Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Hans Kelsen meets Henry Kissinger

Yeah, come on all of you, big strong men,
Uncle Sam needs your help again.
He’s got himself in a terrible jam
Way down yonder in Vietnam.
So put down your books and pick up a gun,
We’re gonna have a whole lotta fun.
[…]
Well, come on Wall Street, don’t move slow,
Why man, this is war.
There’s plenty good money to be made
By supplying the Army with the tools of the trade,
Just hope and pray that if they drop the bomb,
They drop it on the Viet Cong.

(Country Joe and the Fish: I-Feel-Like-I’m-Fixin‘-to-Die Rag, 1967)

Hans Kelsen: What took you so long? Jetzt erst, nach dem hundertsten Geburtstag bemühen Sie sich hierher, ins Elysium?! Der Autor der ›Gespräche im Elysium‹, Bernard de Fontenelle ist einen Monat vor seinem Hundertsten gestorben, angeblich, weil er die Anstrengungen einer Feier zum 100. Geburtstag gescheut hat. Sie aber haben sogar noch ein halbes Jahr drangehängt. In Amerika nennt man solche Personen »a tough cookie«, und das haben Sie im Verlaufe Ihres langen Lebens dann ja auch unter Beweis gestellt.

Henry Kissinger: Well, thank you very much. Do I know you? Have we met?

Hans Kelsen: Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Mein Name ist Hans Kelsen, ich bin Rechtswissenschaftler, ich bin 1881 in Prag geboren worden und 1973 in Kalifornien gestorben. Mein bekanntestes Werk ist die ›Reine Rechtslehre‹. Aber mein umfänglichstes Werk sind die Schriften über das Völkerrecht. Das begann schon 1920 mit meinem Buch ›Problem der Souveränität‹, in dem zwei Drittel sich damit beschäftigen. 1944 habe ich die programmatische Schrift ›Peace through Law‹ vorgelegt, und 1952 ist eine über 900 Seiten lange Schrift zur UN-Charta erschienen. Ob es sich beim Völkerrecht um eine tatsächliche Rechtsordnung handelt, habe ich in meiner sicher bekanntesten Schrift, in der ›Reinen Rechtslehre‹, noch ausdrücklich bejaht: »Das Völkerrecht weist den nämlichen Charakter auf wie das einzelstaatliche Recht. Es ist wie dieses eine Zwangsordnung.« Aber schon in der 2. Auflage habe ich einschränkend dazu hervorgehoben, daß das Völkerrecht »noch eine primitive Rechtsordnung« sei, da es bisher keine institutionelle Absicherung in Gestalt von Rechtsnormen vollziehenden Organen gibt. So beherrscht das Gewohnheitsrecht den rechtlich-politischen Raum, was den einzelnen Staaten die Möglichkeit gibt, Kriege als Sanktionen des Völkerrechts einzusetzen. Nun ja, ich schweife ab. Nun aber zu Ihnen. Dann lassen Sie uns mal sehen, was Ihre Todesanzeigen uns zu berichten haben: »Ein großer Außenpolitiker, der mit seinem diplomatischen Geschick dazu beigetragen hat, die Globalisierung der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert voranzutreiben.« Deutsche Bank. Ja, natürlich, die denken immer zuerst ans Geld. »Ein Jahrhundert-Diplomat. Ein großer Transatlantiker, herausragender Staatsmann und geopolitischer Denker.« Atlantik-Brücke e. V., ein 1952 gegründeter Verein, der eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland schlagen soll. »Dr. Kissinger gab seine Unterstützung, seine Intelligenz, seine Weisheit und seinen unfehlbaren Humor großzügig an unsere junge Einrichtung weiter.« American Academy, Berlin. Keine schlechte Presse, was? 

Henry Kissinger: Well, wir beide haben es geschafft. 

Hans Kelsen: Sie meinen wohl, Sie haben es erreicht, daß man Sie nicht vor einem internationalen Tribunal als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt hat? 

Henry Kissinger: Oh, please, don’t get me started.

Hans Kelsen: Was mir bei der anstrengenden Lektüre Ihrer Lebenserinnerungen, immerhin auf dreitausendfünfhundert Seiten  ausgebreitet, in drei Bänden — ›The White House Years‹ (1979), den Years of Upheaval‹ (1982) und den ›Years of Renewal‹ (1999) — aufgefallen ist, das ist Ihr fast unglaubliches Gedächtnis für die tausend spezifischen Einzelheiten, die  Sie dem Leser präsentieren. Sie müssen nach jedem Meeting mit den verschiedenen Staatsmännern Tagebuch geführt haben, anders kann ich mir diese Fülle an Details nicht erklären, die Sie dem Leser bieten. Es sind fast Regieanweisungen für einen Film mit atmosphärischen Hinweisen und wiedergegebenen Dialogen. Man könnte einen mehrstündigen Film daraus machen mit dem immer gleichen Szenario: Flug über den Wolken, Gespräche mit den Sie begleitenden Journalisten, Ankunft auf dem Airport, Empfang durch das einladende Land, Zusammentreffen mit den jeweiligen Staatsoberhäuptern, Resümee der Unterhandlungen, Bemerkungen zu den Personen, die Sie begleitet haben. Es hat mich an die Memoiren von Bernhard von Bülow erinnert, der ein fotografisches Gedächtnis gehabt hat und seine aufgetischten Geschichten, zudem in einer gut lesbaren Form, untermischt mit vielen aufschlußreichen amüsanten und boshaften Anekdoten, dargestellt hat. Und Sie haben ja bis zu Ihrem 99. Geburtstag immer weitergeschrieben, zuletzt ist 2022 ›Leadership. Six Studies in World Strategy‹ erschienen. Es kommt mir fast so vor, als wollten Sie mit dieser exzessiven Form der Dokumentation aller ihrer Einzelschritte vor sich selbst beweisen, daß Sie alles richtig gemacht haben und man spürt den legitimatorischen Zwang, vor ›der Geschichte‹ gut dazustehen. Irgendwann überfällt einen sogar der Gedanke, daß Sie ihre Leser totreden wollen, indem Sie jede Kleinigkeit auswalzen. Es sind weniger persönliche Erinnerungen an Ihre Zeit als Berater und Außenminister, sondern es ist weit eher eine ausladende Rechtfertigungsschrift.

Henry Kissinger: Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Nehmen Sie Chile. Hier geschah es zum ersten und bis dahin einzigen Mal in der modernen Geschichte, daß ein demokratisches Verfahren fast zur Machtübernahme von Kommunisten geführt hätte. Allende wollte innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Art von kommunistischer Regierung etablieren. Uns besorgte der Umstand, daß Allende die Vereinigten Staaten aus ideologischen Gründen unversöhnlich haßte und entschlossen war, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Der Umstand, daß Allende später zum Märtyrer geworden ist, hat seine politischen Ziele verschleiert. Allendes Wahl zum Präsidenten sollte die letzte nach demokratischen Regeln abgehaltene Wahl sein. Allende war ein erklärter Feind der Demokratie, wie wir sie kennen. Allende war eine geopolitische Herausforderung. Dieser Putsch war eine innerchilenische Angelegenheit. Allende wurde von den Kräften in Chile gestürzt, die er selbst entfesselt hatte, weil er sie nicht im Zaum halten konnte. 

Hans Kelsen: Noch vor der Wahl Allendes in Chile haben Sie in einem Telegramm an den Leiter des CIA-Büros in Santiago diesen angewiesen: »Schaffen Sie zumindest ein für einen Putsch günstiges Klima, leisten Sie einer militärischen Aktion Vorschub.« Nach dem Staatsstreich am 11. September 1973 bestätigte der Direktor der CIA, William Colby: »U.S. policy has been to maintain maximum covert pressure to prevent the Allende regime’s consolidation.« CIA activities included »financial support totaling $6,476,166 for Chilean political parties, media, and private sector organizations opposed to the Allende regime.« Colby bestritt, daß die CIA eine direkte Rolle dabei gespielt hätte, die zur Etablierung eines neuen militärischen Regimes führte, aber die US-Regierung war daran beteiligt, den Oppositionsparteien und den Medien das Überleben zu sichern. Colby vermied die Diskussion, in welcher Weise es eine US-amerikanische Kooperation mit dem chilenischen Militär gegeben hatte. Mit autoritären Regimen sind Sie immer gut zurechtgekommen: Mit Portugals Marcelo Caetano, Spaniens Francisco Franco, Chiles Augusto Pinochet, mit den Mitgliedern der Junta Griechenlands und Argentiniens. Demokratisch gewählte politische Führer haben Sie dagegen mißtrauisch beäugt, wie im Fall von Portugals Mario Soares, den Sie einen »portugiesischen Kerensky« genannt haben, womit impliziert war, daß Sie den russischen Ministerpräsidenten für die Machtergreifung der Bolschewiki unmittelbar verantwortlich machten. Oder Salvador Allende, der für Sie eigentlich keine Person, sondern ein Symbol war und ein propagandistisches Schreckbild des Kommunismus. Hingegen haben Sie von Anwar as-Sadat ein von großer Sympathie getragenes Porträt gezeichnet.

Henry Kissinger: Ich hatte die Ehre, die ersten Schritte auf seinem Weg zum Frieden an der Seite von Anwar as-Sadat zu tun. Die Eigenschaften, die den bedeutenden politischen Führer vom mittelmäßigen unterscheiden, sind nicht die Fähigkeiten seines Intellekts, sondern sein Weitblick und sein Mut. Sadat hatte die Geduld und Heiterkeit der ägyptischen Massen, aus denen er stammte. Ich habe ihn einmal in dem schlichten Haus im Dorf Mit Abul-Kom im Nil-Delta besucht, wo er geboren wurde. Sadats Leidenschaft für den Frieden wurde im Lauf der Zeit immer intensiver und profunder. Er war kein Pazifist. Er glaubte nicht an den Frieden um jeden Preis. Richard Nixons größter Wunsch ist es gewesen, als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen. 

Hans Kelsen: Da bringen Sie uns gleich zu meinem Lebensthema. Denn auch für mich war Frieden der Kern aller meiner rechtswissenschaftlichen Schriften. Die Freiheit ist die Ideologie der Demokratie, aber der Friede ist ihre Realität. Ich habe immer wieder für die Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit gekämpft. ›Peace through Law‹, in dieser Schrift wird mein Gedanke zusammengefaßt. Nun, Sie als politischer Berater haben den anderen Weg gewählt und mit der vorsätzlich in Kauf genommenen Tötung von Hunderttausenden von Zivilpersonen in Indochina, durch das Bombardement der neutralen Staaten Kambodscha und Laos, sich schuldig gemacht. Manche nennen das »Kollateralschäden«, andere »Kriegsverbrechen«. Wie auch immer: Sie haben durch diese Maßnahmen Opfer von Menschenleben in einer Größenordnung hingenommen, die durch kein Völkerrecht gedeckt ist. In einem mitgeschnittenen Telefonat mit dem Präsidenten, sagte dieser, man sollte eine Möglichkeit finden, das Völkerrecht zu brechen. »Die Vereinigten Staaten sind eine große Nation geworden, indem sie das Völkerrecht gebrochen haben.« Sie haben Nixon geraten, den Feind so massiv zu bombardieren, daß er um Frieden bitten würde. Bereits vier Wochen nach der Amtseinführung Nixons, am 24. Februar 1969, haben Sie mit der Planung der geheimen ›Operation Menu‹ begonnen. Sie haben massive, anhaltende und beispiellose Angriffe durch B-52-Bomber auf nordvietnamesische Stellungen in Kambodscha vorgeschlagen. Der Codename für die Bombardierung Kambodschas lautete ›Menu‹, die einzelnen Bestandteile hießen ›Breakfast‹ und ›Lunch‹. Hinter dieser Operation verbarg sich die Bombardierung Kambodschas mit B-52-Bombern. Später haben Sie eingeräumt, daß diese Auswahl der Namen »geschmacklos« war. Drei Jahrzehnte blieb das ganze Ausmaß der Zerstörungen, die die USA in Kambodscha anrichteten, im Verborgenen, da die Militärakten bewußt gefälscht worden waren. Die Bombardierung war ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Zwischen März 1969 und August 1973 warf die USA 2.756.727 Tonnen Bomben über Kambodscha ab. Das überstieg die Tonnage sämtlicher Bomben, die die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs abwarfen. Der US-amerikanische Historiker Greg Grandin nennt Sie einen machtbewußten und machtbesessenen, zu Wutausbrüchen, Eifersuchtsanfällen und Depressionen neigenden Mann. Tim Weiner charakterisiert Sie nach Gesprächen, die er mit Ihren ehemaligen Mitarbeitern geführt hat, als »hochfahrend und unbeherrscht«.

Henry Kissinger: Ich habe festgestellt, wenn die persönliche Beleidigung ein gewisses Maß erreicht hat, wird man unverwundbar.

Hans Kelsen: Der Historiker Grandin geht so weit, zu behaupten, daß bis zum Ende Ihrer Amtszeit es keine Verschwörung, keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg, kein Attentat, keinen Folterbefehl und keinen politischen Mord gegeben hat, bei dem Sie nicht wenigstens indirekt die Verantwortung getragen haben.

Henry Kissinger: In weniger als einem Jahrzehnt ist ein nie da gewesenes Konzept entstanden, das darin besteht, die internationale Politik juristischen Verfahrensweisen zu unterziehen. Die Gefahr besteht darin, daß dieses Konzept zu weit getrieben wird und daß an die Stelle der Tyrannei von Regierungen die von Richtern tritt. In der Geschichte hat die Diktatur der Rechtschaffenen oft zu Inquisition und Hexenjagden geführt. Der Präzedenzfall wurde geschaffen, als vom Oktober 1998 an der ehemalige chilenische Präsident Augusto Pinochet aufgrund des Auslieferungsbegehrens eines spanischen Richters sechzehneinhalb Monate lang in Großbritannien inhaftiert war. Für die Fürsprecher einer universalen Rechtsprechung ist diese Haft ein Markstein, der ein universales Prinzip etablierte. Doch sollte jedes universale System eine Prozeßordnung beinhalten, die nicht nur dazu dient, die Ruchlosen zu bestrafen, sondern auch die Rechtschaffenen in Schranken halten. Diese darf nicht zulassen, daß rechtliche Grundsätze als Waffen benutzt werden, um politische Rechnungen zu begleichen. 

Hans Kelsen: Sie haben Herrn Pinochet damals geschrieben: »We are sympathetic with what you are trying to do here. I think that the previous government was headed toward Communism. We wish your government well.« Sie sprechen also pro domo, wenn Sie Anmerkungen wie die eben geäußerte über die Geltung und Gültigkeit des Völkerrechts machen. Nicht sehr überzeugend auch, wenn Sie die Vertreter völkerrechtlicher Bestimmungen in die Nähe von Inquisition und Hexenjagd rücken. Doch nun noch zu einem anderen Punkt: Bevor der aufgrund des Watergate-Skandals zurückgetretene Präsident Richard Nixon das Weiße Haus verließ, nahm er sämtliche Tonbänder und Akten mit. Man zahlte ihm 1974 2 Millionen Dollar für die Veröffentlichung seiner Memoiren. Es wurden 1094 Seiten. Ihre Memoiren umfassen allein für die Jahre 1973-1974 insgesamt 1503 Seiten. 987 Seiten umfassen die ›Jahre der Erinnerung‹. Weshalb schreiben Politiker stets so lange Memoiren. Die Hälfte hätte doch vielleicht auch ausgereicht? Stehen Rechtfertigungszwang und Redseligkeit in einem kausalen Verhältnis zueinander? Wilhelm II. hat mit seinen Memoiren ›Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918‹ (1922) es bei 308 Seiten belassen, und er war ja nun bekanntermaßen ein Vielredner. Karl Kraus schrieb damals in seiner Zeitschrift ›Die Fackel‹: »Amerika hat also, wie man jetzt weiß, das bessere Geschäft zu machen geglaubt, indem es, anstatt Wilhelm II. auf Jahrmärkten dressiert vorzuführen, ihm seine Memoiren abkaufte. Er hat sich an den Amerikanern nicht nur dadurch für seine Niederlage gerächt, daß er ihnen ein Dollarvermögen abknöpfte, sondern auch durch eine Leistungsprobe von Humbug, die geradezu das amerikanische Nationalbewußtsein beschämt. Seine Getreuen haben ihn gegen die Vorwürfe, die ihm der pure Literatenneid aus der Höhe dieses Honorars gemacht hat, in Schutz genommen, indem sie erklärten, daß das Honorar ›dem Rang und der Stellung des Autors durchaus angemessen‹ sei. Doch mit weit besserem Recht könnte einer Fürstin, die sich heute im Bordell prostituieren würde, zu der Bewertung ihrer persönlichen Vorzüge ein Preiszuschlag aus dem früheren Beruf resultieren als dem vazierenden Monarchen, der zur Presse geht.« Und was hat man Ihnen für Ihre Memoiren gezahlt?

Henry Kissinger: Das kann ich Ihnen nicht verraten, aber da ich eine internationale Berühmtheit bin, ist am Ende doch ein ganz hübsches Sümmchen zusammengekommen.

Hans Kelsen: Wie erfreulich für Sie. Wenn man die Mitschnitte Ihrer Konversation mit dem Präsidenten liest, fällt auf, wie devot Sie sich ihm gegenüber verhalten haben. Man gewinnt doch den Eindruck, daß Sie sich gegenüber dem Präsidenten wie ein Höfling benommen haben. Der Sachbuchautor Tim Weiner hat über Sie geschrieben: »Kissinger verstand es meisterhaft, Nixon stets das zu sagen, was dieser hören wollte.« Sie seien beschlagen gewesen in den Praktiken eines Doktor Faustus. Ihre Mitarbeiter hätten gewitzelt, daß Nixon bei weltbewegenden Entscheidungen drei Optionen hatte: 1. bedingungslose Kapitulation, 2. Atomkrieg, 3. Kissingers Empfehlung. Nixon entschied sich stets für die dritte Variante. Der Präsident war der Stratege, Sie der Taktiker. Beide seien Sie Geheimniskrämer und begabte Lügner gewesen. Ihre Servilität dokumentiert sich in protokollierten Dialogen mit dem Präsidenten. »Ich möchte, daß dieses Land (Nordvietnam) in Schutt und Asche gelegt wird. Wir werden diese Schweinehunde über den Haufen bomben.« (Nixon) »Keine Frage« antworten Sie darauf. »Jetzt, da wir die Grenze überschritten haben, gehen wir brutal gegen sie vor.« (Kissinger). »Ich würde sie gerne austricksen.« (Nixon). »Das können wir auch machen.« (Kissinger) »Wir müssen jetzt den maximalen Schockeffekt erzielen!« (Kissinger). Dazu der Tagebucheintrag eines Admirals: »Das ist eine irrsinnige Art, Krieg zu führen.« 

Henry Kissinger: Aber in jedem Weißen Haus herrscht die bei Hofe übliche Atmosphäre, die von der in der heutigen Präsidentschaft konzentrierten schieren Macht nicht zu trennen ist. Im nachhinein kann das als Unterwürfigkeit ausgelegt werden, und manchmal war es das vielleicht auch.

Hans Kelsen: Was aber nicht ausschloß, daß Sie sich in freien Momenten gegenüber Ihren Mitarbeitern, oder sollte ich sagen: Untergebenen, herausgenommen haben, die Sprechweise des Präsidenten nachzuahmen: »Wir müssen diese Leute zermalmen! Wir müssen sie vernichten!« 

Henry Kissinger: Ja, man muß die eigenen Leute bei Laune halten, und da ist eine Humoreinlage doch das beste Mittel, meinen Sie nicht auch?

Hans Kelsen: Ganz gewiß, ich habe das auch nicht als Vorwurf formuliert. Außerdem habe ich diese Sätze nicht erfunden, sie sind dokumentiert, so wie Ihre Administration ja so gut wie alles dokumentiert hat, eingeschlossen die geheimen Abhöranlagen, die auf Anordnung des Präsidenten installiert wurden. Sie hatten ja beide, Mr Nixon und Sie, gewisse Gemeinsamkeiten, nicht wahr? Sie waren beide »unverbesserliche Geheimniskrämer, aber Kissinger war es auf charmante Art.« Das hat der Leiter des Nachrichtendienstes des Außenministeriums, Thomas Hughes, über Sie beide gesagt. »Beide manipulierten, was das Zeug hielt, aber bei Nixon war das leichter zu durchschauen«. Sie haben die verdeckten Operationen nicht nur beaufsichtigt, Sie haben sie geleitet. Von Anfang an übten Sie eine Kontrolle über die CIA-Operationen aus, die immer strikter wurde. Und Sie haben, was heutigen Historikern bisher entgangen ist, die CIA dazu benutzt, um amerikanische Bürger auszuspionieren. Dabei gingen Sie mit dem Präsidenten konform, wonach jegliches präsidiale Handeln im Bereich der nationalen Sicherheit rechtskonform sein müßte. Was der Präsident macht, ist nicht unrechtmäßig, das war ja die Devise von Nixon, und dem haben Sie nichts entgegengesetzt.

Henry Kissinger:  Mpf.

Hans Kelsen:  Den ganzen Kalten Krieg über hat die CIA heimlich Politiker in Westeuropa mit Geld gefördert. Was man in der Nachkriegszeit in Italien anstellte, hat im nachhinein McGeorge Bundy 1965 als »die alljährliche Schande« bezeichnet. Als Nixon Präsident wurde, hat er zusammen mit Ihnen diese Politik des Geldes wiederaufleben lassen. Das Büro in Rom wurde damals von dem amerikanischen Sonderbotschafter Graham Martin geleitet. Sie haben ihn »den Typ mit den kalten Augen« genannt, und Sie meinten das als Kompliment. Der leitende politische Beamte in Rom, Robert Barbour, äußerte dazu: »Offenbar bewunderte Dr Kissinger jemanden, der in der Machtausübung ebenso rücksichtslos sein konnte wie er selbst.«

Henry Kissinger: Nehmen Sie das Beispiel Italien. Andreottis Energie verbrauchte sich beim Manövrieren in einem turbulenten politischen System, wo es für ihn nur einen extrem engen Handlungsspielraum gab. Seit zehn Jahren war die Politik in  Italien durch die ›Öffnung nach links‹ beherrscht, eine Entwicklung, die Anfang der sechziger Jahre zum Teil von den Vereinigten Staaten in diese Richtung getrieben worden war, um die Linkssozialisten als vermeintliche Barriere gegen die Kommunisten in die Regierung zu bringen.

Hans Kelsen: Graham Martin sorgte ab 1970 dafür, daß 25 Millionen Dollar an die italienischen Christdemokraten und die Neofaschisten gingen. Einer der unverwüstlichsten italienischen Politiker, Giulio Andreotti, der auch des Mordes an politischen Oppositionellen beschuldigt, aber nie verurteilt wurde, hat mit diesen CIA-Geldern Wahlen gewonnen. Ich darf aus einer politische Studie zitieren: »The successful US effort to overthrow the elected president of Chile, Salvador Allende, in 1973 fitted into the long US history of intervening in Latin America against leftwing governments that nationalised US corporations (in this case, the big copper companies). But Kissinger also disliked Allende’s closeness to Moscow’s ally, Cuba.« Sie haben das folgendermaßen kommentiert: »I don’t see why we need to stand by and watch a country go communist due to the irresponsibility of its people«. Ihr Kommentar ist bezeichnend für Ihre Einstellung zu demokratischen Wahlverfahren: Wenn es Stimmen für die kommunistische Partei gibt, die legal an den Wahlen teilgenommen hat, dann hat eine ausländische Macht wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Recht, dies zu verhindern. 

Henry Kissinger: Allende stürzte über seine eigene Unfähigkeit und Starrheit. Er war entschlossen, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Eine immer größere Zahl von Menschen hatte den Eindruck, daß entweder Allende gehen müßte oder die Demokratie zusammenbrechen werde. 

Hans Kelsen: Ich glaube, wir sollten die Unterhaltung hier beenden, wir sind an einem toten Punkt angekommen. Aber zum Schluß unseres Gesprächs möchte ich doch daran erinnern, daß wir beide aus deutschsprachigen jüdischen Familien stammen. 

Henry Kissinger: Ja, das trifft zu, aber ich habe dem niemals eine große Bedeutung beigemessen. Wir leben seit langem in säkularen Zeiten, die Religion hat nur noch private Bedeutung. 

Hans Kelsen: Ich bin 1905 zuerst zum katholischen Glauben konvertiert, 1912 dann zum evangelischen. Dabei spielte aber der Glaube keine große Rolle, ich war praktisch zur Konvertierung gezwungen worden, denn sonst hätte ich niemals eine Professur in Österreich erhalten.

Henry Kissinger: Das haben Sie richtig gemacht, ich verurteile Sie dafür nicht. Wenn die Religion ohnehin ihr Fundament verloren hat, wieso sollten dann die Individuen sie noch stützen, zumal dann, wenn damit alle guten Lebenschancen verhindert werden.

Hans Kelsen: Der Rabbiner Norman Lamm hat sich sehr vehement von Ihnen distanziert. »Wir sollten uns offen von ihm distanzieren. Er will nicht Teil unseres Volkes, seiner Geschichte und seines Schicksals, seiner Leiden und seiner Freuden sein. So soll es sein. Laßt uns nie wieder, weder in unseren Gesprächen noch in unseren Veröffentlichungen, auf das Jüdischsein dieses Mannes hinweisen. Er ist ein Beispiel dafür, wie hoch ein assimilierter Jude in den Vereinigten Staaten aufsteigen und wie tief er in der Wertschätzung seiner jüdischen Mitbürger fallen kann.«

Henry Kissinger: Solche Äußerungen habe ich stets an mir abprallen lassen. Übrigens, wußten Sie, daß ich 1973 den Friedensnobelpreis erhalten habe? (lacht vergnügt)

Hans Kelsen: Ja, die Ironie der Weltgeschichte. You are a lucky bastard.