, der Annahme oder Ablehnung aus und antizipiert das. Jede Kommunikation! Man schwatzt, und wer beharrlich schweigt, gilt als gefährlich, weil er sich weigert, seine Absichten zu verraten. Wenn man nicht mehr spricht, kann man immer noch schweigen. Wenn man nicht mehr denkt, kann man immer noch dösen. Und ohne diese Sicherheit hätte wohl niemand den Mut, sich einem Wort, einem Satz, einem Gedanken zu überlassen. Aber es gibt kein letztes Wort. Wenn nichts zu sagen ist, muß man eben etwas erfinden. Wenn etwas nicht mehr geht, geht etwas anderes. Es gibt natürlich Möglichkeiten, Leute zum Schweigen zu bringen. Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen, einschließlich Menschen, in der finstersten Innerlichkeit ihres Bewußtseins irgendetwas gemeinsam haben können. Leben ist eine robuste Erfindung. Die Kommunikation ist wie das Leben eine sehr robuste, hochgradig formelastische Erfindung der Evolution. Man kann eine Kommunikation über sich selber nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an! Man hat zu antworten und man darf sich nicht einmal anmerken lassen, mit welcher Vorsicht man auswählt, was man sagt. Wer bereit ist, sich dieser Regel zu fügen, ist bereit zu heiraten.
Gisela Schlüter: Soll das ein Heiratsantrag sein? Wir befinden uns im Elysium, ich bin mir nicht sicher, ob sowas hier überhaupt gestattet wird. Außerdem: Nein danke, mein Herr, ihr Antrag, wenn es denn einer gewesen sein sollte, ist hiermit abgelehnt.
Niklas Luhmann: Es geht letztlich um Mannsbilder und Weibsbilder. Dann wird sich ein empirisch orientierter Soziologe aber noch leicht wundern müssen, daß die Klassifikation in so hohem Maße faktisch zutrifft, das heißt mit biologischen Merkmalen übereinstimmt, so als ob die Gesellschaft doch erst einmal nachsähe, bevor sie jemanden als Mann oder als Frau klassifiziert. Im Schwyzerdütsch werden Frauen, wenn ihr Name im vertrauten Umgang benutzt wird, und das geht, was soziale Beziehungen anlangt, weit über Intimverhältnisse hinaus, grammatisch mit sächlichem Geschlecht bezeichnet: s’Gritli, s’Hildi. Es ist aber nicht bekannt, daß die Schweizer deshalb bei der Zeugung von Nachwuchs besondere Schwierigkeiten gehabt hätten. Sicher, und auch gegen Nachforschungen durch Soziologen gefeit, ist ja, daß nur wirkliche Frauen Kinder gebären können, auch wenn dies irgendeine Art von Intervention voraussetzt.
Gisela Schlüter: Was sind Sie eigentlich für ein Sternzeichen? Es gibt Leute, die können über jedes Thema reden. Die Zwillinge brauchen nicht einmal ein Thema. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich bin selbst einer. Der Zwilling ist sprech- und sprachkundig, witzig, wendig, vorlaut, neugierig und vielseitig bis zur Zersplitterung. Ein Zwilling genießt es, in der Menge zu baden. Das Fernsehen war meine öffentliche Badeanstalt. Sie sind am 8. Dezember geboren! Schütze! Das heißt: Hoppla, jetzt komm’ ich. Der Schütze ist meist neugierig, klatschig. Curd Jürgens war das positive Beispiel eines großzügigen Schützen mit geistigem Niveau, mit Humor und Selbstironie. Das paßt auch auf Sie, lieber Herr Professor Luhmann! Mir fällt jetzt doch auf, daß Sie die Umständlichkeit als stilistisches Mittel einsetzen, so wie mein hochverehrter Kollege Werner Finck mit seinen immer wieder verzögerten Sätzen den Inhalt seiner Aussage ganz langsam, andeutend hervorgebracht hat. Übrigens hat mich Finck, als ich mit ihm gemeinsam einen Sketch aufgeführt hatte, eine »Präzisionsbestie« genannt, weil ich im Gegensatz zu Finck, der gern improvisierte, darauf bestand, meine Stichworte präzise geliefert zu bekommen. Ach ja, lang, lang ist’s her. Wie schade, gern hätte ich mit Ihnen auf einer Kleinkunstbühne einige Sketche vorgetragen, das wäre eine lustige Sache geworden.
Niklas Luhmann: Der springende Punkt dabei ist: Das haben wir gerade eben doch getan, verehrte Frau Kollegin. Wo bleibt der Applaus?