Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Thomas Bernhard meets Arthur Schopenhauer

Die Gesamtausgabe von Schopenhauers Schriften sollte es sein. Es blieb meine beste Heilquelle für Lebenszeit. (Theodor Lessing, Einmal und nie wieder, 1935)

Thomas Bernhard: Was hier in dieser muffigen Atmosphäre! (Blickt sich in einem als mallorquinisches Restaurant dekorierten Lokal um) Als ob ich es geahnt hätte. (Ruft in den Saal hinein) Exzellenz, ich bedaure!

Arthur Schopenhauer: Guten Tag, mein Herr. Mit wem habe ich das Vergnügen?

Thomas Bernhard: Wir fragen uns oft: Sind wir verrückt oder ist es die Welt? Wer existiert, hat sich mit der Existenz abgefunden. So lächerlich kann die Rolle gar nicht sein, die wir spielen, daß wir sie nicht nicht spielen. Redet man mit einem Menschen, stellt sich heraus, er ist ein Idiot. Wir sind schon am Ende und treten auf, als ginge es immer so weiter. Eines jeden Ziel ist das Unglück. Wir haben alle möglichen Ideen, aber es sind größtenteils lächerliche. Können Sie sich vorstellen, daß wir mit meiner Ehefrau über Schopenhauer sprechen? Manchmal glaube ich, ich bin Schopenhauer.

Arthur Schopenhauer: Mit aller Bestimmtheit gesagt: Sie sind es nicht. Ich bin es.

Thomas Bernhard:  Oh, entschuldigen Sie, ich erkenne Sie! Sie sind Arthur Schopenhauer! Wiedergeburtsgedanke. Geisteshomosexualität, denke ich.  (Nimmt eine große Daguerrotypie von Schopenhauer aus seiner Einkaufstasche, entnimmt ihr einen Hammer und einen Nagel, schlägt den Nagel in die Wand und hängt die Abbildung auf). Es ist gleichgültig, wem wir folgen. Wenn wir von unserem Großvater nichts als Schopenhauer erben, können wir uns in jedem Fall glücklich schätzen. Nehmen Sie einen Sherry? Ich nehme gern einen Sherry, vor allem, wenn ich mich auf Mallorca aufhalte.

Arthur Schopenhauer: Sie scheinen verwirrt. Mit wem habe ich das Vergnügen?

Thomas Bernhard: Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Ich bin ein österreichischer Schriftsteller. Mein Name ist Thomas Bernhard. Ich verehre Sie. Schopenhauer war es, immer wieder ein paar Zeilen Schopenhauer. Nietzsche war es nicht, nur Schopenhauer. Nietzsche hat mich immer fasziniert, aber ich habe gleichzeitig von ihm immer nur so viel wie gar nichts verstanden. Tatsächlich haben wir mit der größten Grobheit und Roheit an diese philosophischen Schriften heranzugehen und an ihre Hervorbringer, die wir uns immer als unsere Feinde vorzustellen haben, als unsere furchtbarsten Gegner. Ich muß gegen Schopenhauer auftreten, will ich mich mit ihm auf die redlichste Weise auseinanderzusetzen. Das Philosophische ist immer wie die Luft, die wir einatmen, aber doch, ohne sie längere Zeit festhalten zu können, wieder ausatmen müssen.

Arthur Schopenhauer: Ja, das klingt anständig. Wir brauchen keine Papageien, die gibt es an den deutschen Universitäten schon genug.

Thomas Bernhard: Die Universität ist voller Idioten. Die heutigen Universitätslehrer sind von einer unglaublichen Primitivität, fast ohne Ausnahme Provinz. Wenn ich das schon höre: Universitätsprofessor! wird mir schlecht. Ein solcher Titel ist ja geradezu meistens der Beweis für einen besonders außerordentlichen Dummkopf.

Arthur Schopenhauer: Ich habe 1850 in meiner ›Parerga und Paralipomena‹ ein Kapitel der ›Universitäts-Philosophie‹ gewidmet. Ich habe die Wahrheit gesucht, und nicht eine Professur. Hegel wurde preußischer Staatsphilosoph und seine Kathederphilosophie ist fett geworden und hat ihm und seinen Anhängern Gehalt und Honorar eingebracht. Die Philosophie wurde Staatszweck und er wurde eine Kathederpuppe, der mit Weib und Kind von der Philosophie gelebt hat. Um nun den Mangel an wirklichen Gedanken zu verbergen, machen Manche sich einen imponierenden Apparat von langen, zusammengesetzten Worten, intrikaten Floskeln, unabsehbaren Perioden, neuen und unerhörten Ausdrücken, welches Alles zusammen dann einen möglichst schwierigen und gelehrt klingenden Jargon abgibt. Man sieht nur zu deutlich, welche dürftige, gemeine, platte und rohe Ansichten hinter dem hochtrabenden Bombast stecken. Man liest und liest, ohne je eines Gedanken habhaft zu werden. Phrasen auf Phrasen, das ist der Hegeljargon, wo bloße Worte für Gedanken gelten. Nur mittels der Universitäten ist dieser ganze philosophische Skandal möglich gewesen.

Thomas Bernhard: Der heutige Hegel heißt Heidegger. Heidegger war ein philosophischer Marktschreier, der nur Gestohlenes auf den Markt getragen hat. Heideggers Methode bestand darin, fremde große Gedanken mit der größten Skrupellosigkeit zu eigenen kleinen Gedanken zu machen. Ich brauchte nur eine Zeile von Heidegger zu kennen, um abgestoßen zu sein. Ein Scharlatan, der alles um sich herum immer nur ausgenützt hat. Heidegger, dieser lächerliche nationalsozialistische Pumphosenspießer, ist immer nur komisch gewesen. Ein urdeutscher Philosophiewiederkäuer, eine unablässig trächtige Philosophiekuh, ein philosophischer Heiratsschwindler. Der Denkspießer mit der Schwarzwaldhaube auf dem Kopf.

Arthur Schopenhauer: Sie sind ja ein Geistesverwandter! Dieses Feuer, diese Verve! Ich hätte nie gedacht, daß ich in meinem Nachleben einmal auf einen solchen Menschen stoßen würde.

Thomas Bernhard: Oh, ich sehe, Sie haben auch ihren Pudel ›Atman‹ mitgebracht. 

Arthur Schopenhauer: Viele Tausende von Hunden haben sterben müssen, ehe es an diesen kam, zu leben. Aber der Untergang jener Tausende hat die Idee des Hundes nicht angefochten. Aus seinen Augen leuchtet das unzerstörbare Prinzip in ihm, die Urkraft. 

Thomas Bernhard: Kennen Sie den Proust? Das muß man gelesen haben. Ich habe alles von Proust gelesen. Es gibt eine Stelle, wo er die beiden Prinzipien aus ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ auf zwei Personen verteilt hat. Ich lese Ihnen die Stelle einmal vor: Der Wille in mir, jener beharrliche, unentwegte Diener unserer einander ablösenden Persönlichkeiten; im Dunkel verborgen, verkannt, doch unablässig treu, wirkt unberührt von den Wandlungen unseres Ich unermüdlich daran, daß es diesem nur ja an gar nichts fehle. Während in dem Augenblick, da eine langersehnte Reise Gestalt annehmen soll, Verstand und Gefühl sich zu fragen beginnen, ob das Unternehmen wirklich die Mühe lohnt, läßt der Wille, der weiß, daß diese seine müßigen Herren die Reise sofort wieder ganz wundervoll fänden, wenn sie nicht statthaben könnte, die beiden noch vor dem Bahnhof darüber diskutieren und allerlei Hemmungen haben; er selber beschäftigt sich damit, die Fahrkarten zu besorgen und uns rechtzeitig zur Abfahrt ins Eisenbahnabteil zu setzen. Er ist ebenso unbeugsam, wie Verstand und Gefühl veränderlich sind, aber da er schweigt, teilt er seine Gründe nicht mit, er scheint fast nicht da zu sein; die anderen Teile unseres Ich aber folgen seiner festen Entschlossenheit, doch ohne es zu merken, während sie deutlich vor sich nur ihre Unentschiedenheit sehen.

Arthur Schopenhauer: Das ist aber schön gesagt, und mit einem Gleichnis, diesem habe ich stets jeder begrifflichen Darstellung in meiner Philosophie den Vorzug gegeben. Ich werde mir diesen Proust wohl einmal vornehmen müssen. Der Intellekt ist ein sauer beschäftigter Manufakturarbeiter, den sein vielfordernder Herr (der Wille) vom Morgen bis in die Nacht beschäftigt. Meistens wiegt ein Lot Wille mehr als ein Zentner Einsicht und Überzeugung.

Thomas Bernhard: Die deutsche Philosophie ist eine unendliche Fundgrube für einen denkenden Menschen. Traurig schleppt sich fort das Leben. Das Leben ist eine Posse, die der Intelligente Existenz nennt. Die Menschen sind nur dazu da, sich gegenseitig hineinzulegen. Jeder Tag bringt nichts als Beweise für die Niederträchtigkeit und die Unverschämtheit und für die Unzurechnungsfähigkeit der Menschen.

Arthur Schopenhauer: Die Welt ist ein Karikaturenkabinett, ein Narrenhaus und eine Gaunerherberge.

Thomas Bernhard: Wir hassen die Welt und existieren in ihr. Wir haben immer einen großen Bogen um die Menschen gemacht. Wir wachen auf und sehen nichts als Scheußlichkeit. Kaum werden wir geboren, fliehen wir den Tod. Wenn wir ihre Heuchelei abziehen, bleibt von allen diesen Menschen nichts zurück als ihre Häßlichkeit. Zuerst wollen wir alles sehen, dann auf einmal nichts mehr. Ich wollte immer verblüffen. Die Welt ist kalt und ihre Mittel sind grausam. Wenn wir alles abschaffen, alles zerstören, ist doch alles wieder da. Tatsächlich dienen wir lebenslänglich dem Unsinn, geboren zu sein. Nur weil wir an uns glauben, halten wir es aus. Wir sind von Henry James, nicht von unseren Eltern.

Arthur Schopenhauer: Wie könnte ich Ihnen widersprechen!

Thomas Bernhard: Die Zeitungen halten uns den Spiegel vor, deshalb hassen wir die Zeitungen. Zeitungen haben mich immer fasziniert. Es ist mir kaum erträglich, einen Tag ohne Zeitung zu verbringen. Der Geist bleibt immer auf der Strecke. Ich lese grundsätzlich nur Zeitungen, die mindestens vier Wochen alt sind, sie verursachen keinerlei Erregungszustand. Zeitlebens bin ich gegen die Zeitungen, zeitlebens habe ich sie in mich hineingefressen. Die Wirklichkeit ist so schlimm, daß sie nicht beschrieben werden kann. Was wir in den Zeitungen suchen, ist ja der Abschaum. Zum tagtäglichen Denkgebrauch muß ich keine Zeitung habe, die absolute Primitivität in diesen österreichischen Dreckblättern ist es, die ich jeden Morgen haben muß. Ich versenke mich zugegeben lieber in diesen Dreck als in das abgeschmackte Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen. Da ziehe ich doch gleich nach dem Frühstück Descartes vor anstatt die Frankfurter Allgemeine.

Arthur Schopenhauer: Wissen Sie, ich habe ja immer die Londoner ›Times‹ gelesen, nicht die von diesem australischen Verbrecher geführte und finanzierte ›Times‹, die ›Times‹ des 19. Jahrhunderts — aber nun bin ich doch einmal fremdgegangen und habe mir die ›Frankfurter Allgemeine‹ zu Gemüte geführt. Und was lese ich da in einem Leitartikel vom 6. April 2024? ›Die Kultur des Todes‹. Aha, habe ich mir gesagt, hochinteressant, das wird wohl ein katholischer Besinnungsaufsatz nach Ostern sein. Weit gefehlt! Dieser katholisch eingestellte Schmierant konstatiert doch tatsächlich, es sei ein »trauriges Ritual«, wenn Jahr für Jahr die italienische Statistikbehörde ihren Jahresbericht zur »Bevölkerungsentwicklung« veröffentlicht. Er lamentiert dann über einen neuen »Negativrekord«. Die italienischen Frauen haben wieder weniger Kinder geboren. Das ist doch ein Grund zur Freude, da sollten doch die Gläser klingen! Ich habe wieder Vertrauen in die Menschheit gewonnen, wenn ich so etwas höre. Die Frauen stemmen sich gegen den unbarmherzigen Gattungswillen. Es kommt aber noch schlimmer, dieser Leitartikler der ›Frankfurter Allgemeinen‹ zitiert den derzeitigen Papst, der »regelmäßig den ›demographischen Winter‹ in Italien« beklagt. Ein alter Mann in Frauenkleidern beklagt die niedrige Geburtenrate und nennt das Winter! Man stelle sich das förmlich vor! Das ist doch der Gipfel der katholischen Heuchelei! Selbst trägt er nichts bei gegen den »demographischen Winter«, weil er ein verlogener katholischer Geistlicher ist, aber seinen Landsleuten gegenüber glaubt er berechtigt zu sein, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen und sie zur Produktion von Kindern anzufeuern. Eine »patriotische Aufgabe« sei die Erzeugung von Kindern! Das deutsche Vaterland hat an mir keinen Patrioten erzogen. Und dann zitiert dieser katholische Leitartikler Papst Johannes Paul II., der 1995 eine »Kultur des Todes« beklagt habe. Natürlich auch wieder im Zusammenhang mit der Kinderproduktion! Und dieser Frankfurter Leitartikler konfirmiert diese Floskel von der ›Kultur des Todes‹ dann und schwafelt vom Zurückschwingen des Pendels zu einer ›Kultur des Todes‹. Kultur! Wenn ich das schon höre. Jeder dahergelaufene intellektuelle Strichjunge quatscht Ihnen die Ohren voll mit ›Kultur‹. Neulich habe ich sogar von einer »Gewaltkultur« gelesen. Bald wird es eine ›KZ-Kultur‹ geben, und damit ist dann nicht die durch den Zwang der Schergen in den NS-Konzentrationslagern aufgeführte Musik der Inhaftierten gemeint, sondern das Lager selbst. ›Gewaltkultur‹! ›Kultur des Todes‹! Und im gleichen Schweineblatt wird auf einer ganzen Seite geraunt und geklagt, daß in Rußland der Machthaber die russischen Frauen dazu bringen will, mehr Kinder zu gebären, was natürlich verwerflich ist.

Thomas Bernhard: Das ist ja zum Totlachen! Aber ganz konsequent, wenn man das Katholische bedenkt. Die größten katholischen Arschlöcher sind die österreichischen Arschlöcher. ›Zeitungskultur‹ ist gerade das Widerliche. Aber nein, dennoch kann ich nicht ganz auf diese Dreckblätter verzichten, der Abschaum ist das Sensationelle, und dieses gemeine Sensationelle ist lebensnotwendig. Sie ersparen sich Unsummen für Tabletten, wenn Sie sich schon in der Frühe gleich dem totalen Stumpfsinn der Wiener ›Kronenzeitung‹ und des ›Kurier‹ ausliefern. Das bringt den Blutkreislauf schon in der Frühe in Raserei. Es gibt keine niedrigeren und gemeineren und abstoßenderen Zeitungen auf der Welt als die österreichischen. Sie werden keinen geistvollen Satz in irgendeinem dieser Scheißblätter finden.

Arthur Schopenhauer: Goethe sagte mir einmal, daß wenn er ein Buch von Kant aufschlage, ihm sei, als trete er in ein helles Zimmer.

Thomas Bernhard: Goethe, den sich die Deutschen zum Dichterfürsten zugeschnitten haben, den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser für alle Fälle und alle Zwecke. Einzig und allein Schopenhauer, Sie! — hat mir geholfen, weil ich ihn ganz einfach für meinen Überlebenszweck mißbraucht habe, indem ich ihn ganz einfach zu einem Überlebensmedikament gemacht habe. Es ist nicht notwendig, den ganzen Schopenhauer zu lesen. Wer alles liest, hat nichts begriffen. Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster Intensität zu lesen. Selbst eine philosophische Abhandlung verstehen wir besser, wenn wir sie nicht zur Gänze auffressen, sondern uns nur ein Detail herauspicken. Lesen Sie Kant eindringlich und immer noch eindringlicher und Sie werden plötzlich einen Lachkrampf bekommen.

Arthur Schopenhauer: Goethe sagte mir einmal, daß wenn er ein Buch von Kant aufschlage, ihm sei, als trete er in ein helles Zimmer.

Thomas Bernhard: Wir verlassen uns lebenslänglich auf die großen Geister und sind dann tödlich enttäuscht von ihnen, wenn sie ihren Zweck nicht erfüllen im entscheidenden Augenblick. Sie ersetzen keinen Menschen. Schließlich hatte ich das Wichtigste für den Kopf zusammengestellt. Ich hatte mir eine leicht bewegliche Bibliothek angeschafft mit den wichtigsten Werken des bösen Geistes, und das Zentrum war naturgemäß kein anderer als Schopenhauer gewesen.

Arthur Schopenhauer: Die Menschen sind Puppen, die nicht von äußern Fäden gezogen, sondern von einem innern Uhrwerk getrieben werden: daher dem Zuschauer von Außen ihre Bewegungen unerklärlich sind. Diese endlos sich erneuernde Menschenwelt, die in jedem Augenblick sich rührt, treibt, quält, drängt, zappelt, ja die ganze tragikomische Weltgeschichte aufführt. Dieses Uhrwerk ist der Wille zum Leben: ein unermüdlicher und unvernünftiger Trieb. Die äußern Gegenstände, als Motive, bestimmen bloß die Richtung der Bewegung dieser Puppen.

Thomas Bernhard: Die meisten Menschen sind aber zum Karikieren unfähig, sie betrachten alles bis ans Ende mit ihrem fürchterlichen Ernst. Sie haben die ganze Welt auf einmal zur Karikatur gemacht. Nur was wir am Ende lächerlich finden, beherrschen wir auch, nur wenn wir die Welt und das Leben auf ihr lächerlich finden, kommen wir weiter, es gibt keine andere, keine bessere Methode. Sie können sich umschauen, wo Sie wollen, im Vatikan ist alles lächerlich. Der katholische Papst sitzt als geschminkte, gefinkelte Weltreisepuppe unter seiner kugelsicheren Glasglocke, umgegeben von seinen geschminkten und gefinkelten Ober- und Unterpuppen. Das Fürchterliche ist ja immer auch das Lächerliche.

Arthur Schopenhauer: Ich muß mir dringend Ihre Theaterstücke besorgen, das wird ja eine wahre Freude sein, sie zu lesen.

Thomas Bernhard: Ich bin ein philosophischer Aasgeier. Die Philosophie ist die mathematische Lösung des Lebens, sie bietet den Ausweg aus der Welt. ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ war schon von frühester Jugend an das wichtigste aller philosophischen Bücher, es war geistesentscheidend, eines der ersten Bücher, die ich heimlich gelesen und studiert habe, und ich habe mich auf seine Wirkung, nämlich die vollkommene Erfrischung meines Kopfes, immer verlassen können. In keinem anderen Buch habe ich jemals eine klarere Sprache und einen ebenso klaren Verstand gefunden, kein Literaturstück hat jemals auch noch eine tiefere Wirkung ausgeübt. Mein Verständnis der Natur ist eine Variation des Willensbegriffs bei Schopenhauer. Alle uns durch unsere Sinne zugänglichen Erfahrungen gehören zur Natur, sind Wille, und wir sind der Natur restlos ausgeliefert. Wir können tun, was wir wollen, die Natur beherrscht uns. Sie ist eine blindwütige Kraft, die naturgemäß mit Krankheit, Vernichtung und Tod einhergeht. Daher brauchen wir auch keinen Gott, der von außerhalb ins Geschehen eingreift. Ich hasse die Natur, ich habe die Natur immer gehaßt. Das Leben ist eine Tortur, wer das nicht begreift, hat nichts begriffen. Die Natur ist mir unheimlich und ich habe ihre Bösartigkeit und ihre Unerbittlichkeit am eigenen Körper und in der eigenen Seele kennengelernt. Da ich ihre Schönheiten immer nur gleichzeitig mit ihrer Bösartigkeit und mit ihrer Unerbittlichkeit betrachten kann, fürchte ich sie und meide sie, wo ich nur kann. Leiden ist Existenzbeweis, die Natur läßt den einzelnen in seinem Unglück allein.

Arthur Schopenhauer: Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der Metzger schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt. Denn wir wissen nicht, in unsern guten Tagen, welches Unheil eben jetzt das Schicksal uns bereitet – Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung, Wahnsinn, Tod. Die Welt ist die Hölle, und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin.

Thomas Bernhard: Wenn es eine Hölle gibt, und natürlich gibt es die Hölle, dann ist meine Kindheit die Hölle gewesen. Was es mich gekostet hat, aus dieser Hölle herauszukommen! Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.

Arthur Schopenhauer: Ich wäre gern 90 Jahre alt geworden. Selbst bei den Achtzigern hat der Tod noch etwas Gewaltsames. Bei den Neunzigern gehen Leben und Tod ruhig ineinander über. Was wir im Tode fürchten, ist nicht das Ende des Lebens. Denn Jeder fühlt, daß das Leben weder der Mühe, noch des Regrettirens wert ist, vielmehr ist es die Zerstörung des Leibes, welcher eben nur verkörperter Wille zum Leben ist. Und doch hat die Natur dafür gesorgt, daß diese Zerstörung in der Regel nicht schmerzlich ist. La mort, mon cher, n’est autre chose, qu’un changement de décoration.

Thomas Bernhard: Der denkende Mensch ist von Natur aus ein unglücklicher Mensch. Das Leben ist Vorbereitung auf den Tod. Daher ist es ein Verbrechen, Kinder in die Welt zu setzen, die dann die unglücklichsten sind, die sich denken lassen. Im übrigen ist es ein Irrtum, wenn die Leute glauben, sie bringen Kinder zur Welt. Die kriegen ja Erwachsene, keine Kinder. Die gebären einen schwitzenden, scheußlichen, Bauch tragenden Gastwirt oder Massenmörder, den tragen sie aus, keine Kinder. Da sagen die Leute, sie kriegen ein Bauxerl, aber in Wirklichkeit kriegen sie einen achtzigjährigen Menschen, dem das Wasser überall herausrinnt, der stinkt und blind ist und hinkt und sich vor Gicht nicht mehr rühren kann, den bringen sie zur Welt. Die Natur hat schon immer aus den Eltern Narren gemacht. Wir schonen die Eltern, anstatt sie anzuklagen lebenslänglich des Verbrechens der Menschenerzeugung. Ich hasse die Menschen, aber sie sind gleichzeitig mein einziger Lebenszweck. Auch wenn man, von sich ausgehend, überall nichts als Häßlichkeit und Gestank entdeckt, stellt doch jede Minute einen Zuwachs an Erfahrung dar. Wenn Sie nur lieben, sind Sie verloren, wenn Sie nur hassen, sind Sie genauso verloren. Wenn Sie gern leben, wie ich, dann müssen Sie halt in einer ständigen Haßliebe zu allen Dingen leben.

Arthur Schopenhauer: Ich stimme Ihnen zu. Sehen und Erfahren ist so nötig als Lesen und Lernen. Der Zuwachs an Erfahrung und Menschenkenntnis ist entscheidend. Die Philosophie ist ganz und gar auf Beobachtung und Erfahrung gegründet. Die Natur, die Welt soll der Philosoph ansehen, nur nebenbei die Bücher. Wie wir in das Leben hineingelockt werden durch den ganz illusorischen Trieb zur Wollust; so werden wir darin festgehalten durch die gewiß eben so illusorische Furcht vor dem Tode. Mit der Vernunft kann man die Todesfurcht überwinden, das Individuum erhebt sich über die Objektivationen des Willens. Wem es aber gelingt, den Willen absolut zu verneinen, der hat das Nichts. Von uns bleibt allerdings nur das Nichts. Jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit. Der Wille ist verschwunden. Das Nichts ist nicht durch Selbstmord zu erreichen, denn dieser ist nicht in der Verneinung des Willens gegründet, sondern auf einer Bejahung. Nirwana ist das Nichts. Was aus dem Nichts hervorgehen konnte, kann auch ins Nichts zurückgehen. Dieses Nichts aber so ganz eigentlich kennen zu lernen, wäre sehr interessant.

Thomas Bernhard: Ich schreibe mir den Selbstmord vom Leib. Weder die Literatur noch die Musik oder gar die Menschen befreien uns, sind zwar Ablenkungsmittel, aber nur für kurze Zeit. Sich umzubringen, das hat genausowenig Sinn wie weiterzuleben. Als Kind wollte ich mich aufhängen, aber der Strick ist gerissen. Mich hält nur die Neugier am Leben. Für mich wäre es interessant, wenn ich mich umbringen würde und mich nachher beobachten könnte. Daß das nicht geht, ist meine größte Enttäuschung.

Arthur Schopenhauer: Die Schrecken des Todes beruhen großenteils auf dem falschen Schein, daß jetzt das Ich verschwinde, und die Welt bleibe. Vielmehr ist das Gegenteil wahr: die Welt verschwindet; hingegen der innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt ihr Dasein hatte, beharrt. Mit dem Gehirn geht der Intellekt und mit diesem die objektive Welt, seine bloße Vorstellung, unter. Daß in andern Gehirnen, nach wie vor, eine ähnliche Welt lebt und schwebt, ist in Beziehung auf den untergehenden Intellekt gleichgültig. Über dies Alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu sein: wohl dem, der sie benutzt.

Thomas Bernhard: Daß ich Österreicher bin ist mein größtes Unglück. Wir sind in die Wiener Falle gegangen. Wir sind in die Österreichfalle gegangen. In diesem fürchterlichsten aller Staaten haben Sie ja nur die Wahl zwischen schwarzen und roten Schweinen. Das einzige, das die Menschheit wirklich fürchtet, ist der menschliche Geist. Ein Geistesmensch wird nie verstanden.

Arthur Schopenhauer: Die Geschlechtsbegierde ist nicht nur der stärkste, notwendigste und unausbleibliche Drang. Sie ist der Wunsch, welcher selbst das Wesen des Menschen ausmacht. Sie ist so sehr die Hauptsache, daß für die Entbehrung ihrer Befriedigung keine andern Genüsse entschädigen. Ein gar naiver Ausdruck dieser natürlichen Sinnesart ist die bekannte Überschrift der mit dem Phallus verzierten Tür des Bordells zu Pompeji: Heic habitat felicitas, ›Hier wohnt das Glück‹. Diese war für den Hineingehenden naiv, für den Herauskommenden ironisch, und an sich selbst humoristisch. Das aber ist das Pikante und der Spaß der Welt, daß die Hauptangelegenheit aller Menschen heimlich betrieben und ostensibel ignoriert wird. Der Coitus verkriecht sich wie ein Verbrecher, die Schwangerschaft geht frank und frei, ja stolz einher. Homo est coitus aliquamdiu permanens vestigium. (Der Mensch ist die eine Zeitlang verbleibende Spur des Beischlafs). Die Genitalien sind der Brennpunkt des Willens, der Mensch ist konkreter Geschlechtstrieb. Die Genitalien sind eigentlich die wahre Person. Sie kennen als Leser meines Hauptwerkes, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹, gewiß das 44. Kapitel, die ›Metaphysik der Geschlechtsliebe‹, in dem ich alles dazu Notwendige gesagt habe. Das innere Wesen der Welt ist die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, das Ziel und Zweck alles Daseins. Es handelt sich bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe findet. Im Zusammentreffen ihrer sehnsüchtigen Blicke entzündet sich neues Leben. Das Individuum handelt hier, ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung. Übrigens erwartete ich, daß die Paarung des Löwen, als die höchste Bejahung des Willens in seiner heftigsten Erscheinung, von sehr vehementen Symptomen begleitet sein würde; und war überrascht, solche weit unter denen zu finden, welche die menschliche Paarung zu begleiten pflegen.

Thomas Bernhard: Das Sexuelle hat mich nie interessiert. Es war ja auch gar nicht möglich, schon durch die Krankheit, die ich mit siebzehn Jahren mir zugezogen habe, einer Pleuritis exsudativa, zwanzig Jahre später dann erkrankte ich an einer akuten Sarkoidose mit bihilärer Adenopathie, 1989 bin ich drei Tage nach meinem 58. Geburtstag an einer Herzinsuffizienz gestorben, wahrscheinlich war die der Herzinsuffizienz zugrundeliegende dilative Cardiomyopathie die Folge einer Herzbeteiligung bei Sarkoidose. Sex war nicht möglich, weil ich ja in der Periode, wo alles ganz natürlich gewesen wäre und hätte anfangen müssen, ich gar nicht in der Lage war, das zu machen.

Arthur Schopenhauer: Genießen und Haben kann Einer nur sehr wenig; Sehen kann er die ganze Welt.

Thomas Bernhard: Ich schreibe für Schauspieler und eigentlich nur für Schauspieler. Man darf bei meinen Texten nie genau wissen: Soll man jetzt hellauf lachen oder doch nicht?

Arthur Schopenhauer: Das Leben eines jeden Menschen ist, wenn man es im Ganzen übersieht, ein Trauerspiel. Im einzelnen betrachtet aber ein Lustspiel. Salud, Señor Bernhard!