Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Ernst-Dieter Lueg meets Kurt Schwitters
Herbert Wehner: Ich weiß nichts, und Sie wissen nichts, Herr Lüg.
Ernst-Dieter Lueg: Vielen Dank für diese Zwischenkommentierung, Herr Woehner. (3. Oktober 1976)
Ernst-Dieter Lueg: (spricht sotto voce bei ausgeschaltetem Mikrophon, während im Hintergrund auf einem riesigen Bildschirm ein Wahlspot der CDU läuft, in der der CDU-Politiker Friedrich Merz sagt: »Es lohnt sich wieder, fleißig zu sein und anzupacken. Lass uns das machen, Deutschland … Damit wir wieder stolz sein können auf unser Land.« Danach folgt die Zeile: »Friedrich Merz. Kannzler für Deutschland« [Ja, bei der CDU heißt der Kanzler der Kannzler, weil es vom Können kommt]): Hören Sie, Herr Schwitters, wir hatten das doch schon in der Vorbesprechung vereinbart, daß Sie sich das Buch des Herrn Merz, ›Mehr Kapitalismus wagen‹, vornehmen und in der laufenden Sendung ›vermerzen‹, also in das von Ihnen erfundene Format MERZ bringen. Wir hatten einen Deal. Wenn Sie sich jetzt plötzlich weigern, das zu tun, weil Sie meinen, der Künstler dürfe sich nicht ins Politische einmischen, dann müssen wir auf die andere Variante zurückkommen und Sie verpflichten sich, den Intendanten zu porträtieren, so wie Sie das ja während Ihrer Zeit als Emigrant in England praktiziert haben, als Sie fotogetreue Gemälde von britischen Offizieren und Sergeanten gemalt haben, um sich damit über Wasser zu halten. Und im Falle unseres Intendanten müssen Sie dann ja auch nicht wie bei den Offizieren die Rangzeichen am Uniformkragen abmalen, weil unser Intendant über solche als normaler Zivilist nicht verfügt. Das ist jetzt ganz und gar Ihre Entscheidung.
Kurt Schwitters: Die Verantwortung des Künstlers gilt nur der Kunst. Der Abfall der Welt ist meine Kunst. Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merz-Bild, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ stand, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige einer Bank, in der das Wort COMMERZ vorkam. So nannte ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZ-Bild. Mir war damals auch das Kompositum ›Merzvieh‹ bekannt, also ausgesondertes Vieh, das man als abgängig oder überzählig aus den Herden aussondert und verkauft, aus Altersgründen oder weil es keinen Zweck mehr erfüllt. Damit zusammenhängend dann auch das Wort ›Ausmerze‹, das während der NS-Zeit eine fürchterliche Bedeutung angenommen hat. Das Wort MERZ hatte keine Bedeutung, als ich es formte. Jetzt hat es die Bedeutung, die ich ihm beigelegt habe. MERZ heißt Auswählen, Kombinieren, Montieren von Materialien, sowohl ganz gegenständliche wie immaterielle, also Worte. Ich habe daher Banalitäten vermerzt, ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Die Bedeutung des Begriffs MERZ ändert sich mit der Änderung der Erkenntnis derjenigen, die im Sinne des Begriffs weiterarbeiten. MERZ ist Konsequenz. MERZ bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt. Für mich ist MERZ Weltanschauung geworden, ich kann meinen Standpunkt nicht mehr wechseln, mein Standpunkt ist MERZ. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.
Ernst-Dieter Lueg: Wußten Sie, daß bereits seit 1908 das von einem Friedrich Merz gegründete pharmazeutische Unternehmen ›Merz‹ existierte? Die Firma brachte 1911 das Verhütungsmittel ›Patentex‹ auf den Markt. Es ist doch fabelhaft, wenn Sie bedenken, daß wir bald einen Bundeskanzler haben werden, der Merz heißt. Was ergeben sich da für künstlerische Möglichkeiten für Sie!
Kurt Schwitters: Ich habe ausgemerzt. Wir beide haben ausgemerzt, wir sind Schattengestalten, also was wollen Sie eigentlich von mir?
Ernst-Dieter Lueg: Sie haben 1919 die M.P.D gegründet, die MERZ-Partei Deutschland. Mit Aufrufen in Tageszeitungen haben Sie die Wähler aufgefordert: ›WÄHLT ANNA BLUME/M.P.D.‹
Kurt Schwitters: Ich war das einzige Mitglied dieser Partei. Das war eine künstlerische Aktion, mit der ich jede Partei negiert habe. Ich arbeite mit Abfall. Auch eine Partei oder ein Politiker sind Abfall der Zivilisation. Auch hier gilt das Prinzip Produzieren, Kaufen, Benutzen, Wegwerfen. Die Bilder Merzmalerei sind abstrakte Kunstwerke. Das Wort MERZ bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien. Die MERZmalerei bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels und der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbaren Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgend welchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Das Kunstwerk gestaltet sich nur aus seinen Mitteln. Alles stimmt, aber auch das Gegenteil.
Ernst-Dieter Lueg: Alles schön und gut, aber wir sind gleich auf Sendung. Also, Herr Schwitters, wie steht es, machen wir das nun?
Kurt Schwitters: Ehe ich den Indentendanten in Öl abmale, steige ich dann doch lieber in den Ring. Also gut, legen wir los.
Ernst-Dieter Lueg: Wunderbar. (Schaltet das die ganze Zeit in seiner Hand liegende Mikrophon an und wechselt in einen offiziellen Medienübertragungston): Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu ›ELY-TV‹, dem Sender aus der Unterwelt, wo die Zuschauer alles Wissenswerte aus der Oberwelt erfahren können. Mit MERZ bezeichnete Kurt Schwitters eine künstlerische Collage-Technik, mit der er Zeitungsausschnitte, Reklameanzeigen und Abfall von der Straße zusammenband. Merz ist der Nachname des kommenden Bundeskanzlers Friedrich Merz. Neben mir steht der berühmte deutsche Künstler Kurt Schwitters, der gleich aus dem Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹, das unser neuer Bundeskanzler Friedrich Merz vor siebzehn Jahren geschrieben hat, vortragen wird. Doch das wird keine gewöhnliche Rezitation werden, keine bloße Buchlesung, nein, meine Damen und Herren, der auch unter dem Künstlernamen MERZ bekannte Artist Kurt Schwitters wird das Werk auf neuartige Weise wiedergeben, in einer Lesart, wie es bisher keiner der Leser dieses Buches gelesen hat. Darf ich bitten, Herr Schwitters!
Kurt Schwitters: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Meine MERZ-Kunst verarbeitet grundsätzlich alles und wertet das dann gegeneinander, Sinn gegen Unsinn. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn. Ich habe hier einen Gegenstand, das Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹ des Politikers Friedrich Merz von der ›Christlich-demokratischen Union‹. Verwechseln Sie das, was nun folgt, nicht mit dem Dadaismus. Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht MERZ Gegensätze durch Wertung innerhalb eines Kunstwerks aus. Die Gestaltung erfolgt aus jedem Material. Dada war gegen Kunst, aber MERZ ist absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst. MERZ wertet den Abfall der Welt auf. Moholy, Mondrian und Malewitsch. Wir leben im Zeitalter des M, siehe MERZ. MERZ ist – Merz. Aber: Armes Deutschland! – Wenns nur Merz hat! Banalität ist jeden Bürgers Zier. Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang. MERZ steht allen offen, den Idioten wie den Genies. Auch ich bin ein Idiot, und ich kann es beweisen. (Wird von Ernst-Dieter Lueg unterbrochen, der ihm zuraunt): Bitte, Herr Schwitters, kommen Sie doch zum Thema des Abends! (Schwitters läßt sich nicht beirren und fährt fort zu deklamieren): Haben Sie die interessanten Aufschriften auf Eisenbahnstellwerken gesehen, die immer so interessant wirken, weil man ihren Sinn nicht versteht? Kennen Sie meine Sciencefiction-Parabel ›Der grüne Globus‹? Mit großer Geschwindigkeit rast ein Himmelskörper auf die Erde zu. In immer kürzer werdenden Abständen erscheinen Sonderausgaben der Zeitungen zum bevorstehenden Weltuntergang. Die drohende Katastrophe führt zur Einigung aller politischen Parteien. Schließlich gleitet der Komet an der Erde vorbei. Ein Zusammenstoß, bei dem es nicht zum Zusammenstoß kommt! Ich habe hier die Porträts von Hitler und Goebbels (hebt beide Hände und tut so, als halte er zwei Gemälde in die Luft) Gut, hier sind sie, Leute, wollen wir sie aufhängen oder an die Wand stellen? Haben Sie meinen Text ›Aus dem Lande des Irrsinns‹ gelesen? Nein? Ist es eigentlich nötig, von einen Land des Irrsinns zu sprechen? wird der aufmerksame Leser sicherlich fragen, denn jeder weiß, daß wir in einer Welt des Irrsinns leben. Oder sollte es wirklich noch Leute geben, denen dieser Grundsatz nicht klar ist? (Ernst-Dieter Lueg schaut mit verzweifeltem Gesichtsausdruck auf Schwitters, sagt aber nichts; Schwitters ergreift das Merz-Buch und beginnt tatsächlich mit der vermerzten Lesung):
MERZ: Wenn aber schon eine große Koalition in Deutschland zur Lösung der Probleme nicht in der Lage ist? Diese Party ist jetzt vorbei. Die Deutschen sollten den Kapitalismus verstehen, damit er gerettet werden kann. Und retten müssen wir den Kapitalismus, denn ohne Kapitalismus gibt es keinen Sozialstaat. Die globale Lage wird politisch und ökonomisch instabiler. Die Party ist jetzt vorbei. Wenn die großen Weichen falsch gestellt sind, läßt sich zwar im Kleinen manches verbessern. Jeder Bürger soll seine Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Wie kann man von unserer Wirtschaftsordnung als ›Kapitalismus‹ reden? Wir sprechen seit jeher — politisch korrekter – von ›Sozialer Marktwirtschaft‹. Mit großem »S«. Ursprünglich war das Adjektiv »sozial« für das Konzept der Marktwirtschaft nicht vorgesehen. Ihr Kern ist und bleibt der Wettbewerb im Markt. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Bevölkerung ist in den letzten Jahren erkennbar gesunken. Den Befürwortern von Freiheit und Eigenverantwortung fehlt das Selbstbewußtsein und die visionäre Kraft, sie einzufordern. Die Marktwirtschaft im Alltag erklärt sich nicht von selbst. Unternehmer kommen in deutschen Schulbüchern schlecht weg. Das ist ein Skandal. Politik und Wirtschaft müssen mit den richtigen Argumenten für die Marktwirtschaft werben. Die Globalisierung hat Vorteile für uns alle. Es kommt heute nicht mehr darauf an, welche Krawatte ein Politiker trägt. Die Welt um uns herum wird noch kapitalistischer werden! Die Welt wartet nicht auf Deutschland. Wir müssen uns alle wieder ein wenig mehr anstrengen und werden wieder mehr arbeiten müssen. Den Sozialpolitikern aller Parteien fällt es schwer, ihren Fürsorgedrang zu bändigen. Wenn der freie Mensch in den Tag hinein lebt. Niemals bindungs- und beziehungslos. Warum die Marktwirtschaft aus sich selbst heraus sozial ist. Gut, daß wir nun auch in Deutschland ›Heuschrecken‹ haben! Macht und Gewinnstreben sind Teil der menschlichen Natur. Was in der Demokratie die Wähler, das sind in der Wirtschaft die Kunden. Auf den deutschen Mittelstand können wir wirklich stolz sein. Seit jeher sind viele Deutschen anfällig für die Thesen ihres großen Sohns aus Trier. Auf fruchtbaren Boden fallen. Diese Party ist jetzt vorbei.