In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. […] Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet? […] Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen. (Karl Kraus: Reklamefahrten zur Hölle, 1921)
Drei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs hatten die ›Basler Nachrichten‹ einen Einfall, einen Presse-Einfall. Sie brachten den Einfall in die Form einer großen Annonce und versahen diese mit der fettgedruckten Überschrift:
Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto!
In etwas kleinerer Schrifttype setzte man darunter:
Unvergeßl. Eindrücke
Dem geübten Zeitungsleser traute man zu, das abgekürzte Wort »Unvergeßl.« zu ergänzen in »Unvergeßliche«. Wenn man viel mitzuteilen hat, muß man sich beschränken. Um den Leser in einen Rundfahrten-Teilnehmer zu verwandeln, der zuvor 117 Schweizer Franken zu erlegen hatte, bevor er unvergeßliche Eindrücke von den Schlachtfeldern von Verdun mitnehmen durfte, wird dem noch zögernden Zeitungsleser versichert:
Keine Paß-Formalitäten!
So kann der Abonnement der ›Baseler Nachrichten‹ so sicher wie in Abrahams Schoß sich auf die Rundfahrt begeben, die von seiner Zeitung noch mit dem werbenden Zusatz versehen wurde:
Als Herbstfahrt besond. zu empfehlen!
Dieser Hinweis erfolgte dann aber schon in einer sehr verkleinerten Schrifttype und erneut vertraute man auf die Fähigkeit des Abonnenten, abgekürzte Wörter wie »besond.« umgehend und ohne Schwierigkeiten in »besonders« umzuwandeln. Sodann wird der Leser mit der Fahrtroute vertraut gemacht, wozu auch Mitteilungen über die Art des Zuges (Schnellzug II. Klasse) und der Unterbringung (in einem erstklassigen Hotel) gehören. Doch dann wird es spannend. Um jede Überraschung während der Fahrt auszuschließen, wird dem Abonnenten mitgeteilt: »Sie fahren durch die zerstörten Dörfer ins Festungsgebiet von Vaux mit den riesigen Friedhöfen mit hunderttausenden von Gefallenen.« Als ob diese Information nicht schon genug an Information bedeutet hätte, fügt man zum weiteren Anreiz hinzu: »Sie besichtigen das Ossuaire« — Halt! Natürlich verzichtet ein anständiges Blatt niemals darauf, für alle verständlich zu formulieren, und so geht der Satz denn auch so weiter: »Ossuaire (Beinhaus) von Thiaumont, wo die Überreste der nicht agnostizierten Gefallenen fortwährend eingeliefert und aufbewahrt werden.« Mit dieser beruhigenden Versicherung, daß solch ein großer Friedhof noch immer über eine weitere Aufnahmekapazität verfügt, es sich also nicht um einen toten Ort handelt, vielmehr um eine fortwährend erweiterte Ruhestätte für die Toten des Weltkrieges. Damit aber auch für den hartgesottensten Schlachtfeldtouristen dennoch Gelegenheit ist, sich von den unvergeßlichen Eindrücken zu erholen, wird dem Abonnenten versichert: »bei reichlicher Verpflegung in erstklassigen Gasthäusern«.
Die Ausgabe der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ vom 30. Oktober 2025 enthielt zwei bemerkenswerte Beiträge. Der eine war ein als redaktioneller Beitrag aufgemachter Artikel über den ›Fall Kentler‹. Die zweigeteilte Überschrift lautete:
Professor, Medienstar, Missbrauchstäter
Neuer HAZ-Podcast arbeitet den Fall Kentler auf
In einem weiteren Untertitel heißt es: »Der hannoversche Sozialpädagogikprofessor Helmut Kentler ist Hauptfigur in einem der größten Pädophilie-Skandale«
Damit ist der Boden bereitet für die in der gleichen Ausgabe abgedruckten Annonce. Die Stichworte »Hauptfigur« und »Skandal« geben den Ton vor. In der Annonce heißt es:
Echte Kriminalfälle, noch mehr Spannung!
Und zur weiteren Erläuterung wurde hinzugefügt:
Wahre Verbrechen, die unter die Haut gehen.
Um den seriösen journalistischen Anstrich zu untermauern, wird des weiteren erläutert:
Neu: Der Fall Kentler – eine vierteilige Serie, aufwendig recherchiert und eindrucksvoll dokumentiert von der HAZ
Im Artikel wird von dem vielfachen Kindesmißbrauch berichtet, deren sich Kentler und sogenannte »pädophile Pflegeväter« schuldig gemacht haben. Das hält das Blatt nicht davon ab, aus dem sachlichen Bericht über ein Verbrechen zugleich einen Kriminalfall zu machen, der die Leserphantasie anregen soll. Denn zwar sind Kriminalromane, oder, wie die Diminitivform unter Lesern dieser Ware heißt: Krimis, natürlich erfunden, fiktiv, aber es gibt ja auch die Möglichkeit, die Spannung für den Leser noch zu steigern, indem man ihm versichert:
Echte Kriminalfälle, noch mehr Spannung!
Ja, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wird suggeriert:
Wahre Verbrechen, die unter die Haut gehen.
Wie es den Opfern der pädophilen Verbrecher unter die Haut gehen mag, wenn sie mit solchen Totschlag-Zeilen konfrontiert werden, interessiert die Redaktion der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« nicht. Es gilt vielmehr der Grundsatz: Wenn Krimis Spannung bedeuten, wieviel mehr Spannung bedeuten dann erst »Echte Kriminalfälle«, oder, in noch schärferer Formulierung: »Wahre Verbrechen«. Ob die Leser dieses Blattes wohl bemerken, daß das wahre Verbrechen sich manchmal auch innerhalb der Redaktionsstuben einer Zeitung abspielen kann?