Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Shere Hite meets Stendhal

So ist für »Kristallisation« der Liebe bei Stendhal Kommunikation kaum noch nötig, und, wenn sie kommt, kann sie das Gebilde zerstören, weil sie das »nein« ermöglicht.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, 168

…dann zerriß er leise die Schnürbänder des Gewandes, das Mieder sprang auf, und die zwei weißen Köstlichkeiten zeigten sich in allen Prächten. Auf Silberschimmer dieses Busens blühte ein paradiesisch Rosenpaar. Er berührte sie leise mit den Lippen, ließ diese dann liebkosend dem Umriß der Brüste entlang gleiten. Rosalinde lächelte Gewährung in unerschöpflicher Güte und mühte sich, seine Zärtlichkeiten gleichwertig zu erwidern.
Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin – Doppelliebe [1834]. In: ders.: Romane und Erzählungen (Hg.) D. Oehler, Wiesbaden 2003, 29–220 (216)

Shere Hite: Der Wald war meine erste Liebe. Er schien mit mir zu sprechen, und ich hatte das Gefühl, daß auch die Bäume mich liebten und mir helfen wollten. Ich verspürte stets den Impuls, die Baumstämme mit den Armen zu umschlingen. Ich wollte ihre Kraft, ihre Festigkeit an meiner Brust fühlen.

Stendhal: Wenn ich während des Pariser Frühlings aus dem Fenster schaute und die knospenden Lindenbäume sah, überkam mich das Gefühl, in diesen Bäumen meine ersten Freunde in der großen Stadt gefunden zu haben.

Shere Hite: An einem jener Abende verspürte ich ein seltsames Begehren, ein tiefes Sehnen, das aus dem unerreichbaren Innern meines Körpers zu kommen schien. Bald entdeckte ich, daß ich das Gefühl verstärken konnte, indem ich den Körper gegen das Bett drückte und die Beine hin und her bewegte. Ich preßte den Körper gegen das Bett, bis das Gefühl, anstatt zu enden, immer heftiger und immer fordernder wurde. Eines Tages nahm ich dabei eine wunderbare Explosion tief in meinem Körper wahr. Der Genuß war wie ein elektrischer Schlag zwischen meinen heißen, sich krümmenden Beinen. Ich wollte es immer wieder tun, und ich tat es immer wieder. Dann tat ich es jeden Tag. 

Stendhal: Ja, liebe Madame Hite, das war eine schöne Beschreibung Ihres sexuellen Erwachens, die Sie mir da eben gegeben haben. Meine erste sexuelle Erfahrung machte ich mit einer Mailänder Hure. In meinem Roman ›Lamiel‹, der erst 1889 veröffentlicht wurde, beschreibe ich dieses angeblich so einschneidende Erlebnis und lasse eine meiner Figuren fragen: Comment, ce fameux amour ce n’est que ça! Ist die Liebe weiter nichts? Auch ich habe mich im Laufe meines Lebens mit dem Phänomen der Liebe immer wieder beschäftigt, allerdings durfte ich angesichts der damaligen Zeitverhältnisse nicht so offen schreiben und sprechen, wie Sie das soeben demonstriert haben. Die Liebe war mein Hauptthema, beim Schreiben und in meinem eigenen Leben. Sie kennen vielleicht den von mir entdeckten Vorgang der »Kristallisation«? Nein? Dann will ich Ihnen das einmal beschreiben. Die Kristallbildung hört in der Liebe fast nie auf. Ich verstehe unter Kristallbildung eine Art Fieber der Einbildungskraft, durch das ein meist ganz gewöhnlicher Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit verändert und zu etwas Besonderem wird. Bildschöne Frauen machen schon am zweiten Tage nicht mehr den gleichen Eindruck. Das ist ein großes Unglück, denn es stört die Kristallbildung, es läßt ihr nicht genügend Raum. Da ihre Reize allgemein sichtbar und gleichsam ein Aushängeschild sind, müssen auf der Liste ihrer Liebhaber mehr Dummköpfe, Prinzen, Millionäre und so weiter stehen. Sie, verehrte Madame Hite, sind übrigens wirklich bildschön.

Shere Hite: Ja, ja, ich weiß, jetzt sind aber genug Süßholz geraspelt und versteckte Beleidigungen ausgesprochen worden. Ich warte immer noch auf die Beschreibung Ihrer Beobachtung, auf die Definition der Kristallbildung.

Stendhal: Oh, entschuldigen Sie. Eine sachlich-poetische Beschreibung des Vorgangs können Sie in einem Nachlaßtext von mir finden, betitelt ›Der Salzburger Zweig‹. Ich schrieb diese Reflexion, nachdem ich am 5. und 6. Januar 1810 im österreichischen Hallein das Salzbergwerk besucht hatte. Man verkaufte dort Zweiglein, die im Salzbad Kristalle angesetzt hatten. Hier, ich habe den Text bei mir. (Liest vor): Im Salzbergwerk von Hallein bei Salzburg werfen die Bergleute einen entlaubten Baumzweig in die Tiefe der verlassenen Schächte. Zwei bis drei Monate später finden sie ihn durch die Wirkung des salzhaltigen Wassers, das den Zweig benetzt und beim Ablaufen Niederschläge hinterläßt, ganz mit glitzernden Kristallen bedeckt. Die kleinsten Äste, nicht größer als die Füße einer Meise, sind mit einer Unzahl kleiner, lockerer, glitzernder Kristalle überzogen. Der eigentliche Zweig kommt nur noch hier und da zum Vorschein, die Salzkristalle haben ihn fast völlig verdeckt. Das ist die Metapher der Kristallbildung, und genau so verlieben sich die Menschen ineinander. Es gibt sieben Phasen der Liebe. 1. Bewunderung. 2. Verlangen. 3. Hoffnung. 4. Entstehung der Liebe. 5. Erste Kristallbildung. 6. Entstehung des Zweifels. 7. Zweite Kristallbildung. Zwischen 1 und 2 kann ein Jahr vergehen, zwischen 2 und 3 ein Monat. Zwischen 3 und 4 liegt ein Augenblick, 4 und 5 folgen unmittelbar. Zwischen 5 und 6 können ein paar Tage liegen, 6 und 7 folgen unmittelbar aufeinander. Sie sehen, es ist kein durchgehend linearer Prozeß, es gibt Verzögerungen, es braucht Zeit, um die Kristallisation zum Abschluß zu bringen. Mit all den Verhängnissen, die die dann beginnende Liebe mit sich bringt. Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluß des Willens. Damit unterscheidet sich meine Kristallisationstheorie der Liebe von Goethes Wahlverwandtschaft in seinem gleichnamigen Roman. Darin wird die leidenschaftliche Liebe als unausweichliche gegenseitige Anziehung zweier chemischer Elemente beschrieben, die beiden Paare finden zueinander in alles andere ausschließender Schicksalhaftigkeit.

Shere Hite: Sehr interessant. Mein Forschungsansatz bestand darin, daß ich vier Jahre lang Tausende von Fragebögen an Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika verschickte und sie bat, auf meine Liste an Fragen zu ihrer sexuellen Erfahrung offen zu antworten. Daraus entstand dann 1976 der ›The Hite-Report. A Nationwide Study of Female Sexuality‹. Das waren keine Multiple-choice-Fragebögen, die Frauen mußten handschriftliche Antworten auf meine Fragen geben, und das haben sie in großer Zahl dann auch getan. Das war ein quantitativer Ansatz, da ich der Meinung war, ich müßte herausfinden, was Frauen wirklich empfinden, wenn sie sexuelle Empfindungen haben, nicht das, was die Alltagsfolklore über die Frauen im allgemeinen bisher als bekannte Tatsachen vorausgesetzt hat. Es waren insgesamt dreiundsechzig Fragen, und wenn ich es mir recht überlege, wurden die Frauen im Grunde aufgefordert, ihre sexuelle Autobiographie zu schreiben, so detailliert waren die Fragen, und deshalb war es aber auch so schwierig, die Antworten zu quantifizieren. Aber immerhin haben fünfzehntausend Frauen bei meinen Untersuchungen mitgewirkt, während Freud nur drei Frauen der Wiener Oberschicht befragt hat, weshalb meine Theorien über das sexuelle Verhalten der Frauen in den USA viel fundierter sind als seine.

Stendhal: Ich habe meine Frauengestalten in meinen Romanen von den Stereotypen der Zeit freigehalten. Bei mir gibt es keine geduldig Leidende, kein sanftes Musterbeispiel der Tugend; meine Frauengestalten besitzen die gleichen Eigenschaften wie die meiner Männergestalten: Tatkraft, Eigenwille, Wagemut, Intelligenz. Sie sind äußerst energisch und entschlossen, vergleichen Sie das mal mit den Frauengestalten meines Kollegen Balzac! Auch Ratschläge habe ich gegeben, so, als mein Kollege Prosper Mérimée mich brieflich fragte, wie meine Romanfigur Armance denn in den kurzen Tagen ihrer Ehe mit Octave ein so ekstatisches Glück habe empfinden können. Ich habe ihm ausführlich geschildert, welche Mittel ein impotenter Mann anwenden könne, um einer noch unerfahrenen jungen Frau physische Befriedigung zu verschaffen.

Shere Hite: Sehr schön, sehr, sehr schön. Mein Buch ›Frauen & Liebe. Eine kulturelle Revolution‹ (1987) war mein bis dahin aufwendigstes Projekt. Schließlich beabsichtigte ich, Emotionen zu quantifizieren. Im Grunde versuche ich immer noch herauszufinden, was Sex ist. Ich glaube, daß sich in ihm vielerlei Gefühle vermischen.

Stendhal: Ich hatte als junger Mann eine Vorliebe für die Mathematik, ihre nüchterne Sprache bestach mich durch ihre kalte, klare Schönheit. Die Mathematik heuchelt nicht wie die Bourgeoisie, sie ist in ihrer Logik unbestechlich, ehrlich, klar. Der Erzählstil kann gar nicht klar, nicht schlicht genug sein. Als ich die ›Kartause von Parma‹ (1839) schrieb, las ich zur Einstimmung jeden Morgen zwei bis drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch. In meiner Prosa erfand ich einen Erzählstil, der kompromißlose Wahrhaftigkeit einschloß.  Dazu gehört als Vorbereitung das Verliebtsein, bei dem alles andere Interesse erlischt.  Aber die Momente höchster Leidenschaft sind nicht die besten fürs Schreiben. Als Romanschriftsteller muß man sich ganz auf die Beobachtungsgabe und die Beschreibungskunst verlassen. So habe ich Gefühle im Fluß ihres Erlebens dargestellt und innere Einstellungen zergliedert; das haben Henry James und Marcel Proust dann auf vorbildliche Weise fortgeführt.

Shere Hite: ›Frauen & Liebe‹ ist ein sehr komplexes Werk und stellt Fragen wie: Ist die Liebe etwas Reales, oder nur ein Instrument zur Manipulation der Frau? Sofern es sie gibt, welches sind die realen Aspekte der Liebe? Welche Art Liebe ist Frauen wichtig, oder an welchen Aspekten der Liebe haben sie Freude? Wie kommt es dazu, daß Liebe manchmal emotional oder physisch gewalttätig wird? Möchte die Frau von heute die Liebe, oder will sie lieber ohne Liebe leben? Meines Erachtens befähigt die Liebe die Frauen zu heroischen Leistungen. Die Frauen ›klammern‹ sich keineswegs an den Mann und sind auch nicht masochistisch, wie es oft heißt. Jedoch stellt sich die Frage, ob das Hegen und Pflegen, das Sorgen und Lieben für die Frauen selbst von Vorteil ist. Wußten Sie, daß 50% der Frauen ihre Ehe beenden und 50% erhalten sie aufrecht, obwohl sie emotional unbefriedigt sind? Die Ansprüche der Frauen an eine Partnerschaft sind drastisch gestiegen. Heute besitzen die Frauen durch ihre materielle und sexuelle Unabhängigkeit eine neue, beispiellose Macht. 

Stendhal: Jeder, der meinen Namen kennt, ist mit meiner Romanfigur Julien Sorel vertraut, dem Protagonisten von ›Le Rouge et le Noir. Chronique du XIXe Siècle (1831), aber wer kennt ›L’Amiel‹ (1889)? Da finden Sie die Vollendung meiner Frauengestalten, Frauen, die sich nicht um die gesellschaftlichen Normen scheren und gegen die männliche Dominanz aufbegehren. Amiel ist das weibliche Gegenstück zu Julien Sorel. Sie erreicht die Gleichberechtigung nicht durch Bitten, sondern durch selbstbewußten Kampf. Erst hier, im Elysium, habe ich die Zeit gehabt, weit über mein kurzes Leben hinweg, alle die Erfahrungen nachzuholen, die ich zu Lebzeiten niemals hätte sammeln können. Auch wenn mein Wahlspruch lautete: Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten! Aber wenn Sie sich vorstellen: Ich bin 1783 geboren und starb 1842, Sie sind 1942 geboren und 2020 gestorben. Sie sind 100 Jahre nach meinem Tod geboren worden. Ich wäre heute, im Jahre 2025, 242 Jahre alt. Was ist nicht alles innerhalb dieser Zeitspanne auf der Welt geschehen! Wieviele Bücher sind geschrieben worden, wieviele Erkenntnisse sind zusammengetragen worden. Aber ist die Menschheit vorangeschritten? Wenn ich nur Ihre Forschungsergebnisse mir vor Augen führe, dann muß ich die Frage absolut bejahen. Wenn ich mir das tatsächliche Verhalten der Menschen ansehe, und wir werden hier im Elysium ja sehr gut mit Informationen über die andere Welt versorgt, so muß ich sagen: Nein, die Erkenntnisse laufen den Ereignissen und der unveränderlichen menschlichen Natur hinterher. 

Shere Hite: Das ist leider nur zu wahr. Das Buch ›Frauen & Liebe‹ wurde von reaktionären Kräften attackiert, die amerikanischen Medien hetzten unaufhörlich gegen meine Bücher, so daß ich irgendwann beschloß, das Land für immer zu verlassen. Ich lebte noch drei Jahre nach Verlassen der USA mit einem Restgefühl des Terrors. Ich habe dann auch meine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen.

Stendhal: Sie müssen meinen Roman ›Lucien Leuwen‹ lesen, darin schildere ich die französische Bourgeoisie und ihre Verfallenheit ans Geld, wie allein das Geld über alles entscheidet. Amerika war für mich immer die Diktatur des Mittelmaßes und ich bedauere sehr, daß Sie dort unter den Nachstellungen und Verleumdungen der amerikanischen Öffentlichkeit so zu leiden hatten.

Shere Hite: Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. ›Frauen & Liebe‹ wurde trotz der Hetzkampagne der amerikanischen Medien auf der ganzen Welt gut verkauft, allein in Deutschland wurden fast eine Million Exemplare abgesetzt. Man denke aber nicht, daß mir das Geld massenweise zufloß, denn die Kosten für die Forschung beliefen sich auf viele hunderttausend Dollar. Häufig saß ich vierzehn Stunden pro Tag am Schreibtisch. Von den ersten drei der vier Hite-Reports wurden in sechsunddreißig Ländern mehr als zwanzig Millionen Bücher verkauft.

Stendhal: Für mein erstes selbständiges Buch ›De l’Amour‹ (1822) haben sich in den ersten zehn Jahren seines Erscheinens siebzehn Käufer gefunden. To the happy few! Die Stendhal-Forschung, die es heute tatsächlich gibt, hat errechnet, daß ich mit meiner Literatur 75 Centimes pro Tag, und 270 Francs pro Jahr eingenommen habe. Ist es aufs Ganze gesehen wirklich die Mühe wert zu leben?