In dem letzten Blog-Eintrag wurden wir Zeuge einer TV–Gesprächsrunde, in der fiktive Figuren sich unterhalten. Doch was sie sagen, ist nicht erfunden, es sind Zitate aus Zeitungen und Zeitschriften, die nur übernommen worden sind. Man könnte meinen, daß der folgende Satz der dichterischen Phantasie entstammt: »Ich kenne Frauen aus der Gegend, die bei Vollmond nicht mehr mit ihrem Mann in den Wald gehen aus Angst vor Wölfen.« Es ist eine Äußerung, die eine sich selbst Angst einjagende Frau gegenüber einem Lokalreporter wirklich gemacht hat. Und auch die folgenden Bekenntnisse sind nicht für irgendeinen literarischen Effekt konstruiert worden: »Mein erstes Reh, das war ein Erlebnis. Das Stück quittierte den Schuß, ging vorne hoch und dann ab. 7 Kilo lecker Fleisch! Ich habe auch das Stück alleine geborgen und selbst aufgebrochen. Als ich einen Fuchs vors Visier bekam, schoß ich sofort. Der Fuchs drehte einen Salto und hatte sein Leben ausgehaucht« Karl Kraus hat im Vorwort zu seinem Theaterstück ›Die letzten Tage der Menschheit‹ (1919) eine Erklärung für diesen unheimlichen Vorgang gefunden: »Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. Die grellsten Erfindungen sind Zitate. Das Dokument ist Figur. Phrasen stehen auf zwei Beinen.« Wann immer in diesem Blog es einen Dialog oder ein Gespräch unter mehreren Teilnehmern gibt, wann immer es einen Kommentar zum Zeitgeschehen zu lesen gibt, so darf man sicher sein, daß nichts erfunden, sondern daß die Äußerungen immer wirklich von realen Menschen gesprochen wurden. Für Karl Kraus ergab das sein Lebensprogramm, das er 1922 in dem Sammelband ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ umrissen hat: »Ich habe den zu Zeitungsdreck erstarrten Unflat aus Jargon und Phrase ausgeschöpft, gesammelt und in seiner ganzen phantastischen Wirklichkeit, in seiner ganzen unsäglichen Wörtlichkeit kommenden Tagen überliefert. Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt.«