Im Dezember 1972 kaufte ich mir einen gerade erschienenen Band der ›edition suhrkamp‹, ein Gemeinschaftswerk mit dem Titel ›Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit‹. Die beiden Autoren, Oskar Negt und Alexander Kluge, zogen darin eine soziologische Bilanz der Vorgänge, die mit dem Jahr ›1968‹ in Zusammenhang stehen. Zugleich war es eine Fortschreibung des Buches ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ von Jürgen Habermas. Wer das eine Buch las, las irgendwann auch das andere. Das Wort ›proletarisch‹ wurde schon damals als ein gewagtes Wort empfunden, insofern als man damals schon sich fragte, ob es so etwas wie das Proletariat überhaupt noch gab. Natürlich gab es das und gibt es auch noch heute, nur hat man sich angewöhnt, andere Namen, Ersatzbezeichungen, dafür zu erfinden. Mein Entschluß, mich in Hannover zu immatrikulieren, wurde durch das Buch von Negt/Kluge (wie man das Duo bald nannte), beeinflußt, denn Oskar Negt war seit kurzem von Frankfurt am Main nach Hannover gezogen, um dort als Professor für Soziologie zu lehren. Ich ging in keines seiner Seminare, aber von seinem Vorlesungszyklus ›Kant, Hegel, Marx, Freud‹ habe ich keine Vorlesung ausgelassen. Es war auch eine Zirkus-Veranstaltung. In der vordersten Reihe saßen Studentinnen, die nicht unbedingt gerade erst ihr Abitur gemacht hatten, aber auch noch weit davon entfernt waren, Seniorenstudentinnen zu sein. Alle hatten sie etwas gemeinsam: Tonbandgeräte und große Mikrophone im Gepäck. Beides wurde von ihnen auf dem Tisch gleich vor dem Vorlesungspult vor Beginn der Vorlesung aufgebaut. Das waren die Negt-Groupies, wie manche hinter vorgehaltener Hand sie damals nannten. Es reichte eben nicht, wie das Generationen von Studenten vorher getan hatten, das gesprochene Wort mitzuschreiben, nein, alles mußte auf einem Tonband mitgeschnitten werden. So konnte man zuhause in aller Ruhe einige der Passagen nachhören oder denjenigen, die aus welchen Gründen immer nicht anwesend sein konnten, das Privileg gewähren, nachträglich noch Teilnehmer an diesem akademischen Ereignis zu werden. Es gab an der Fakultät V Mitte der siebziger Jahre auch andere Vorlesungen, aber in keiner anderen wurden Tonaufnahmen gemacht. Wenn man von weit oben in dem großen Vorlesungssaal nach unten schaute, auf die Front mit den Tonband-Studentinnen, sah es immer so aus, als ob gleich eine wichtige Pressekonferenz bevorstand. Und es war ja auch wichtig, was Oskar Negt zu sagen hatte. Stets begann er mit sehr leiser Stimme zu sprechen, und das mit Absicht, weil er wohl wußte, daß man nur so die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewinnen würde. Auch die feinsten Ohren konnten noch so sehr versuchen, sich auf die Stimme zu konzentrieren, es war am Anfang unmöglich, zu verstehen, was vorne gerade gesagt wurde. Ein Mantra, ein om-om-om hätte vermutlich den gleichen Zweck erfüllt. War dann aber Ruhe im Saal eingekehrt, konnte man deutlich hören, wie Negt ostpreußelte, nicht zu stark, aber doch erkennbar, und das lag nur daran, daß er in Königsberg geboren war und den dortigen Tonfall als Kind angenommen hatte. Da der Zyklus mit Kant begann, kaufte ich mir natürlich die drei großen Kritiken, die ›Kritik der reinen Vernunft‹, die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und die ›Kritik der Urteilskraft‹. Während der ersten beiden Semester 1974/75 wohnte ich noch in Celle bei meinen Eltern, und mußte täglich mit der Eisenbahn nach Hannover fahren. Stets hatte ich dann einen Band Kant dabei und so las ich dann im Zug in der stilistisch schwierigen ›Kritik der reinen Vernunft‹, während um mich herum Leute vom Land ein- und ausstiegen und ihre Alltagsgespräche führten. Daß die Konzentration auf philosophische Konstruktionen unter diesen Umständen nicht leicht fiel, leuchtet ein, aber ich hatte keine Lust, dem Gerede der Mitfahrenden zuzuhören, und so las ich gegen deren Geschwätz an und versuchte umso mehr, mich ganz in die Lektüre zu vertiefen. Ich las auch andere Bücher, und eines Tages hatte ich die 1973 bei Suhrkamp erschienenen beiden Bände ›Philosophische Terminologie‹ von Theodor W.  Adorno dabei, als ich auf einmal stutzte. Ich schaute in meine Kladde, in der ich das von Negt Vorgetragene notiert hatte. Da fiel mir plötzlich auf, daß sowohl die Anlage der Frankfurter Vorlesungen von Adorno aus den Jahren 1962 und 1963 wie auch die Ausführungen zu einzelnen Begriffen übereinstimmten mit den 1974 und 1975 von Negt in Hannover abgehaltenen Vorlesungen. Nun ist es gewiß legitim, sich an andere Autoren anzulehnen und die Geschichte der akademischen Vorlesung zeigt zudem auch, daß es beispielsweise zu Kants Zeiten ganz normal war, wenn der vortragende Professor ein eingeführtes und etabliertes Lehrbuch als Orientierungshilfe benutzte, ja sogar wörtlich daraus vorlas, da die Vorlesung damals tatsächlich vornehmlich im Vorlesen von bereits Gedrucktem bestand. Der Vortragende konnte und durfte daran anschließen und, falls er neue Aspekte und Gedanken vorrätig hatte, diese den zahlenden Zuhörern mitteilen. Nicht so in diesem Falle. Ich wartete lange und bald vergebens darauf, daß Oskar Negt uns Studenten die beiden Adorno-Bände zur Vertiefungslektüre empfehlen würde, was ja auch zum erleichterten Verständnis des Vorgetragenen hätte beitragen können, denn nur die Tonband-Damen in der vordersten Reihe konnten zuhause beliebig oft in die aufgezeichneten Vorlesungen hineinhören. Es hätte nahegelegen, den Professor mit den Adorno-Bänden zu konfrontieren und ihn zu fragen, was ihn bewogen haben könnte, den hannoverschen Studenten nicht mitzuteilen, daß er die Vorlesungen seines akademischen Lehrers Adorno ein Jahrzehnt später nachinszenierte. Aber ich traute mich nicht, ihm dies zu sagen, zumal ich Negt als umgänglichen und freundlichen Menschen empfand. Vielleicht half mir diese Entdeckung aber auch, distanziert und skeptisch zu sein gegenüber der Verehrung, die ihm von vielen Studenten entgegengebracht wurde, und eine Reserviertheit zu pflegen, die immer gut ist, wenn man in Gefahr gerät, sich einer Person vollkommen auszuliefern. Die Tonband-Groupies kamen mir wie Adorantinnen vor, die jedes Wort des verehrten Soziologen der Nachwelt zu überliefern gedachten und mit einem schwärmerischen Augenaufschlag zu ihm hochzuschauten. Der angekündigte Zyklus ›Kant, Hegel, Marx, Freud‹ schloß nicht mit Freud ab, sondern es gab stattdessen zum Wintersemester 1976/77 eine Vorlesung mit dem Namen ›Literatursoziologie I‹, die 2022 unter dem Titel ›Politik der Ästhetik: Die Romantik‹ als Buch erschienen ist. Erst 2020, fast fünfzig Jahre später, erschienen unter dem Titel ›Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant‹ die Vorlesungen aus dem Wintersemester 1974/75 und Sommersemester 1975 als Buch. So hatten die Tonbandaufzeichnungen doch noch einen Sinn und eine davon hatte sicherlich als Druckvorlage gedient.